Yassir
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Freitag 28. Dezember 2018 10:07
«Jetzt haben die reichen Weissen die heuchlerische Maske abgelegt»
Ab 2019 wird Brasilien vom rechtsextremen Jair Bolsonaro regiert. Wie konnte es so weit kommen? Schriftsteller Luiz Ruffato ringt nach Erklärungen.
«Tieftraurig» über die Entwicklungen in seinem Land: Luiz Ruffato in seinem Appartement in Sao Paolo. Foto: Getty
Brasilien hat einen Präsidenten gewählt, der seine politischen Gegner aus dem Land verbannen will, der die Militärdiktatur verherrlicht und sich mehrfach rassistisch und homophob geäussert hat. Sind Sie überrascht?
Es war schon länger zu beobachten, dass immer mehr Brasilianer empfänglich wurden für autoritäre Predigten, wie sie an Veranstaltungen von Jair Bolsonaro zu hören waren. Überrascht bin ich also nicht. Bloss traurig. Tieftraurig.
Stefan Zweig, der vor den Nazis nach Brasilien geflohen ist, hat ein Bild des Landes gezeichnet, in dem alle Ethnien friedlich zusammenleben. Das hat sich in den Köpfen der Europäer festgesetzt. Was ist mit diesem friedliebenden Land passiert?
Es hat nie existiert! Dies ist eine romantische Vision. Wie kann man sich Frieden und Gleichberechtigung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Land vorstellen, das mit dem Völkermord an der indigenen Bevölkerung und mit einer brutalen Sklaverei von Schwarzafrikanern geboren wurde. Brasilien war schon immer ein ungleiches, rassistisches und klassizistisches Land.
Die Arbeiterpartei PT, der die einstigen Präsidenten Lula da Silva und Dilma Rousseff angehören, wollte das Land einen. Nun hinterlässt die Partei eine fundamental gespaltene Gesellschaft. Eine Ironie der Geschichte?
Die Verantwortung für die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft liegt nicht beim PT. Ich glaube nicht einmal, dass es die Partei so sehr darauf anlegte, die Vereinigung der brasilianischen Gesellschaft zu fördern. Diese ist und war immer in verschiedene Stände unterteilt. Es hat noch nie ein Projekt gegeben, das Land Brasilien in eine Nation Brasilien zu verwandeln. Die Reichen und Mächtigen haben die Bevölkerung immer als ein blosses Behältnis für billige Arbeitskräfte betrachtet, das dem Erreichen ihrer Ziele diente. Deshalb halten sie sogar die Armut unter Kontrolle, denn in Brasilien ist Armut eine Form der Dominanz. Was im letzten Wahlkampf geschah, war nur eine Zuspitzung des Klassenkampfs: Die Bevölkerung der reichen weissen Brasilianer zeigte ihre tiefe Verachtung gegenüber armen Weissen, Schwarzen und Indios. Das ist nichts Neues, doch erst jetzt haben sie die heuchlerische Maskerade beiseitegelegt.
Video: Rechtspopulist Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt
Seine Wahl könnte einen radikalen Politikwechsel in Brasilien nach sich ziehen. Video: AFP
Die Arbeiterpartei hat versucht, einen sozialen Ausgleich zu schaffen und gleichzeitig die Wirtschaft zu stärken. Vor allem Lula war damit anfänglich erfolgreich. Warum ist der PT nun so kolossal gescheitert?
In den ersten beiden Regierungen von Lula gab es eine Wette auf die Produktion von Konsumgütern und auf Rohstoffe. Das bescherte uns ein gigantisches Wachstum. Aber diese Vorteile bewegten sich eben im Rahmen des Konsums und waren nicht auf strukturelle Verbesserungen für die allgemeine Bevölkerung wie Bildung und Gesundheit ausgerichtet. Mit anderen Worten, wir investierten in die Verbraucher, aber nicht in die Bürger. Die Regierung Dilma konnte dann die anfänglichen Wachstumsraten nicht mehr halten.
Das reichte, dass ein ganzes Wertegebilde zusammenbrach?
Es gab in der Krise nicht nur die Frustration der Bürger, die während der Lula-Administration in die Mittelschicht aufgestiegen waren. Es wuchs auch der Groll der konsolidierten Mittelschicht, die sich nie damit abfinden konnte, dass sie ihre exklusiven Räume in Flughäfen, Universitäten oder Eigentumswohnungen verlor und mit der neuen Mittelschicht teilen musste. Diese neue Mittelschicht war nämlich gemischt oder schwarz – und deshalb in ihren Augen schlecht. Klar, der PT hat seine eigene Arbeit durch Korruption getrübt. Aber gescheitert ist er nicht, weil die Bevölkerung ihn moralisch abgestraft hat, er scheiterte an den kleinlichen Eigeninteressen der Brasilianer, die ihre Privilegien in Gefahr sahen.
Sie gelten als minuziöser Beobachter der brasilianischen Gesellschaft. Ihre Betrachtungen des Landes, die sich über fünf Romane erstrecken, haben Sie unter den finsteren Titel «Die vorläufige Hölle» gestellt. Droht nun die endgültige Hölle?
Ich wage keine Prognose. Brasilien erlebte einen brutalen Wandel seiner sozialen Struktur. In nur 50 Jahren haben wir uns von einem grösstenteils ländlichen Land zu einem urbanen Land entwickelt, ohne dass diese Veränderung geplant war. Zum Veranschaulichen: 1950 lebten 65 Prozent der brasilianischen Bevölkerung auf dem Land, heute leben 81 Prozent in Städten. Das Ergebnis ist ein Land mit sehr ernsten Problemen in den Bereichen Stadtverkehr, Freizeit, Gesundheitswesen und Bildung. Ein Land auch mit sehr hohen Gewaltraten und einer unüberwindbaren Kluft zwischen Arm und Reich. Meine Romanserie zeigt dieses Chaos, das in Brasilien stattgefunden hat.
Das Land hatte 2003 Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten der Republik gewählt, und irgendwie haben wir alle an diese Partei geglaubt. Die Wahl von Lula war, so schien es, die Konsolidierung der linken Ideale, die auf eine gerechtere, tolerantere, bessere Gesellschaft abzielten. Aber leider war das, was wir sahen, ganz anders. Obwohl Lula meiner Meinung nach der beste Präsident aller Zeiten war, machte seine Partei unverzeihliche Fehler in der Regierungsarbeit.
Was werfen Sie dem PT vor?
Er hat sich von den Volksbewegungen gelöst, die der Ursprung und die Stärke der Partei waren. Er hat sich mit den fundamentalistischen Evangelikalen verbündet und auf die alte Kumpanei- und Gefälligkeitspolitik gebaut.
Waren die Programme des PT also bloss Symbolpolitik, wie die Anhänger Bolsonaros behaupten?
Mit Symbolpolitik hätte der Hunger nicht besiegt werden können. Zwischen 2002 und 2013 ist die Zahl der an chronischer Unterernährung leidenden Menschen um 82 Prozent gesunken. Rund 30 Millionen Brasilianer haben die extreme Armut hinter sich gelassen. Dies ist eine unbestreitbare Leistung der Lula-Regierung, die vor allem durch Familienbeihilfen erreicht wurde. Dazu kamen die Rassen- und Sozialquoten, die Schwarzen, Indios und auch einkommensschwachen Weissen den Zugang zur Hochschulbildung ermöglichten, von der sie zuvor ausgeschlossen waren. Auch wurden die Rechte der LGBT-Minderheiten und der Frauen ausgeweitet, ebenso die Pressefreiheit oder die Handlungsfreiheit der Justiz. Das war keine Symbolpolitik. Es sind ganz konkrete Errungenschaften der Regierungen Lula und Dilma Rousseff.
Dieses Argument ist das Argument unserer weissen Elite, die historische Privilegien verteidigt. In 15 Jahren stieg der Anteil der Schwarzen und gemischtrassigen Hochschulabsolventen von 2,2 auf 9,3 Prozent. Und doch bleibt Brasilien ein rassistisches Land: Wir sehen keine Schwarzen und Braune als Ärzte, Ingenieure, Offiziere, Journalisten, Schriftsteller, Zahnärzte, Politiker. Obwohl Braun und Schwarz etwa 55 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Was die Indios betrifft, so sind sie leider nach wie vor der anfälligste Teil der Bevölkerung, und die Regierung von Jair Bolsonaro wird die Situation wohl verschlimmern. Er hat erklärt, dass er die geltende indigene Politik, die zwar unzureichend war, aber einige Grundrechte für ihre Existenz garantiert hatte, vollständig ändern wird. Bolsonaro beabsichtigt, indigene Reservate – die er menschliche Zoos nennt – zu reduzieren oder zu beseitigen, um das Agrarbusiness auszubauen.
Brasilien schien bis vor kurzem keine über Massen politisierte Gesellschaft zu sein. Jahrzehntelang gab es kaum Demonstrationen. Heute stehen sich zwei unversöhnliche politische Lager gegenüber. Warum diese politische Radikalisierung?
Die gab es schon zuvor, bloss wurde sie nicht sichtbar. Die Geschichte Brasiliens ist die Geschichte diktatorischer Regime, die mit sehr wenigen Perioden Demokratie durchsetzt war. Die Epoche, in der wir jetzt leben, ist die längste in unserer gesamten Geschichte der Demokratie. Und sie dauert erst 33 Jahre. Nun haben wir eine Figur zum Präsidenten gemacht, die mit einer Rechtfertigungsrede auf die Militärdiktatur gewählt wurde. Mit anderen Worten: Wenn politische oder ideologische Differenzen früher nicht offenbar wurden, dann nur deshalb, weil es immer eine gewaltige Unterdrückung der aufbegehrenden Kräfte gegeben hat.
Sie fokussieren in Ihren Büchern vornehmlich auf die einfachen Arbeiter Brasiliens. Haben die auch Bolsonaro gewählt?
Aber natürlich. Die Vorstellung, dass die Armen notwendigerweise fortschrittlich sind, ist eine Vision einer Linken, die die Armen eindeutig nicht kennt. Die Armen sind pragmatisch, nicht ideologisch. Während die PT-Regierung das Leben der ärmsten Menschen zu verbessern schien, gelang es ihr, an der Macht zu bleiben. Als die Krise kam und sich diese Bevölkerung in ihren kleinen wirtschaftlichen Eroberungen bedroht fühlte, fiel sie auf die andere Seite.
Bilder: Brasilien wählt neuen Präsidenten
Er wird neuer Präsident: Der ultarechte Jair Bolsonaro kommt in der Stichwahl auf 55,5 Prozent.Bild: AP
Die Stimmung in Brasilien ist angespannt. Kaum jemand traut sich mehr, über Politik zu reden. Viele der feurigen Posts in den sozialen Medien wurden gelöscht. Vor allem den Gegnern von Bolsonaro ist es mulmig zumute. Ist die Angst berechtigt?
Die Angst ist nicht übertrieben. Immerhin hat Bolsonaro ziemlich beängstigende Gedanken geäussert. Zum Beispiel, dass sich in Brasilien erst mit einem Bürgerkrieg etwas ändern werde und das getan werden müsse, was das Militärregime nicht getan habe: nämlich etwa 30'000 Kriminelle zu töten. Er sei für die Folter und die Todesstrafe, und er wolle die roten Aussenseiter aus der Heimat verbannen.
Dann teilen Sie die Hoffnung vieler Brasilianer nicht, die Ära Bolsonaro könnte nur halb so schlimm werden, wie alle befürchten?
Definitiv nicht.
Besonders Kulturschaffende sehen kaum mehr eine Zukunft im Lande. Viele wollen auswandern. Werden Sie im Land bleiben?
Natürlich. Brasilien ist mein Land, und ich werde für die Ideen kämpfen, an die ich glaube, die von Chancengleichheit, Gerechtigkeit, Würde und Toleranz geprägt sind. Und das kann ich nur, wenn ich hier bin. Das ist auch mein Land, und ich werde es in keiner Weise aufgeben.
Es ist leider wahr. Brasilien hat eine der schlechtesten Leseraten der Welt. 44 Prozent der Bevölkerung lesen nicht. Auf meinen Streifzügen durch Brasilien bin ich trotzdem vielen Menschen begegnet, deren Leben sich durch den Kontakt mit der Literatur völlig verändert haben. Sagen wirs so: Da Brasilien aus potenziellen Lesern besteht, kann die Literatur die Gesellschaft verändern.
Während der Militärdiktatur spielte die Musik eine grosse Rolle. Aus dem Exil heraus spendeten Leute wie Tom Zé, Chico Buarque, Gilberto Gil, Gal Costa oder Caetano Veloso musikalischen Trost oder leisteten geistigen Widerstand. Heute haben viele Musiker Angst, sich zu exponieren.
Das ist traurig, aber wahr. Viele Künstler – natürlich nicht alle – waren Feiglinge, die es vorzogen, sich während des Wahlkampfs hinter einer Neutralität zu verstecken, die es nicht gibt. Sie befürchten nicht nur, Teile ihres Publikums zu verlieren, sondern auch die öffentliche Förderung. Das geschieht nicht nur im Bereich der Musik, sondern in allen Kunstsparten. Es ist ein Jammer.
Im Banner Brasiliens steht «Ordem e Progresso» – Ordnung und Fortschritt. Was würden Sie nach dieser Abstimmung in die Flagge schreiben?
Ich mag die brasilianische Flagge, so wie sie ist. Für mich bedeutet der Slogan Rechtsordnung und sozialen Fortschritt. Ich kämpfe dafür, dass diese Ordnung und dieser Fortschritt endlich Realität werden.
«Tieftraurig» über die Entwicklungen in seinem Land: Luiz Ruffato in seinem Appartement in Sao Paolo. Foto: Getty
Brasilien hat einen Präsidenten gewählt, der seine politischen Gegner aus dem Land verbannen will, der die Militärdiktatur verherrlicht und sich mehrfach rassistisch und homophob geäussert hat. Sind Sie überrascht?
Es war schon länger zu beobachten, dass immer mehr Brasilianer empfänglich wurden für autoritäre Predigten, wie sie an Veranstaltungen von Jair Bolsonaro zu hören waren. Überrascht bin ich also nicht. Bloss traurig. Tieftraurig.
Stefan Zweig, der vor den Nazis nach Brasilien geflohen ist, hat ein Bild des Landes gezeichnet, in dem alle Ethnien friedlich zusammenleben. Das hat sich in den Köpfen der Europäer festgesetzt. Was ist mit diesem friedliebenden Land passiert?
Es hat nie existiert! Dies ist eine romantische Vision. Wie kann man sich Frieden und Gleichberechtigung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Land vorstellen, das mit dem Völkermord an der indigenen Bevölkerung und mit einer brutalen Sklaverei von Schwarzafrikanern geboren wurde. Brasilien war schon immer ein ungleiches, rassistisches und klassizistisches Land.
Die Arbeiterpartei PT, der die einstigen Präsidenten Lula da Silva und Dilma Rousseff angehören, wollte das Land einen. Nun hinterlässt die Partei eine fundamental gespaltene Gesellschaft. Eine Ironie der Geschichte?
Die Verantwortung für die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft liegt nicht beim PT. Ich glaube nicht einmal, dass es die Partei so sehr darauf anlegte, die Vereinigung der brasilianischen Gesellschaft zu fördern. Diese ist und war immer in verschiedene Stände unterteilt. Es hat noch nie ein Projekt gegeben, das Land Brasilien in eine Nation Brasilien zu verwandeln. Die Reichen und Mächtigen haben die Bevölkerung immer als ein blosses Behältnis für billige Arbeitskräfte betrachtet, das dem Erreichen ihrer Ziele diente. Deshalb halten sie sogar die Armut unter Kontrolle, denn in Brasilien ist Armut eine Form der Dominanz. Was im letzten Wahlkampf geschah, war nur eine Zuspitzung des Klassenkampfs: Die Bevölkerung der reichen weissen Brasilianer zeigte ihre tiefe Verachtung gegenüber armen Weissen, Schwarzen und Indios. Das ist nichts Neues, doch erst jetzt haben sie die heuchlerische Maskerade beiseitegelegt.
Video: Rechtspopulist Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt
«Jetzt haben die reichen Weissen die heuchlerische Maske abgelegt»
Ab 2019 wird Brasilien vom rechtsextremen Jair Bolsonaro regiert. Wie konnte es so weit kommen? Schriftsteller Luiz Ruffato ringt nach Erklärungen.
«Tieftraurig» über die Entwicklungen in seinem Land: Luiz Ruffato in seinem Appartement in Sao Paolo. Foto: Getty
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Brasilien hat einen Präsidenten gewählt, der seine politischen Gegner aus dem Land verbannen will, der die Militärdiktatur verherrlicht und sich mehrfach rassistisch und homophob geäussert hat. Sind Sie überrascht?
Es war schon länger zu beobachten, dass immer mehr Brasilianer empfänglich wurden für autoritäre Predigten, wie sie an Veranstaltungen von Jair Bolsonaro zu hören waren. Überrascht bin ich also nicht. Bloss traurig. Tieftraurig.
Stefan Zweig, der vor den Nazis nach Brasilien geflohen ist, hat ein Bild des Landes gezeichnet, in dem alle Ethnien friedlich zusammenleben. Das hat sich in den Köpfen der Europäer festgesetzt. Was ist mit diesem friedliebenden Land passiert?
Es hat nie existiert! Dies ist eine romantische Vision. Wie kann man sich Frieden und Gleichberechtigung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Land vorstellen, das mit dem Völkermord an der indigenen Bevölkerung und mit einer brutalen Sklaverei von Schwarzafrikanern geboren wurde. Brasilien war schon immer ein ungleiches, rassistisches und klassizistisches Land.
Die Arbeiterpartei PT, der die einstigen Präsidenten Lula da Silva und Dilma Rousseff angehören, wollte das Land einen. Nun hinterlässt die Partei eine fundamental gespaltene Gesellschaft. Eine Ironie der Geschichte?
Die Verantwortung für die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft liegt nicht beim PT. Ich glaube nicht einmal, dass es die Partei so sehr darauf anlegte, die Vereinigung der brasilianischen Gesellschaft zu fördern. Diese ist und war immer in verschiedene Stände unterteilt. Es hat noch nie ein Projekt gegeben, das Land Brasilien in eine Nation Brasilien zu verwandeln. Die Reichen und Mächtigen haben die Bevölkerung immer als ein blosses Behältnis für billige Arbeitskräfte betrachtet, das dem Erreichen ihrer Ziele diente. Deshalb halten sie sogar die Armut unter Kontrolle, denn in Brasilien ist Armut eine Form der Dominanz. Was im letzten Wahlkampf geschah, war nur eine Zuspitzung des Klassenkampfs: Die Bevölkerung der reichen weissen Brasilianer zeigte ihre tiefe Verachtung gegenüber armen Weissen, Schwarzen und Indios. Das ist nichts Neues, doch erst jetzt haben sie die heuchlerische Maskerade beiseitegelegt.
Video: Rechtspopulist Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt
Seine Wahl könnte einen radikalen Politikwechsel in Brasilien nach sich ziehen. Video: AFP
Die Arbeiterpartei hat versucht, einen sozialen Ausgleich zu schaffen und gleichzeitig die Wirtschaft zu stärken. Vor allem Lula war damit anfänglich erfolgreich. Warum ist der PT nun so kolossal gescheitert?
In den ersten beiden Regierungen von Lula gab es eine Wette auf die Produktion von Konsumgütern und auf Rohstoffe. Das bescherte uns ein gigantisches Wachstum. Aber diese Vorteile bewegten sich eben im Rahmen des Konsums und waren nicht auf strukturelle Verbesserungen für die allgemeine Bevölkerung wie Bildung und Gesundheit ausgerichtet. Mit anderen Worten, wir investierten in die Verbraucher, aber nicht in die Bürger. Die Regierung Dilma konnte dann die anfänglichen Wachstumsraten nicht mehr halten.
Das reichte, dass ein ganzes Wertegebilde zusammenbrach?
Es gab in der Krise nicht nur die Frustration der Bürger, die während der Lula-Administration in die Mittelschicht aufgestiegen waren. Es wuchs auch der Groll der konsolidierten Mittelschicht, die sich nie damit abfinden konnte, dass sie ihre exklusiven Räume in Flughäfen, Universitäten oder Eigentumswohnungen verlor und mit der neuen Mittelschicht teilen musste. Diese neue Mittelschicht war nämlich gemischt oder schwarz – und deshalb in ihren Augen schlecht. Klar, der PT hat seine eigene Arbeit durch Korruption getrübt. Aber gescheitert ist er nicht, weil die Bevölkerung ihn moralisch abgestraft hat, er scheiterte an den kleinlichen Eigeninteressen der Brasilianer, die ihre Privilegien in Gefahr sahen.
Sie gelten als minuziöser Beobachter der brasilianischen Gesellschaft. Ihre Betrachtungen des Landes, die sich über fünf Romane erstrecken, haben Sie unter den finsteren Titel «Die vorläufige Hölle» gestellt. Droht nun die endgültige Hölle?
Ich wage keine Prognose. Brasilien erlebte einen brutalen Wandel seiner sozialen Struktur. In nur 50 Jahren haben wir uns von einem grösstenteils ländlichen Land zu einem urbanen Land entwickelt, ohne dass diese Veränderung geplant war. Zum Veranschaulichen: 1950 lebten 65 Prozent der brasilianischen Bevölkerung auf dem Land, heute leben 81 Prozent in Städten. Das Ergebnis ist ein Land mit sehr ernsten Problemen in den Bereichen Stadtverkehr, Freizeit, Gesundheitswesen und Bildung. Ein Land auch mit sehr hohen Gewaltraten und einer unüberwindbaren Kluft zwischen Arm und Reich. Meine Romanserie zeigt dieses Chaos, das in Brasilien stattgefunden hat.
«Obwohl Lula meiner Meinung nach der beste Präsident aller Zeiten war, machte seine Partei unverzeihliche Fehler.»
Die Reihe endet 2003. Danach erlebte Brasilien einen Aufschwung und wurde 2014 aus der Armutsstatistik gestrichen.Das Land hatte 2003 Luiz Inácio Lula da Silva zum Präsidenten der Republik gewählt, und irgendwie haben wir alle an diese Partei geglaubt. Die Wahl von Lula war, so schien es, die Konsolidierung der linken Ideale, die auf eine gerechtere, tolerantere, bessere Gesellschaft abzielten. Aber leider war das, was wir sahen, ganz anders. Obwohl Lula meiner Meinung nach der beste Präsident aller Zeiten war, machte seine Partei unverzeihliche Fehler in der Regierungsarbeit.
Was werfen Sie dem PT vor?
Er hat sich von den Volksbewegungen gelöst, die der Ursprung und die Stärke der Partei waren. Er hat sich mit den fundamentalistischen Evangelikalen verbündet und auf die alte Kumpanei- und Gefälligkeitspolitik gebaut.
Waren die Programme des PT also bloss Symbolpolitik, wie die Anhänger Bolsonaros behaupten?
Mit Symbolpolitik hätte der Hunger nicht besiegt werden können. Zwischen 2002 und 2013 ist die Zahl der an chronischer Unterernährung leidenden Menschen um 82 Prozent gesunken. Rund 30 Millionen Brasilianer haben die extreme Armut hinter sich gelassen. Dies ist eine unbestreitbare Leistung der Lula-Regierung, die vor allem durch Familienbeihilfen erreicht wurde. Dazu kamen die Rassen- und Sozialquoten, die Schwarzen, Indios und auch einkommensschwachen Weissen den Zugang zur Hochschulbildung ermöglichten, von der sie zuvor ausgeschlossen waren. Auch wurden die Rechte der LGBT-Minderheiten und der Frauen ausgeweitet, ebenso die Pressefreiheit oder die Handlungsfreiheit der Justiz. Das war keine Symbolpolitik. Es sind ganz konkrete Errungenschaften der Regierungen Lula und Dilma Rousseff.
«Wir sehen keine Schwarzen und Braune als Ärzte, Ingenieure, Offiziere, Journalisten, Schriftsteller, Zahnärzte, Politiker.»
Bolsonaro will die meisten dieser Programme streichen. Anhänger des neuen Präsidenten argumentieren, die Privilegien für Schwarze oder Indios hätten neues Unrecht geschaffen.Dieses Argument ist das Argument unserer weissen Elite, die historische Privilegien verteidigt. In 15 Jahren stieg der Anteil der Schwarzen und gemischtrassigen Hochschulabsolventen von 2,2 auf 9,3 Prozent. Und doch bleibt Brasilien ein rassistisches Land: Wir sehen keine Schwarzen und Braune als Ärzte, Ingenieure, Offiziere, Journalisten, Schriftsteller, Zahnärzte, Politiker. Obwohl Braun und Schwarz etwa 55 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachen. Was die Indios betrifft, so sind sie leider nach wie vor der anfälligste Teil der Bevölkerung, und die Regierung von Jair Bolsonaro wird die Situation wohl verschlimmern. Er hat erklärt, dass er die geltende indigene Politik, die zwar unzureichend war, aber einige Grundrechte für ihre Existenz garantiert hatte, vollständig ändern wird. Bolsonaro beabsichtigt, indigene Reservate – die er menschliche Zoos nennt – zu reduzieren oder zu beseitigen, um das Agrarbusiness auszubauen.
Brasilien schien bis vor kurzem keine über Massen politisierte Gesellschaft zu sein. Jahrzehntelang gab es kaum Demonstrationen. Heute stehen sich zwei unversöhnliche politische Lager gegenüber. Warum diese politische Radikalisierung?
Die gab es schon zuvor, bloss wurde sie nicht sichtbar. Die Geschichte Brasiliens ist die Geschichte diktatorischer Regime, die mit sehr wenigen Perioden Demokratie durchsetzt war. Die Epoche, in der wir jetzt leben, ist die längste in unserer gesamten Geschichte der Demokratie. Und sie dauert erst 33 Jahre. Nun haben wir eine Figur zum Präsidenten gemacht, die mit einer Rechtfertigungsrede auf die Militärdiktatur gewählt wurde. Mit anderen Worten: Wenn politische oder ideologische Differenzen früher nicht offenbar wurden, dann nur deshalb, weil es immer eine gewaltige Unterdrückung der aufbegehrenden Kräfte gegeben hat.
Sie fokussieren in Ihren Büchern vornehmlich auf die einfachen Arbeiter Brasiliens. Haben die auch Bolsonaro gewählt?
Aber natürlich. Die Vorstellung, dass die Armen notwendigerweise fortschrittlich sind, ist eine Vision einer Linken, die die Armen eindeutig nicht kennt. Die Armen sind pragmatisch, nicht ideologisch. Während die PT-Regierung das Leben der ärmsten Menschen zu verbessern schien, gelang es ihr, an der Macht zu bleiben. Als die Krise kam und sich diese Bevölkerung in ihren kleinen wirtschaftlichen Eroberungen bedroht fühlte, fiel sie auf die andere Seite.
Bilder: Brasilien wählt neuen Präsidenten
Er wird neuer Präsident: Der ultarechte Jair Bolsonaro kommt in der Stichwahl auf 55,5 Prozent.Bild: AP
Die Stimmung in Brasilien ist angespannt. Kaum jemand traut sich mehr, über Politik zu reden. Viele der feurigen Posts in den sozialen Medien wurden gelöscht. Vor allem den Gegnern von Bolsonaro ist es mulmig zumute. Ist die Angst berechtigt?
Die Angst ist nicht übertrieben. Immerhin hat Bolsonaro ziemlich beängstigende Gedanken geäussert. Zum Beispiel, dass sich in Brasilien erst mit einem Bürgerkrieg etwas ändern werde und das getan werden müsse, was das Militärregime nicht getan habe: nämlich etwa 30'000 Kriminelle zu töten. Er sei für die Folter und die Todesstrafe, und er wolle die roten Aussenseiter aus der Heimat verbannen.
Dann teilen Sie die Hoffnung vieler Brasilianer nicht, die Ära Bolsonaro könnte nur halb so schlimm werden, wie alle befürchten?
Definitiv nicht.
Besonders Kulturschaffende sehen kaum mehr eine Zukunft im Lande. Viele wollen auswandern. Werden Sie im Land bleiben?
Natürlich. Brasilien ist mein Land, und ich werde für die Ideen kämpfen, an die ich glaube, die von Chancengleichheit, Gerechtigkeit, Würde und Toleranz geprägt sind. Und das kann ich nur, wenn ich hier bin. Das ist auch mein Land, und ich werde es in keiner Weise aufgeben.
«Brasilien hat eine der schlechtesten Leseraten der Welt. 44 Prozent der Bevölkerung lesen nicht.»
Was kann die Literatur ausrichten in einem Land, in welchem kaum Bücher gekauft werden?Es ist leider wahr. Brasilien hat eine der schlechtesten Leseraten der Welt. 44 Prozent der Bevölkerung lesen nicht. Auf meinen Streifzügen durch Brasilien bin ich trotzdem vielen Menschen begegnet, deren Leben sich durch den Kontakt mit der Literatur völlig verändert haben. Sagen wirs so: Da Brasilien aus potenziellen Lesern besteht, kann die Literatur die Gesellschaft verändern.
Während der Militärdiktatur spielte die Musik eine grosse Rolle. Aus dem Exil heraus spendeten Leute wie Tom Zé, Chico Buarque, Gilberto Gil, Gal Costa oder Caetano Veloso musikalischen Trost oder leisteten geistigen Widerstand. Heute haben viele Musiker Angst, sich zu exponieren.
Das ist traurig, aber wahr. Viele Künstler – natürlich nicht alle – waren Feiglinge, die es vorzogen, sich während des Wahlkampfs hinter einer Neutralität zu verstecken, die es nicht gibt. Sie befürchten nicht nur, Teile ihres Publikums zu verlieren, sondern auch die öffentliche Förderung. Das geschieht nicht nur im Bereich der Musik, sondern in allen Kunstsparten. Es ist ein Jammer.
Im Banner Brasiliens steht «Ordem e Progresso» – Ordnung und Fortschritt. Was würden Sie nach dieser Abstimmung in die Flagge schreiben?
Ich mag die brasilianische Flagge, so wie sie ist. Für mich bedeutet der Slogan Rechtsordnung und sozialen Fortschritt. Ich kämpfe dafür, dass diese Ordnung und dieser Fortschritt endlich Realität werden.
«Tieftraurig» über die Entwicklungen in seinem Land: Luiz Ruffato in seinem Appartement in Sao Paolo. Foto: Getty
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Brasilien hat einen Präsidenten gewählt, der seine politischen Gegner aus dem Land verbannen will, der die Militärdiktatur verherrlicht und sich mehrfach rassistisch und homophob geäussert hat. Sind Sie überrascht?
Es war schon länger zu beobachten, dass immer mehr Brasilianer empfänglich wurden für autoritäre Predigten, wie sie an Veranstaltungen von Jair Bolsonaro zu hören waren. Überrascht bin ich also nicht. Bloss traurig. Tieftraurig.
Stefan Zweig, der vor den Nazis nach Brasilien geflohen ist, hat ein Bild des Landes gezeichnet, in dem alle Ethnien friedlich zusammenleben. Das hat sich in den Köpfen der Europäer festgesetzt. Was ist mit diesem friedliebenden Land passiert?
Es hat nie existiert! Dies ist eine romantische Vision. Wie kann man sich Frieden und Gleichberechtigung zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Land vorstellen, das mit dem Völkermord an der indigenen Bevölkerung und mit einer brutalen Sklaverei von Schwarzafrikanern geboren wurde. Brasilien war schon immer ein ungleiches, rassistisches und klassizistisches Land.
Die Arbeiterpartei PT, der die einstigen Präsidenten Lula da Silva und Dilma Rousseff angehören, wollte das Land einen. Nun hinterlässt die Partei eine fundamental gespaltene Gesellschaft. Eine Ironie der Geschichte?
Die Verantwortung für die Spaltung der brasilianischen Gesellschaft liegt nicht beim PT. Ich glaube nicht einmal, dass es die Partei so sehr darauf anlegte, die Vereinigung der brasilianischen Gesellschaft zu fördern. Diese ist und war immer in verschiedene Stände unterteilt. Es hat noch nie ein Projekt gegeben, das Land Brasilien in eine Nation Brasilien zu verwandeln. Die Reichen und Mächtigen haben die Bevölkerung immer als ein blosses Behältnis für billige Arbeitskräfte betrachtet, das dem Erreichen ihrer Ziele diente. Deshalb halten sie sogar die Armut unter Kontrolle, denn in Brasilien ist Armut eine Form der Dominanz. Was im letzten Wahlkampf geschah, war nur eine Zuspitzung des Klassenkampfs: Die Bevölkerung der reichen weissen Brasilianer zeigte ihre tiefe Verachtung gegenüber armen Weissen, Schwarzen und Indios. Das ist nichts Neues, doch erst jetzt haben sie die heuchlerische Maskerade beiseitegelegt.
Video: Rechtspopulist Jair Bolsonaro zum Präsidenten gewählt