J
Jezersko
Guest
Eine ganze Generation kämpft um eine bessere Zukunft. Doch bislang folgten Chaos und Blutvergießen dem „arabischen Frühling“.
Vor lauter Verwirrung will man die Zeitungen am liebsten wieder weglegen: Kämpfe im Irak, in Syrien ein Bürgerkrieg nicht nur zwischen Rebellen und Regierung, sondern auch zwischen verschiedenen Oppositionsgruppen. Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern strauchelt und in Jordanien brodelt es wie in einem überhitzten Dampfkessel. In Ägypten gehören Anschläge und politische Gewalt zum Alltag genau wie im Libanon. In Libyen herrscht Chaos. Ist dieses Durcheinander noch zu durchblicken?
Hier ein Leitfaden als Orientierungshilfe. Der Streit dreht sich hauptsächlich um drei Fragen.
Wer bin ich?
Die Bürgerkriege in Syrien und im Irak, die Attentatsserien im Libanon, die Spannungen in den arabischen Golfstaaten sind Resultat von dem, was die Amerikaner „identity politics“ nennen. Wenn die modernen arabischen Staaten etwas auszeichnet, dann ist es das Scheitern im Bemühen, ihren Bewohnern eine Identität als Staatsbürger zu geben!
Sie boten ihnen nie, was Bürger im Westen als selbstverständlich erachten: Rechtsstaatlichkeit, Bildung, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gesundheitsvorsorge, soziale Solidarität. So suchten die Menschen in anderen Strukturen Rückhalt und fanden ihn in ihrer religiösen Zugehörigkeit.
In Syrien ist man nicht mehr Syrer, sondern Schiit, Alawit, Kurde, Christ oder Sunnit. Diese Gruppen befinden sich in der ganzen Region in einem Nullsummenspiel um die Ressourcen. Wenn einer gewinnt, haben die anderen verloren. So wird der Machtkampf zum Überlebenskampf. Da die Gruppenzugehörigkeit grenzübergreifend ist, kämpfen inzwischen sunnitische Iraker an der Seite sunnitischer Syrer gegen andere Iraker und Syrer, die Schiiten sind. Solange die Identität konfessionsgebunden bleibt, werden diese Konflikte der Region andauern.
Was ist das Problem?
Der Bürgerkrieg in Syrien begann nicht als bewaffnete Auseinandersetzung, sondern als friedlicher Bürgerprotest – genau wie in Ägypten, Tunesien und Libyen. Hintergrund und Ursache der Demonstrationen: Die arabischen Staaten, die wegen mangelnder Geburtenkontrolle eine der jüngsten Bevölkerungen auf der Welt haben, entwickeln sich rückwärts – nicht nur im Vergleich zu den Tigerstaaten in Fernost, die noch in den 1950er-Jahren denselben Entwicklungsstand hatten wie die arabische Welt, sondern im Vergleich zu sich selbst. Laut einer Reihe von Berichten der Vereinten Nationen war die arabische Welt in absoluten Zahlen im Jahr 2005 weniger industrialisiert als 1975. Die Berichte machen drei Umstände für diese Entwicklung verantwortlich: Mangel an Bildung, Mangel an Freiheit, Mangel an Emanzipation. Mehr als 43 Prozent der arabischen Erwachsenen sind Analphabeten. Das ist die höchste Rate weltweit. Derzeit ist die Lage noch schlimmer: Syriens Kinder gehen gar nicht mehr zur Schule. Die Freiheit, für die die Araber vor drei Jahren begannen zu protestieren, ist immer noch fern. In Ägypten, Libyen, Libanon, Syrien, Irak – allerorts sind Menschen unsicherer geworden. Doch niemand leidet so wie die Frauen. Vor dem „arabischen Frühling“ waren sie gesetzlich benachteiligt, heute sind sie immer öfter Opfer systematischer sexueller Gewalt und des Islamismus. In ganz Arabien lebt eine verlorene Generation. Sie ist Opfer von Missmanagement, Despotismus und Nepotismus. Sie kämpft für eine bessere Zukunft.
Was ist die Lösung?
Doch wie diese bessere Zukunft aussieht, ist die dritte große Frage. Nur eine kleine Minderheit in Arabien versteht unter Fortschritt, was Europäer damit meinen. So ringen moderate, manchmal sogar prowestliche Eliten gegen Extremisten, deren Wahlspruch lautet: Der Islam ist die Lösung. Ableger der Al Kaida in Syrien und im Irak wollen einen Gottesstaat errichten und liefern sich blutige Gefechte mit moderateren Muslimen über die Frage, wie Arabiens Alltag fortan aussehen soll. Schon beschweren sich Syrer, sie hätten das Joch von Präsident Baschar al-Assad nur gegen die Peitsche der Salafisten eingetauscht. Ein ähnliches Ringen bestimmt die Gesellschaften in Ägypten und im Irak, in Jordanien und in Palästina. Jeder dieser Konflikte allein böte genügend Stoff für Unruhen und benötigt Jahrzehnte, um gelöst zu werden. Das Zusammentreffen aller drei existenziellen Streitfragen jedoch verwandelt den gesamten Nahen Osten in ein Pulverfass.
Es dürfte noch geraume Zeit schlimmer werden, bevor es wieder besser wird.
http://search.salzburg.com/news/artikel.html?uri=http%3A%2F%2Fsearch.salzburg.com%2Fnews%2Fresource%2Fsn%2Fnews%2Fsn0805_08.01.2014_41-50510821
Vor lauter Verwirrung will man die Zeitungen am liebsten wieder weglegen: Kämpfe im Irak, in Syrien ein Bürgerkrieg nicht nur zwischen Rebellen und Regierung, sondern auch zwischen verschiedenen Oppositionsgruppen. Der Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern strauchelt und in Jordanien brodelt es wie in einem überhitzten Dampfkessel. In Ägypten gehören Anschläge und politische Gewalt zum Alltag genau wie im Libanon. In Libyen herrscht Chaos. Ist dieses Durcheinander noch zu durchblicken?
Hier ein Leitfaden als Orientierungshilfe. Der Streit dreht sich hauptsächlich um drei Fragen.
Wer bin ich?
Die Bürgerkriege in Syrien und im Irak, die Attentatsserien im Libanon, die Spannungen in den arabischen Golfstaaten sind Resultat von dem, was die Amerikaner „identity politics“ nennen. Wenn die modernen arabischen Staaten etwas auszeichnet, dann ist es das Scheitern im Bemühen, ihren Bewohnern eine Identität als Staatsbürger zu geben!
Sie boten ihnen nie, was Bürger im Westen als selbstverständlich erachten: Rechtsstaatlichkeit, Bildung, Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Gesundheitsvorsorge, soziale Solidarität. So suchten die Menschen in anderen Strukturen Rückhalt und fanden ihn in ihrer religiösen Zugehörigkeit.
In Syrien ist man nicht mehr Syrer, sondern Schiit, Alawit, Kurde, Christ oder Sunnit. Diese Gruppen befinden sich in der ganzen Region in einem Nullsummenspiel um die Ressourcen. Wenn einer gewinnt, haben die anderen verloren. So wird der Machtkampf zum Überlebenskampf. Da die Gruppenzugehörigkeit grenzübergreifend ist, kämpfen inzwischen sunnitische Iraker an der Seite sunnitischer Syrer gegen andere Iraker und Syrer, die Schiiten sind. Solange die Identität konfessionsgebunden bleibt, werden diese Konflikte der Region andauern.
Was ist das Problem?
Der Bürgerkrieg in Syrien begann nicht als bewaffnete Auseinandersetzung, sondern als friedlicher Bürgerprotest – genau wie in Ägypten, Tunesien und Libyen. Hintergrund und Ursache der Demonstrationen: Die arabischen Staaten, die wegen mangelnder Geburtenkontrolle eine der jüngsten Bevölkerungen auf der Welt haben, entwickeln sich rückwärts – nicht nur im Vergleich zu den Tigerstaaten in Fernost, die noch in den 1950er-Jahren denselben Entwicklungsstand hatten wie die arabische Welt, sondern im Vergleich zu sich selbst. Laut einer Reihe von Berichten der Vereinten Nationen war die arabische Welt in absoluten Zahlen im Jahr 2005 weniger industrialisiert als 1975. Die Berichte machen drei Umstände für diese Entwicklung verantwortlich: Mangel an Bildung, Mangel an Freiheit, Mangel an Emanzipation. Mehr als 43 Prozent der arabischen Erwachsenen sind Analphabeten. Das ist die höchste Rate weltweit. Derzeit ist die Lage noch schlimmer: Syriens Kinder gehen gar nicht mehr zur Schule. Die Freiheit, für die die Araber vor drei Jahren begannen zu protestieren, ist immer noch fern. In Ägypten, Libyen, Libanon, Syrien, Irak – allerorts sind Menschen unsicherer geworden. Doch niemand leidet so wie die Frauen. Vor dem „arabischen Frühling“ waren sie gesetzlich benachteiligt, heute sind sie immer öfter Opfer systematischer sexueller Gewalt und des Islamismus. In ganz Arabien lebt eine verlorene Generation. Sie ist Opfer von Missmanagement, Despotismus und Nepotismus. Sie kämpft für eine bessere Zukunft.
Was ist die Lösung?
Doch wie diese bessere Zukunft aussieht, ist die dritte große Frage. Nur eine kleine Minderheit in Arabien versteht unter Fortschritt, was Europäer damit meinen. So ringen moderate, manchmal sogar prowestliche Eliten gegen Extremisten, deren Wahlspruch lautet: Der Islam ist die Lösung. Ableger der Al Kaida in Syrien und im Irak wollen einen Gottesstaat errichten und liefern sich blutige Gefechte mit moderateren Muslimen über die Frage, wie Arabiens Alltag fortan aussehen soll. Schon beschweren sich Syrer, sie hätten das Joch von Präsident Baschar al-Assad nur gegen die Peitsche der Salafisten eingetauscht. Ein ähnliches Ringen bestimmt die Gesellschaften in Ägypten und im Irak, in Jordanien und in Palästina. Jeder dieser Konflikte allein böte genügend Stoff für Unruhen und benötigt Jahrzehnte, um gelöst zu werden. Das Zusammentreffen aller drei existenziellen Streitfragen jedoch verwandelt den gesamten Nahen Osten in ein Pulverfass.
Es dürfte noch geraume Zeit schlimmer werden, bevor es wieder besser wird.
http://search.salzburg.com/news/artikel.html?uri=http%3A%2F%2Fsearch.salzburg.com%2Fnews%2Fresource%2Fsn%2Fnews%2Fsn0805_08.01.2014_41-50510821