Teil1
Die Legende von der Beherrschbarkeit der Atomenergie fand in der Nacht zum 26. April 1986 in Tschernobyl ihr jähes Ende
Von Ekkehard Sieker
GAU
Tschernobyl im Jahr 1998
Foto: AP
»Atomindustrie – das bedeutet permanenten Notstand unter Berufung auf permanente Bedrohung.«
Robert Jungk (1913–1994), österreichischer Friedensforscher
Es sind heute auf den Tag 20 Jahre vergangen, seit der Atomreaktor Nummer vier in Tschernobyl explodiert ist und seine gefährliche Strahlung über Tausende von Kilometern verbreitet hat. Die Folgen der Nuklearkatastrophe in der Ukraine vom 26. April 1986 sind vielfältig und bis heute weltweit kaum überschaubar. Selbst über die Anzahl der infolge des Reaktorunglücks unmittelbar Verstorbenen und die Zahl der Krebsopfer wird gestritten. Allein in Deutschland wird man bis zum Jahr 2030 insgesamt mit rund 20000 Karzinomen zusätzlich rechnen müssen; doch diese Erkrankungen werden statistisch kaum nachweisbar sein: Die Deutsche Krebshilfe geht von über 420000 neu diagnostizierten Fällen pro Jahr aus. An keinem Krebs hängt ein Schild: durch Tschernobyl verursacht.
»Nach der Katastrophe von Tschernobyl darf nichts mehr so sein, wie es einmal war. Sollte man meinen. Aber nach wie vor gibt es jene Zunft von Politikern, Experten und Publizisten, die uns unbeirrbar einreden wollen, daß das, was sie die ›friedliche Nutzung der Kernenergie‹ nennen, unverzichtbar und sicherheitstechnisch beherrschbar sei. Da wird die Kernenergie unversehens zum Götzen, dem um so inbrünstiger gehuldigt wird, je kannibalischer er sich gebärdet.« Dies schrieb der Journalist Günter Neuberger im Herbst 1986 angesichts der haarsträubenden Verharmlosungen seitens der Vertreter und Hofberichterstatter der Nuklearlobby. Damals konnte er nicht ahnen, daß 20 Jahre später der Ausstieg aus der »friedlichen Nutzung der Kernenergie« noch immer nicht vollzogen sein würde und daß der Einsatz von Atomwaffen von militärisch und politisch Verantwortlichen nach wie vor geplant wird.
Tschernobyl 2006
In der rheinland-pfälzischen Rhein-Zeitung liest man am 22. April 2006 unter der Überschrift »Regelverstoß führte zur Atomkatastrophe«: »Am 26. April 1986 führten Regelverstöße bei einem Test im AKW im ukrainischen Tschernobyl zum größten anzunehmenden Unfall (GAU) in der Geschichte der friedlichen Kernenergie-Nutzung.« Da ist sie noch immer, die zynische Mär von der »friedlichen Atomenergie«, die in der Ukraine und in Belarus Menschen noch heute mit Krankheit und Tod bedroht und weltweit Abermillionen radioaktiv belastete.
Und noch eins ist sicher: In Tschernobyl kam es nicht zu einem GAU, sondern zu einem Super-GAU, denn unter einem GAU versteht man in der Kernenergietechnik den »größten anzunehmenden und sicherheitstechnisch noch beherrschbaren Unfall«. Ein solcher GAU ist demnach ein Unfall, den der Betreiber einer kerntechnischen Anlage als den größten anzunehmen hat, um anschließend den Genehmigungsbehörden in Gutachten nachzuweisen, daß die Sicherheitseinrichtungen seiner Anlage ein solches Unfallszenario noch beherrschen. Ein Super-GAU beschreibt demnach einen Unfall, wie den in Tschernobyl, der von der Sicherheitstechnik der entsprechenden Nuklearanlage nicht mehr beherrscht wird. Auch wenn die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort »Super-GAU« im Jahr 1993 zum Unwort erklärt hat, handelt es sich hierbei um einen Begriff, der genau die physikalisch möglichen, aber sicherheitstechnisch von der Atomindustrie nicht angenommenen Risiken beschreibt – ein sinnvolles Wort, dessen man sich nicht berauben lassen sollte.
Die Quadratur des Kreises
In der oben erwähnten Rhein-Zeitung findet man direkt unter dem Artikel über das Reaktorunglück in Tschernobyl eine Meldung mit dem Titel »Experten: US-Angriff auf Iran möglich«. Darin heißt es: »In der Krise um das iranische Atomprogramm halten europäische Experten einen Militäreinsatz der USA gegen die Islamische Republik für immer wahrscheinlicher.« Dabei schließt die US-Administration – wie sie immer wieder betont – den Einsatz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen nicht aus.
Das von den USA angeprangerte iranische Atomprogramm ist nach Angaben der Regierung in Teheran ein ziviles; die USA und europäische Regierungen behaupten dagegen, der Iran strebe mit Hilfe dieses zivilen Atomprogramms nach der Bombe.
Hiroshima und Nagasaki
Beschäftigen wir uns also mit der Quadratur des Kreises, mit dem zum Scheitern verurteilten Versuch, die zivile Atomenergienutzung prinzipiell von der militärischen zu trennen. Aus den historischen Zusammenhängen wird dann ersichtlich: »friedliche« und militärische Nutzung waren von Anfang an die beiden Seiten ein und derselben Münze. Diese »Münze« definieren die USA im Augenblick zur rein iranischen Währung, um sich damit bei der europäischen Politik und in der Weltöffentlichkeit einen Kriegsgrund zu erkaufen.
Nachdem im Januar 1939 die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann ihre Entdeckung der Kernspaltung veröffentlicht hatten, befaßte sich bereits im April desselben Jahres das Oberkommando der Wehrmacht und das Reichserziehungsministerium in Deutschland mit der Möglichkeit, einen Atomreaktor zu bauen und einen nuklearen Explosivstoff zu entwickeln. Am 16. September 1939 wurde der deutsche Uranverein gegründet. Aus verschiedenen Gründen – technischer und struktureller Art – aber gelang es den deutschen Physikern unter Leitung von Werner Heisenberg weder, einen funktionierenden Reaktor zu bauen, noch eine einsetzbare Atombombe zu entwickeln. Die nicht geheimzuhaltenden diesbezüglichen Ambitionen des faschistischen Deutschland waren jedoch selbst in ihrer Anfangsphase eine außerordentliche Bedrohung für die Welt.
In den USA gelang es am 2. Dezember 1942, einen Reaktor in Betrieb zu nehmen. Bis zum Sommer 1945 wurden in dem geheimen Atomwaffenlaboratorium Los Alamos in den USA drei einsatzbereite Atomsprengsätze hergestellt. Am 16. Juli 1945 testete das US-Militär bei Alamogordo in New Mexico erfolgreich die erste nukleare Spaltungsbombe aus Plutonium. Die beiden weiteren Atombomben wurden am 6. August 1945 auf die japanische Stadt Hiroshima und am 9. August 1945 auf Nagasaki abgeworfen. Schon zu Beginn der Geschichte der Kerntechnik waren der Bau von Reaktoren und die Entwicklung von Atomwaffen nicht voneinander getrennt.
Der Beginn des Kalten Krieges
Kiew
20 Jahre danach: Achtjähriges Mädchen als Krebspartient in Kiew
Foto: AP
Der Zweite Weltkrieg hatte die internationalen Machtstrukturen nachhaltig verändert. Hitlerdeutschland war vernichtend geschlagen, ebenso sein asiatischer Verbündeter Japan. Die europäischen Siegermächte Frankreich und Großbritannien waren ausgeblutet. Zur Weltmacht Nummer eins waren unbestritten die Vereinigten Staaten von Amerika aufgerückt, die nachdrücklich ihren Anspruch anmeldeten, die Nachkriegswelt in ihrem Sinne neu zu ordnen. Auch die Sowjetunion war in gewissem Sinne gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, selbst wenn sie die bei weitem größten Opfer hatte bringen müssen, damit das faschistische Deutschland militärisch in die Knie gezwungen werden konnte. Nachdem der gemeinsame Gegner niedergerungen war, traten die Systemgegensätze zwischen den USA und der Sowjetunion sehr bald in den Vordergrund. Der Kalte Krieg begann.
Die menschenverachtende nukleare Bombardierung des ohnehin geschlagenen Japan war militärisch völlig überflüssig und in erster Linie eine Drohgebärde in Richtung Sowjetunion, der so unmißverständlich klargemacht werden sollte, wer die Dirigentenrolle im weltpolitischen Konzert der Nachkriegszeit für sich beanspruchte. Die Drohung mit der Atombombe war keine leere. Schon im Herbst 1945 lagen detaillierte Pläne für eine atomare Bombardierung der UdSSR vor, die vom Geheimdienstkomitee der Vereinigten Generalstabschefs Großbritanniens und der USA ausgearbeitet worden waren. Der Hauptgrund dafür, daß diese Pläne nicht in die Tat umgesetzt wurden, dürfte darin zu suchen sein, daß zum damaligen Zeitpunkt ein Atomkrieg gegen den Alliierten Sowjetunion weder der Weltöffentlichkeit noch der Bevölkerung der USA politisch hätte plausibel gemacht werden können.
Das Kernwaffenmonopol der USA
Dennoch versuchten die USA, ihr Kernwaffenmonopol zu wahren, vor allem mit Blick auf den weltpolitischen Konkurrenten Sowjetunion. Auch wenn die Öffentlichkeit für einen nuklearen Waffengang gegen den ehemaligen Verbündeten im Osten noch nicht zu haben war, so blieb immerhin der nicht zu unterschätzende Wert der Atombombe als politisches Druckmittel. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß die USA selbst den Verbündeten Großbritannien und Kanada 1944 den Zugang zur Plutoniumgewinnung verweigerten und 1946 mit dem Atomic Energy Act jegliche internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kerntechnik unterbanden. Auch im Rahmen der Vereinten Nationen versuchten die USA mit dem Lilienthal-Baruch-Plan von 1946, ihre nukleare Monopolstellung abzusichern, was jedoch am Widerstand der Sowjetunion scheiterte.
Es sollte sich rasch zeigen, daß die Bemühungen der USA, eine Weiterverbreitung von Kernwaffen durch Abschottung zu verhindern, fruchtlos waren, sondern im Gegenteil für Staaten mit entsprechenden Ambitionen Ansporn waren, ihre eigenen Anstrengungen zur Entwicklung der Nukleartechnik zu verstärken. Binnen kürzester Zeit hatten Großbritannien und Kanada mit dem – heute noch gebräuchlichen – sogenannten Purex-Verfahren eine eigene Wiederaufarbeitungstechnik und somit die Möglichkeit, selbst Plutonium zu gewinnen. 1949 zündete die Sowjetunion ihre erste Atombombe und 1953 ihre erste Wasserstoffbombe. Die USA hatten ihr Kernwaffenmonopol nicht einmal ein halbes Jahrzehnt halten können. Es hatte sich gezeigt, daß jedes hochentwickelte Industrieland in der Lage war, spaltbares Uran oder Plutonium zu gewinnen und darüber auch in den Besitz der Atombombe zu gelangen. Die Nichtweiterverbreitungspolitik durch internationale Verweigerung war gescheitert. Die Atommächte USA und Sowjetunion sollten nicht lange unter sich bleiben. Es folgten Großbritannien (1952), Frankreich (1960) und die Volksrepublik China (1964).
»Atoms for Peace«?
Am 8. Dezember 1953 entwarf der damalige Präsident der USA, Dwight D. Eisenhower, vor dem Forum der Vereinten Nationen ein Programm mit der Bezeichnung »Atoms for Peace« – »Atome für den Frieden«. Hiroschima und Nagasaki aus dem Weltbewußtsein zu verdrängen war sicherlich eine Funktion dieses in sich widersprüchlichen Slogans. Es war gleichzeitig der Bruch mit der gescheiterten Nichtweiterverbreitungspolitik durch Verweigerung internationaler Kooperation. »Atome für den Frieden« versprach im Gegenteil all jenen Staaten die Unterstützung der USA, die eine Kerntechnik zur »friedlichen« Nutzung aufzubauen beabsichtigten – allerdings nur unter der Bedingung, daß sie bereit waren, sich strengen Kontrollen durch die USA zu unterwerfen. Diese Überprüfungen sollten für die USA sicherstellen, daß die Kerntechnik nicht zu militärischen Zwecken mißbraucht würde.
Man kann davon ausgehen, daß die Vereinigten Staaten damals tatsächlich kein Interesse an einer unkontrollierten horizontalen Proliferation, also der Weiterverbreitung von Kernwaffen in Staaten, die nicht zu den Atommächten zählen, hatten. Das hätte dem Selbstverständnis der Weltmacht Nummer eins widersprochen, notfalls auch als Weltgendarm aufzutreten und ihre Interessen auch fernab der eigenen Küsten durchzusetzen (wie sie es zunächst in Korea und danach auch in Vietnam vorexerziert). Hinzu kam, daß die Vereinigten Staaten als einzige Atommacht durch Hiroschima und Nagasaki »praktische« Erfahrungen mit der Atombombe und ihrem gewaltigen Zerstörungspotential hatten (und nach wie vor bis heute haben!). Damals hätte eine Ausbreitung von Kernwaffen die mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts ohnehin rapide zunehmende (Atom-)Kriegsgefahr weiter vergrößert.
Neben den strategischen und politischen Gesichtspunkten waren auch wirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend dafür, daß die Vereinigten Staaten ihre Zurückhaltung bei der Internationalisierung der Kernenergietechnik aufgaben. Da tat sich nämlich ein riesiger Exportmarkt für die US-amerikanischen Reaktorschmieden und die Produzenten nuklearen Brennstoffs auf, den man weder den westeuropäischen noch den damals sozialistischen Konkurrenten kampflos überlassen wollte. Ökonomisch hat sich das gelohnt: Bis Dezember 1975 erreichten die Nuklearexporte der USA einen Wert von 29 Milliarden Dollar. Die westeuropäischen Länder, die sich 1957 zur »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) zusammenschlossen – es waren dies die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande –, gründeten gleichzeitig die »Europäische Atomgemeinschaft« Euratom. Beide Organisationen, EWG und Euratom, nahmen am 1. Januar 1958 ihre Tätigkeit auf.
Eine bundesdeutsche Bombe?
Die internationale Entwicklung der Kernenergietechnik hatte rasch eine bemerkenswerte Dynamik entfaltet. Auch die Bundesrepublik Deutschland, der die USA bis dahin jeglichen Zugang zur Nukleartechnik verweigert hatten, konnte unter dem Dach der internationalen Organisation Euratom Anschluß an diese Entwicklung gewinnen. Es gab jedoch so manchen westdeutschen Politiker, der sich durch den Kalten Krieg ermuntert fühlte, nicht nur über die »friedliche« Kernenergienutzung mehr oder weniger laut nachzudenken. Zu diesen Politikern gehörte Franz Josef Strauß, der 1955 erster Bonner Atomminister wurde. Strauß verfolgte zunächst die Konzeption einer – von ihm selbst später als »frommer Selbstbetrug« bezeichneten – atlantischen Union, die der Bundesrepublik den Weg zur Mitverfügung über die NATO-Atomwaffen öffnen sollte. Die »atlantische« Konzeption scheiterte an der Weigerung der Vereinigten Staaten, den europäischen Verbündeten eine Mitsprache über den Einsatz der Nuklearwaffen des Paktes zuzugestehen. Daraufhin setzte Strauß auf eine westeuropäische Lösung. Auf der Landesversammlung der CSU am 6.Juli 1963 in München erklärte er: »Je eher die politische Gemeinschaft Europas zustande kommt, auch wenn ihr nicht sofort alle europäischen Staaten angehören, desto eher wird die Gleichberechtigung auch auf dem Gebiete der Atomstreitkräfte zur Wirklichkeit werden.« Man kann davon ausgehen, daß diese Position mehr war als nur die ganz private Meinung des Herrn Franz Josef Strauß. 18 namhafte Kernphysiker wandten sich schon 1956 im sogenannten Göttinger Manifest gegen ruchbar gewordene Pläne für eine bundesdeutsche Atombombe.
Es ist traurig wenn man sieht wie Verkommen unsere Welt ist und unter welche Aspekten die Kernforschung in den Vereinigten Staaten vorangetrieben wurde.
so far
Die Legende von der Beherrschbarkeit der Atomenergie fand in der Nacht zum 26. April 1986 in Tschernobyl ihr jähes Ende
Von Ekkehard Sieker
GAU
Tschernobyl im Jahr 1998
Foto: AP
»Atomindustrie – das bedeutet permanenten Notstand unter Berufung auf permanente Bedrohung.«
Robert Jungk (1913–1994), österreichischer Friedensforscher
Es sind heute auf den Tag 20 Jahre vergangen, seit der Atomreaktor Nummer vier in Tschernobyl explodiert ist und seine gefährliche Strahlung über Tausende von Kilometern verbreitet hat. Die Folgen der Nuklearkatastrophe in der Ukraine vom 26. April 1986 sind vielfältig und bis heute weltweit kaum überschaubar. Selbst über die Anzahl der infolge des Reaktorunglücks unmittelbar Verstorbenen und die Zahl der Krebsopfer wird gestritten. Allein in Deutschland wird man bis zum Jahr 2030 insgesamt mit rund 20000 Karzinomen zusätzlich rechnen müssen; doch diese Erkrankungen werden statistisch kaum nachweisbar sein: Die Deutsche Krebshilfe geht von über 420000 neu diagnostizierten Fällen pro Jahr aus. An keinem Krebs hängt ein Schild: durch Tschernobyl verursacht.
»Nach der Katastrophe von Tschernobyl darf nichts mehr so sein, wie es einmal war. Sollte man meinen. Aber nach wie vor gibt es jene Zunft von Politikern, Experten und Publizisten, die uns unbeirrbar einreden wollen, daß das, was sie die ›friedliche Nutzung der Kernenergie‹ nennen, unverzichtbar und sicherheitstechnisch beherrschbar sei. Da wird die Kernenergie unversehens zum Götzen, dem um so inbrünstiger gehuldigt wird, je kannibalischer er sich gebärdet.« Dies schrieb der Journalist Günter Neuberger im Herbst 1986 angesichts der haarsträubenden Verharmlosungen seitens der Vertreter und Hofberichterstatter der Nuklearlobby. Damals konnte er nicht ahnen, daß 20 Jahre später der Ausstieg aus der »friedlichen Nutzung der Kernenergie« noch immer nicht vollzogen sein würde und daß der Einsatz von Atomwaffen von militärisch und politisch Verantwortlichen nach wie vor geplant wird.
Tschernobyl 2006
In der rheinland-pfälzischen Rhein-Zeitung liest man am 22. April 2006 unter der Überschrift »Regelverstoß führte zur Atomkatastrophe«: »Am 26. April 1986 führten Regelverstöße bei einem Test im AKW im ukrainischen Tschernobyl zum größten anzunehmenden Unfall (GAU) in der Geschichte der friedlichen Kernenergie-Nutzung.« Da ist sie noch immer, die zynische Mär von der »friedlichen Atomenergie«, die in der Ukraine und in Belarus Menschen noch heute mit Krankheit und Tod bedroht und weltweit Abermillionen radioaktiv belastete.
Und noch eins ist sicher: In Tschernobyl kam es nicht zu einem GAU, sondern zu einem Super-GAU, denn unter einem GAU versteht man in der Kernenergietechnik den »größten anzunehmenden und sicherheitstechnisch noch beherrschbaren Unfall«. Ein solcher GAU ist demnach ein Unfall, den der Betreiber einer kerntechnischen Anlage als den größten anzunehmen hat, um anschließend den Genehmigungsbehörden in Gutachten nachzuweisen, daß die Sicherheitseinrichtungen seiner Anlage ein solches Unfallszenario noch beherrschen. Ein Super-GAU beschreibt demnach einen Unfall, wie den in Tschernobyl, der von der Sicherheitstechnik der entsprechenden Nuklearanlage nicht mehr beherrscht wird. Auch wenn die Gesellschaft für deutsche Sprache das Wort »Super-GAU« im Jahr 1993 zum Unwort erklärt hat, handelt es sich hierbei um einen Begriff, der genau die physikalisch möglichen, aber sicherheitstechnisch von der Atomindustrie nicht angenommenen Risiken beschreibt – ein sinnvolles Wort, dessen man sich nicht berauben lassen sollte.
Die Quadratur des Kreises
In der oben erwähnten Rhein-Zeitung findet man direkt unter dem Artikel über das Reaktorunglück in Tschernobyl eine Meldung mit dem Titel »Experten: US-Angriff auf Iran möglich«. Darin heißt es: »In der Krise um das iranische Atomprogramm halten europäische Experten einen Militäreinsatz der USA gegen die Islamische Republik für immer wahrscheinlicher.« Dabei schließt die US-Administration – wie sie immer wieder betont – den Einsatz von nuklearen Gefechtsfeldwaffen nicht aus.
Das von den USA angeprangerte iranische Atomprogramm ist nach Angaben der Regierung in Teheran ein ziviles; die USA und europäische Regierungen behaupten dagegen, der Iran strebe mit Hilfe dieses zivilen Atomprogramms nach der Bombe.
Hiroshima und Nagasaki
Beschäftigen wir uns also mit der Quadratur des Kreises, mit dem zum Scheitern verurteilten Versuch, die zivile Atomenergienutzung prinzipiell von der militärischen zu trennen. Aus den historischen Zusammenhängen wird dann ersichtlich: »friedliche« und militärische Nutzung waren von Anfang an die beiden Seiten ein und derselben Münze. Diese »Münze« definieren die USA im Augenblick zur rein iranischen Währung, um sich damit bei der europäischen Politik und in der Weltöffentlichkeit einen Kriegsgrund zu erkaufen.
Nachdem im Januar 1939 die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Straßmann ihre Entdeckung der Kernspaltung veröffentlicht hatten, befaßte sich bereits im April desselben Jahres das Oberkommando der Wehrmacht und das Reichserziehungsministerium in Deutschland mit der Möglichkeit, einen Atomreaktor zu bauen und einen nuklearen Explosivstoff zu entwickeln. Am 16. September 1939 wurde der deutsche Uranverein gegründet. Aus verschiedenen Gründen – technischer und struktureller Art – aber gelang es den deutschen Physikern unter Leitung von Werner Heisenberg weder, einen funktionierenden Reaktor zu bauen, noch eine einsetzbare Atombombe zu entwickeln. Die nicht geheimzuhaltenden diesbezüglichen Ambitionen des faschistischen Deutschland waren jedoch selbst in ihrer Anfangsphase eine außerordentliche Bedrohung für die Welt.
In den USA gelang es am 2. Dezember 1942, einen Reaktor in Betrieb zu nehmen. Bis zum Sommer 1945 wurden in dem geheimen Atomwaffenlaboratorium Los Alamos in den USA drei einsatzbereite Atomsprengsätze hergestellt. Am 16. Juli 1945 testete das US-Militär bei Alamogordo in New Mexico erfolgreich die erste nukleare Spaltungsbombe aus Plutonium. Die beiden weiteren Atombomben wurden am 6. August 1945 auf die japanische Stadt Hiroshima und am 9. August 1945 auf Nagasaki abgeworfen. Schon zu Beginn der Geschichte der Kerntechnik waren der Bau von Reaktoren und die Entwicklung von Atomwaffen nicht voneinander getrennt.
Der Beginn des Kalten Krieges
Kiew
20 Jahre danach: Achtjähriges Mädchen als Krebspartient in Kiew
Foto: AP
Der Zweite Weltkrieg hatte die internationalen Machtstrukturen nachhaltig verändert. Hitlerdeutschland war vernichtend geschlagen, ebenso sein asiatischer Verbündeter Japan. Die europäischen Siegermächte Frankreich und Großbritannien waren ausgeblutet. Zur Weltmacht Nummer eins waren unbestritten die Vereinigten Staaten von Amerika aufgerückt, die nachdrücklich ihren Anspruch anmeldeten, die Nachkriegswelt in ihrem Sinne neu zu ordnen. Auch die Sowjetunion war in gewissem Sinne gestärkt aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen, selbst wenn sie die bei weitem größten Opfer hatte bringen müssen, damit das faschistische Deutschland militärisch in die Knie gezwungen werden konnte. Nachdem der gemeinsame Gegner niedergerungen war, traten die Systemgegensätze zwischen den USA und der Sowjetunion sehr bald in den Vordergrund. Der Kalte Krieg begann.
Die menschenverachtende nukleare Bombardierung des ohnehin geschlagenen Japan war militärisch völlig überflüssig und in erster Linie eine Drohgebärde in Richtung Sowjetunion, der so unmißverständlich klargemacht werden sollte, wer die Dirigentenrolle im weltpolitischen Konzert der Nachkriegszeit für sich beanspruchte. Die Drohung mit der Atombombe war keine leere. Schon im Herbst 1945 lagen detaillierte Pläne für eine atomare Bombardierung der UdSSR vor, die vom Geheimdienstkomitee der Vereinigten Generalstabschefs Großbritanniens und der USA ausgearbeitet worden waren. Der Hauptgrund dafür, daß diese Pläne nicht in die Tat umgesetzt wurden, dürfte darin zu suchen sein, daß zum damaligen Zeitpunkt ein Atomkrieg gegen den Alliierten Sowjetunion weder der Weltöffentlichkeit noch der Bevölkerung der USA politisch hätte plausibel gemacht werden können.
Das Kernwaffenmonopol der USA
Dennoch versuchten die USA, ihr Kernwaffenmonopol zu wahren, vor allem mit Blick auf den weltpolitischen Konkurrenten Sowjetunion. Auch wenn die Öffentlichkeit für einen nuklearen Waffengang gegen den ehemaligen Verbündeten im Osten noch nicht zu haben war, so blieb immerhin der nicht zu unterschätzende Wert der Atombombe als politisches Druckmittel. Vor diesem Hintergrund wird es verständlich, daß die USA selbst den Verbündeten Großbritannien und Kanada 1944 den Zugang zur Plutoniumgewinnung verweigerten und 1946 mit dem Atomic Energy Act jegliche internationale Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Kerntechnik unterbanden. Auch im Rahmen der Vereinten Nationen versuchten die USA mit dem Lilienthal-Baruch-Plan von 1946, ihre nukleare Monopolstellung abzusichern, was jedoch am Widerstand der Sowjetunion scheiterte.
Es sollte sich rasch zeigen, daß die Bemühungen der USA, eine Weiterverbreitung von Kernwaffen durch Abschottung zu verhindern, fruchtlos waren, sondern im Gegenteil für Staaten mit entsprechenden Ambitionen Ansporn waren, ihre eigenen Anstrengungen zur Entwicklung der Nukleartechnik zu verstärken. Binnen kürzester Zeit hatten Großbritannien und Kanada mit dem – heute noch gebräuchlichen – sogenannten Purex-Verfahren eine eigene Wiederaufarbeitungstechnik und somit die Möglichkeit, selbst Plutonium zu gewinnen. 1949 zündete die Sowjetunion ihre erste Atombombe und 1953 ihre erste Wasserstoffbombe. Die USA hatten ihr Kernwaffenmonopol nicht einmal ein halbes Jahrzehnt halten können. Es hatte sich gezeigt, daß jedes hochentwickelte Industrieland in der Lage war, spaltbares Uran oder Plutonium zu gewinnen und darüber auch in den Besitz der Atombombe zu gelangen. Die Nichtweiterverbreitungspolitik durch internationale Verweigerung war gescheitert. Die Atommächte USA und Sowjetunion sollten nicht lange unter sich bleiben. Es folgten Großbritannien (1952), Frankreich (1960) und die Volksrepublik China (1964).
»Atoms for Peace«?
Am 8. Dezember 1953 entwarf der damalige Präsident der USA, Dwight D. Eisenhower, vor dem Forum der Vereinten Nationen ein Programm mit der Bezeichnung »Atoms for Peace« – »Atome für den Frieden«. Hiroschima und Nagasaki aus dem Weltbewußtsein zu verdrängen war sicherlich eine Funktion dieses in sich widersprüchlichen Slogans. Es war gleichzeitig der Bruch mit der gescheiterten Nichtweiterverbreitungspolitik durch Verweigerung internationaler Kooperation. »Atome für den Frieden« versprach im Gegenteil all jenen Staaten die Unterstützung der USA, die eine Kerntechnik zur »friedlichen« Nutzung aufzubauen beabsichtigten – allerdings nur unter der Bedingung, daß sie bereit waren, sich strengen Kontrollen durch die USA zu unterwerfen. Diese Überprüfungen sollten für die USA sicherstellen, daß die Kerntechnik nicht zu militärischen Zwecken mißbraucht würde.
Man kann davon ausgehen, daß die Vereinigten Staaten damals tatsächlich kein Interesse an einer unkontrollierten horizontalen Proliferation, also der Weiterverbreitung von Kernwaffen in Staaten, die nicht zu den Atommächten zählen, hatten. Das hätte dem Selbstverständnis der Weltmacht Nummer eins widersprochen, notfalls auch als Weltgendarm aufzutreten und ihre Interessen auch fernab der eigenen Küsten durchzusetzen (wie sie es zunächst in Korea und danach auch in Vietnam vorexerziert). Hinzu kam, daß die Vereinigten Staaten als einzige Atommacht durch Hiroschima und Nagasaki »praktische« Erfahrungen mit der Atombombe und ihrem gewaltigen Zerstörungspotential hatten (und nach wie vor bis heute haben!). Damals hätte eine Ausbreitung von Kernwaffen die mit der Verschärfung des Ost-West-Konflikts ohnehin rapide zunehmende (Atom-)Kriegsgefahr weiter vergrößert.
Neben den strategischen und politischen Gesichtspunkten waren auch wirtschaftliche Überlegungen ausschlaggebend dafür, daß die Vereinigten Staaten ihre Zurückhaltung bei der Internationalisierung der Kernenergietechnik aufgaben. Da tat sich nämlich ein riesiger Exportmarkt für die US-amerikanischen Reaktorschmieden und die Produzenten nuklearen Brennstoffs auf, den man weder den westeuropäischen noch den damals sozialistischen Konkurrenten kampflos überlassen wollte. Ökonomisch hat sich das gelohnt: Bis Dezember 1975 erreichten die Nuklearexporte der USA einen Wert von 29 Milliarden Dollar. Die westeuropäischen Länder, die sich 1957 zur »Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft« (EWG) zusammenschlossen – es waren dies die Bundesrepublik Deutschland, Frankreich, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande –, gründeten gleichzeitig die »Europäische Atomgemeinschaft« Euratom. Beide Organisationen, EWG und Euratom, nahmen am 1. Januar 1958 ihre Tätigkeit auf.
Eine bundesdeutsche Bombe?
Die internationale Entwicklung der Kernenergietechnik hatte rasch eine bemerkenswerte Dynamik entfaltet. Auch die Bundesrepublik Deutschland, der die USA bis dahin jeglichen Zugang zur Nukleartechnik verweigert hatten, konnte unter dem Dach der internationalen Organisation Euratom Anschluß an diese Entwicklung gewinnen. Es gab jedoch so manchen westdeutschen Politiker, der sich durch den Kalten Krieg ermuntert fühlte, nicht nur über die »friedliche« Kernenergienutzung mehr oder weniger laut nachzudenken. Zu diesen Politikern gehörte Franz Josef Strauß, der 1955 erster Bonner Atomminister wurde. Strauß verfolgte zunächst die Konzeption einer – von ihm selbst später als »frommer Selbstbetrug« bezeichneten – atlantischen Union, die der Bundesrepublik den Weg zur Mitverfügung über die NATO-Atomwaffen öffnen sollte. Die »atlantische« Konzeption scheiterte an der Weigerung der Vereinigten Staaten, den europäischen Verbündeten eine Mitsprache über den Einsatz der Nuklearwaffen des Paktes zuzugestehen. Daraufhin setzte Strauß auf eine westeuropäische Lösung. Auf der Landesversammlung der CSU am 6.Juli 1963 in München erklärte er: »Je eher die politische Gemeinschaft Europas zustande kommt, auch wenn ihr nicht sofort alle europäischen Staaten angehören, desto eher wird die Gleichberechtigung auch auf dem Gebiete der Atomstreitkräfte zur Wirklichkeit werden.« Man kann davon ausgehen, daß diese Position mehr war als nur die ganz private Meinung des Herrn Franz Josef Strauß. 18 namhafte Kernphysiker wandten sich schon 1956 im sogenannten Göttinger Manifest gegen ruchbar gewordene Pläne für eine bundesdeutsche Atombombe.
Es ist traurig wenn man sieht wie Verkommen unsere Welt ist und unter welche Aspekten die Kernforschung in den Vereinigten Staaten vorangetrieben wurde.
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