Albanesi
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Demographie
Die Balkan-Familie lebt
Von Michael Martens, Belgrad
http://www.faz.net/s/Rub867BF889485...FAA3AD145AC363B3DE~ATpl~Ecommon~Scontent.html
18. September 2006
Nirgends auf unserem Kontinent ist die Geburtenrate annähernd so hoch wie im Kosovo. Die demographischen Schwierigkeiten, denen sich das alt gewordene Europa gegenübersieht, existieren hier nur in ihrer Umkehrung. Nicht der Mangel an Kindern, sondern der Überfluß daran ist zu einer gesellschaftlichen Herausforderung geworden.
Selbst in einem halben Jahrhundert sozialistischer Herrschaft, die ihre familienzersetzende Wirkung doch anderswo recht zuverlässig entfaltete, hat sich im Kosovo wenig daran geändert. Im Jahr 1948 hatte die durchschnittliche Kernfamilie im Kosovo 6,4 Mitglieder. Bis zum Beginn der achtziger Jahre war diese Zahl dank besserer Gesundheitsvorsorge auf knapp sieben gestiegen. Inzwischen sinkt sie auf hohem Niveau und hat ungefähr wieder den Wert von 1948 erreicht.
Keine Krise der Familie
Das moderne Einsamkeitseuropa, das sonst selbst auf dem Balkan kein unbekanntes Phänomen mehr ist - Griechenland hat eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU -, hat das Kosovo nie erreicht. Die Krise der Familie hat diesen Landstrich Europas ausgespart. Zeugungsstreik, Bindungsunfähigkeit, Lebensabschnittspartner, Singlehaushalt, Scheidungskrieg? Das klingt amüsant im ländlichen Kosovo, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt.
Strenggenommen leben sogar alle Kosovaren auf dem Lande, denn auch ihre Städte sind eigentlich nur übereinandergestapelte Dörfer. Mag sich in der Hauptstadt Prishtina und in anderen größeren Orten einiges geändert haben in den vergangenen Dekaden und in den Jahren der UN-Verwaltung für das Kosovo - auf dem Lande ist den Frauen die Sorge um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiterhin meist abgenommen. Eine Aussicht auf Arbeit bietet sich ihnen ohnehin nicht, aber daß sie einen bis heute noch oft für sie Auserwählten heiraten und dann Kinder gebären werden, männliche und, wenn es sein muß, auch Mädchen, die später in andere Familien einheiraten, für die Versorgung ihrer Eltern im Alter also ausfallen werden - das alles ist unausweichlich.
Schwere Folgen für die Region
Weil auch das historische Ventil zum Abbau des kosovarischen Bevölkerungsüberdrucks fast ganz geschlossen ist, weil die massenhafte Auswanderung zum ersten Mal seit Menschengedenken auf dem Amselfeld nicht mehr stattfindet, hat das schwere Folgen für die Region. Zur türkischen Zeit gingen die jungen Männer aus dem Kosovo in den osmanischen Wirtschaftszentren Saloniki oder Istanbul auf Arbeitssuche, später zog es sie nordwärts nach Belgrad. Es folgte die Zeit der Gastarbeiter, doch auch die ist vorbei. Die westeuropäischen Arbeitsmärkte sind durch die Schengener Mauer abgeschottet, und Belgrad kommt als Auswanderungsziel aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht mehr in Frage. Nur der florierende kosovarische Gebärmarkt produziert fast wie zuvor.
Jahr für Jahr drängen im Kosovo viele tausend junge Menschen auf einen Arbeitsmarkt, der sie nicht aufnehmen kann. Die durch das Erbrecht in immer kleinere Parzellen pulverisierten Höfe sind zur Subsistenzwirtschaft verurteilt. In der Provinz, um welche die Nato 1999 den ersten Angriffskrieg ihrer Geschichte führte, gärt es wie nie seit dem Einmarsch der internationalen Truppen.
Die Balkan-Familie lebt
Es ist verdienstvoll, daß sich die „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI), eine in Berlin und Istanbul beheimatete Forschergruppe, deren Analysen zum Balkan seit Jahren über das meiste hinausragen, was die Denkfabriken über die Lage in Europas Südosten zustande bringen, diesem Thema gewidmet hat. Für ihre an diesem Montag erscheinende Studie „Das gekappte Rettungsseil - Auswanderung, Familien und die Zukunft des Kosovos“ haben die Forscher von ESI zwei Dörfer im Kosovo geradezu geröntgt und dabei besonders die Familienstrukturen und die Einkommensverhältnisse untersucht.
In dem etwas wohlhabenderen Cerrce nahe der Verwaltungsgrenze zu Serbien haben die Familien im Schnitt 6,6 Mitglieder, in der selbst für kosovarische Verhältnisse armen Siedlung Lubishte an der Grenze zu Mazedonien sind die Familien durchschnittlich 9,5 Angehörige stark. In Lubishte, wo es bis 1970 keine Elektrizität und bis 1976 keine befestigte Straße gab, sind von mehr als 500 Frauen nur drei im Alter von über 30 Jahren noch unverheiratet. Zwei arbeiten außerhalb der Familie.
Die letzte Hochburg der Patriarchen
Das Fazit der Autoren: „Das Kosovo ist heute die letzte Hochburg einer Form der patriarchalischen Familienstruktur, die einst auf dem ganzen Balkan verbreitet war. Der wichtigste Anbieter sozialer Sicherheit und Stabilität bleibt eine der ältesten und konservativsten Institutionen in Europa: die traditionelle patriarchalische Balkan-Familie. Der patriarchalische Mehrfamilienhaushalt hat auch beigetragen zu den niedrigsten Raten weiblicher Beschäftigung in Europa, zu ernsthaften Investitionslücken bei der Bildung und zu einem allgemeinen Mangel an Innovation.“
Das Phänomen des kosovarischen Kinderreichtums ist wesentlich in der Geschichte des Kosovos zu suchen. Hier war der Staat entweder abwesend oder Feind. Von ihm wurde Hilfe nicht erwartet. Die Familie bildete ein Gegengewicht zum Leviathan. Das war auch so im zweiten Jugoslawien unter Tito, denn Slobodan Milosevic hatte Vorläufer. Einer war Titos Geheimdienstchef Aleksandar Rankovic, der die Kosovo-Albaner bis zu seiner Absetzung Mitte der sechziger Jahre kujonierte.
Revolution auf dem Lande
Hinzu kam die wirtschaftliche Rückständigkeit der Provinz, die der zweite jugoslawische Staat, obwohl er sich zwischenzeitlich darum bemühte, nicht aufheben konnte. Immerhin wurde es zeitweilig für Albaner möglich, Arbeit in der Verwaltung und in den sozialistischen Fabriken zu bekommen. Bildung, die für diese Karriere nötig war, erschien für kurze Zeit erstrebenswert. Doch dies blieb ein Zwischenspiel. Die Lage verschlechterte sich nach den verhältnismäßig ruhigen siebziger Jahren, als Milosevic Ende der achtziger Jahre den Hebel wieder auf Gewalt und Ausgrenzung umlegte. Albaner wurden aus staatlichen Betrieben entlassen, ihnen wurde der Zugang zur staatlichen Gesundheitsfürsorge und zu den Bildungsinstitutionen verwehrt. Die kosovarische Gesellschaft wurde zurückgestutzt auf ihre dörflichen Ursprünge, denen sie ohnehin nicht entwachsen war.
Diesmal kam es zu einer Reaktion auch außerhalb des Familiären. Erst machte das Wort vom „Schattenstaat“ die Runde, den die Kosovo-Albaner unter ihrem Führer Ibrahim Rugova mit der finanziellen Unterstützung aus der Diaspora aufbauten. Daraufhin traten, ebenfalls mit Hilfe der Albaner vor allem in Deutschland und der Schweiz, die jungen Männer von den Freischärlern der UCK auf den Plan - und dann kam bald die Nato. Die führt noch heute im Kosovo die internationale Schutztruppe Kfor. Viele hunderttausend ausländische Soldaten haben seit 1999 Dienst getan auf dem Amselfeld, um das westliche Exportgut Sicherheit dort zu verankern. Doch zeigt sich in dieser westlichen Politik eine gefährliche Widersprüchlichkeit, die zu ernsthafter Instabilität führen kann. Die Soldaten im Kosovo sollen Ruhe und Stabilität aufrechterhalten. Die Innenminister der EU-Staaten versuchen gleichzeitig, jegliche weitere Abwanderung vom Balkan zu verhindern. Beides zusammen wird sich im Fall des Kosovos schwerlich erreichen lassen.
Reflexion über die Lage der Frauen
Das sagen auch die Autoren von ESI, hüten sich aber, eine Umkehr nur von Europas reichem Nordwesten zu verlangen. Auch die kosovarische Gesellschaft müsse sich ändern, um sich aus ihrer Abhängigkeit von der Arbeitsemigration zu befreien. Das Kosovo benötige „eine soziale und institutionelle Revolution“ auf dem Lande, deren Ausgangspunkt eine Reflexion über die Lage der Frauen sein müsse.
Die amerikanische Anthropologin Janet Reineck, die lange im Kosovo forschte, hat schon in den achtziger Jahren einen „wachsenden Konservatismus“ auf den Dörfern ausgemacht, der sich nicht nur durch arrangierte Heiraten bemerkbar machte, die auf dem Lande üblich geblieben waren, obwohl das Phänomen der Liebesheirat unter jungen Leuten an Bedeutung gewinnt. Reineck beobachtete auch, daß den Frauen die Bewegungsfreiheit außerhalb der Häuser eingeengt und ihnen Schulbildung, die zwischenzeitlich etwas höher im Kurs gestanden hatte, wieder vorenthalten wurde. In die Ausbildung der Mädchen zu investieren erscheint den Familienräten bis heute angesichts der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit als Investition ohne Aussicht auf Rendite. „Die Vorstellung von Fortschritt ist, große Hochzeiten zu haben, die Bräute teuer einzukleiden, große neue Häuser zu bauen und neue Autos zu kaufen“, heißt es bei Reineck.
Viele Kosovo-Serben wählten schon lange vor dem Krieg einen anderen Ausweg aus der kosovarischen Perspektivlosigkeit: Sie verließen ihre Heimat und gingen nach Belgrad oder in die Vojvodina. Die Serben, eines der vielen schrumpfenden Völker Europas, sehen sich heute angesichts des Bevölkerungswachstums der Kosovo-Albaner jedoch weiter in der demographischen Defensive. Noch vor einem Jahrhundert war die Entwicklung zu ihren Gunsten verlaufen. Im Jahrzehnt von 1881 bis 1890 wies Serbien nach Rußland die höchste Geburtenrate in Europa auf. Die westliche Grenze Ungarns bildete eine demographische Scheidelinie. Östlich davon war die allgemeine und frühe Heirat die Regel. Heute gilt sie nur noch im Kosovo, das im Überfluß jene jungen Menschen hat, an denen es Europa mangelt.
Die Balkan-Familie lebt
Von Michael Martens, Belgrad
http://www.faz.net/s/Rub867BF889485...FAA3AD145AC363B3DE~ATpl~Ecommon~Scontent.html
18. September 2006
Nirgends auf unserem Kontinent ist die Geburtenrate annähernd so hoch wie im Kosovo. Die demographischen Schwierigkeiten, denen sich das alt gewordene Europa gegenübersieht, existieren hier nur in ihrer Umkehrung. Nicht der Mangel an Kindern, sondern der Überfluß daran ist zu einer gesellschaftlichen Herausforderung geworden.
Selbst in einem halben Jahrhundert sozialistischer Herrschaft, die ihre familienzersetzende Wirkung doch anderswo recht zuverlässig entfaltete, hat sich im Kosovo wenig daran geändert. Im Jahr 1948 hatte die durchschnittliche Kernfamilie im Kosovo 6,4 Mitglieder. Bis zum Beginn der achtziger Jahre war diese Zahl dank besserer Gesundheitsvorsorge auf knapp sieben gestiegen. Inzwischen sinkt sie auf hohem Niveau und hat ungefähr wieder den Wert von 1948 erreicht.
Keine Krise der Familie
Das moderne Einsamkeitseuropa, das sonst selbst auf dem Balkan kein unbekanntes Phänomen mehr ist - Griechenland hat eine der niedrigsten Geburtenraten in der EU -, hat das Kosovo nie erreicht. Die Krise der Familie hat diesen Landstrich Europas ausgespart. Zeugungsstreik, Bindungsunfähigkeit, Lebensabschnittspartner, Singlehaushalt, Scheidungskrieg? Das klingt amüsant im ländlichen Kosovo, wo die Mehrheit der Bevölkerung lebt.
Strenggenommen leben sogar alle Kosovaren auf dem Lande, denn auch ihre Städte sind eigentlich nur übereinandergestapelte Dörfer. Mag sich in der Hauptstadt Prishtina und in anderen größeren Orten einiges geändert haben in den vergangenen Dekaden und in den Jahren der UN-Verwaltung für das Kosovo - auf dem Lande ist den Frauen die Sorge um die Vereinbarkeit von Beruf und Familie weiterhin meist abgenommen. Eine Aussicht auf Arbeit bietet sich ihnen ohnehin nicht, aber daß sie einen bis heute noch oft für sie Auserwählten heiraten und dann Kinder gebären werden, männliche und, wenn es sein muß, auch Mädchen, die später in andere Familien einheiraten, für die Versorgung ihrer Eltern im Alter also ausfallen werden - das alles ist unausweichlich.
Schwere Folgen für die Region
Weil auch das historische Ventil zum Abbau des kosovarischen Bevölkerungsüberdrucks fast ganz geschlossen ist, weil die massenhafte Auswanderung zum ersten Mal seit Menschengedenken auf dem Amselfeld nicht mehr stattfindet, hat das schwere Folgen für die Region. Zur türkischen Zeit gingen die jungen Männer aus dem Kosovo in den osmanischen Wirtschaftszentren Saloniki oder Istanbul auf Arbeitssuche, später zog es sie nordwärts nach Belgrad. Es folgte die Zeit der Gastarbeiter, doch auch die ist vorbei. Die westeuropäischen Arbeitsmärkte sind durch die Schengener Mauer abgeschottet, und Belgrad kommt als Auswanderungsziel aus politischen und wirtschaftlichen Gründen nicht mehr in Frage. Nur der florierende kosovarische Gebärmarkt produziert fast wie zuvor.
Jahr für Jahr drängen im Kosovo viele tausend junge Menschen auf einen Arbeitsmarkt, der sie nicht aufnehmen kann. Die durch das Erbrecht in immer kleinere Parzellen pulverisierten Höfe sind zur Subsistenzwirtschaft verurteilt. In der Provinz, um welche die Nato 1999 den ersten Angriffskrieg ihrer Geschichte führte, gärt es wie nie seit dem Einmarsch der internationalen Truppen.
Die Balkan-Familie lebt
Es ist verdienstvoll, daß sich die „Europäische Stabilitätsinitiative“ (ESI), eine in Berlin und Istanbul beheimatete Forschergruppe, deren Analysen zum Balkan seit Jahren über das meiste hinausragen, was die Denkfabriken über die Lage in Europas Südosten zustande bringen, diesem Thema gewidmet hat. Für ihre an diesem Montag erscheinende Studie „Das gekappte Rettungsseil - Auswanderung, Familien und die Zukunft des Kosovos“ haben die Forscher von ESI zwei Dörfer im Kosovo geradezu geröntgt und dabei besonders die Familienstrukturen und die Einkommensverhältnisse untersucht.
In dem etwas wohlhabenderen Cerrce nahe der Verwaltungsgrenze zu Serbien haben die Familien im Schnitt 6,6 Mitglieder, in der selbst für kosovarische Verhältnisse armen Siedlung Lubishte an der Grenze zu Mazedonien sind die Familien durchschnittlich 9,5 Angehörige stark. In Lubishte, wo es bis 1970 keine Elektrizität und bis 1976 keine befestigte Straße gab, sind von mehr als 500 Frauen nur drei im Alter von über 30 Jahren noch unverheiratet. Zwei arbeiten außerhalb der Familie.
Die letzte Hochburg der Patriarchen
Das Fazit der Autoren: „Das Kosovo ist heute die letzte Hochburg einer Form der patriarchalischen Familienstruktur, die einst auf dem ganzen Balkan verbreitet war. Der wichtigste Anbieter sozialer Sicherheit und Stabilität bleibt eine der ältesten und konservativsten Institutionen in Europa: die traditionelle patriarchalische Balkan-Familie. Der patriarchalische Mehrfamilienhaushalt hat auch beigetragen zu den niedrigsten Raten weiblicher Beschäftigung in Europa, zu ernsthaften Investitionslücken bei der Bildung und zu einem allgemeinen Mangel an Innovation.“
Das Phänomen des kosovarischen Kinderreichtums ist wesentlich in der Geschichte des Kosovos zu suchen. Hier war der Staat entweder abwesend oder Feind. Von ihm wurde Hilfe nicht erwartet. Die Familie bildete ein Gegengewicht zum Leviathan. Das war auch so im zweiten Jugoslawien unter Tito, denn Slobodan Milosevic hatte Vorläufer. Einer war Titos Geheimdienstchef Aleksandar Rankovic, der die Kosovo-Albaner bis zu seiner Absetzung Mitte der sechziger Jahre kujonierte.
Revolution auf dem Lande
Hinzu kam die wirtschaftliche Rückständigkeit der Provinz, die der zweite jugoslawische Staat, obwohl er sich zwischenzeitlich darum bemühte, nicht aufheben konnte. Immerhin wurde es zeitweilig für Albaner möglich, Arbeit in der Verwaltung und in den sozialistischen Fabriken zu bekommen. Bildung, die für diese Karriere nötig war, erschien für kurze Zeit erstrebenswert. Doch dies blieb ein Zwischenspiel. Die Lage verschlechterte sich nach den verhältnismäßig ruhigen siebziger Jahren, als Milosevic Ende der achtziger Jahre den Hebel wieder auf Gewalt und Ausgrenzung umlegte. Albaner wurden aus staatlichen Betrieben entlassen, ihnen wurde der Zugang zur staatlichen Gesundheitsfürsorge und zu den Bildungsinstitutionen verwehrt. Die kosovarische Gesellschaft wurde zurückgestutzt auf ihre dörflichen Ursprünge, denen sie ohnehin nicht entwachsen war.
Diesmal kam es zu einer Reaktion auch außerhalb des Familiären. Erst machte das Wort vom „Schattenstaat“ die Runde, den die Kosovo-Albaner unter ihrem Führer Ibrahim Rugova mit der finanziellen Unterstützung aus der Diaspora aufbauten. Daraufhin traten, ebenfalls mit Hilfe der Albaner vor allem in Deutschland und der Schweiz, die jungen Männer von den Freischärlern der UCK auf den Plan - und dann kam bald die Nato. Die führt noch heute im Kosovo die internationale Schutztruppe Kfor. Viele hunderttausend ausländische Soldaten haben seit 1999 Dienst getan auf dem Amselfeld, um das westliche Exportgut Sicherheit dort zu verankern. Doch zeigt sich in dieser westlichen Politik eine gefährliche Widersprüchlichkeit, die zu ernsthafter Instabilität führen kann. Die Soldaten im Kosovo sollen Ruhe und Stabilität aufrechterhalten. Die Innenminister der EU-Staaten versuchen gleichzeitig, jegliche weitere Abwanderung vom Balkan zu verhindern. Beides zusammen wird sich im Fall des Kosovos schwerlich erreichen lassen.
Reflexion über die Lage der Frauen
Das sagen auch die Autoren von ESI, hüten sich aber, eine Umkehr nur von Europas reichem Nordwesten zu verlangen. Auch die kosovarische Gesellschaft müsse sich ändern, um sich aus ihrer Abhängigkeit von der Arbeitsemigration zu befreien. Das Kosovo benötige „eine soziale und institutionelle Revolution“ auf dem Lande, deren Ausgangspunkt eine Reflexion über die Lage der Frauen sein müsse.
Die amerikanische Anthropologin Janet Reineck, die lange im Kosovo forschte, hat schon in den achtziger Jahren einen „wachsenden Konservatismus“ auf den Dörfern ausgemacht, der sich nicht nur durch arrangierte Heiraten bemerkbar machte, die auf dem Lande üblich geblieben waren, obwohl das Phänomen der Liebesheirat unter jungen Leuten an Bedeutung gewinnt. Reineck beobachtete auch, daß den Frauen die Bewegungsfreiheit außerhalb der Häuser eingeengt und ihnen Schulbildung, die zwischenzeitlich etwas höher im Kurs gestanden hatte, wieder vorenthalten wurde. In die Ausbildung der Mädchen zu investieren erscheint den Familienräten bis heute angesichts der wirtschaftlichen Perspektivlosigkeit als Investition ohne Aussicht auf Rendite. „Die Vorstellung von Fortschritt ist, große Hochzeiten zu haben, die Bräute teuer einzukleiden, große neue Häuser zu bauen und neue Autos zu kaufen“, heißt es bei Reineck.
Viele Kosovo-Serben wählten schon lange vor dem Krieg einen anderen Ausweg aus der kosovarischen Perspektivlosigkeit: Sie verließen ihre Heimat und gingen nach Belgrad oder in die Vojvodina. Die Serben, eines der vielen schrumpfenden Völker Europas, sehen sich heute angesichts des Bevölkerungswachstums der Kosovo-Albaner jedoch weiter in der demographischen Defensive. Noch vor einem Jahrhundert war die Entwicklung zu ihren Gunsten verlaufen. Im Jahrzehnt von 1881 bis 1890 wies Serbien nach Rußland die höchste Geburtenrate in Europa auf. Die westliche Grenze Ungarns bildete eine demographische Scheidelinie. Östlich davon war die allgemeine und frühe Heirat die Regel. Heute gilt sie nur noch im Kosovo, das im Überfluß jene jungen Menschen hat, an denen es Europa mangelt.