Warum man Andrić, Crnjanski, Kiš und viele andere lesen sollte
Selbst belesene Menschen in Deutschland wissen oft verblüffend wenig über die Literaturen des ehemaligen Jugoslawien, so auch über die serbische. Der Name des Literaturpreisträgers Ivo Andrić ist ihnen halbwegs geläufig, aber geht es um konkrete Bücher und Lektüreerlebnisse, werden sie verlegen. Ich wundere mich: Warum kennt nicht jedermann „Die Brücke über die Drina“, aus der man mehr über Bosnien erfahren kann als aus allen während des unseligen Balkankriegs erschienenen Zeitungsartikeln zusammengenommen? Und nicht den abgründigsten Roman über den Geiz, „Das Fräulein“? Und nicht den Geschichtenerzähler Andrić, der in „Buffet Titanic“ die Psyche von Opfern und Tätern unnachahmlich ausgeleuchtet hat? Andrić war ein Chronist der Vergangenheit und der Gegenwart – dank seines ausgewogenen Urteils, seiner historischen Kenntnisse, seiner stoizistischen Denkweise und seiner glasklaren Sprache. Keines seiner Werke wirkt veraltet, denn alle sprechen sie in zeitloser Form von menschlichen Universalien.
Miloš Crnjanski, der andere Klassiker der serbischen Moderne, erschliesst sich auf andere Weise. Ich denke vor allem an das „Tagebuch über Čarnojević“ (1921), dieses subtile lyrische Psychogramm eines Kriegsheimkehreres, das sich wie ein Poem in Prosa liest. Da ist die Rede von den Kämpfen an der galizischen Front, vom Sterben in den Wäldern, von Verzweiflung, innerer Leere, Hass, aber auch von Landschaften und Liebschaften, von Träumen und Erinnerungen und von der Hoffnung auf „ein besseres Jahrhundert“. Und dies alles in einer rhythmisch-melodiösen Sprache von sarkastischer Trauer und lapidarer Schönheit, deren Sog man sich nicht entziehen kann. Derselbe Crnjanski hat Jahre später das grosse historische Romanepos über die serbische Diaspora, „Seobe“ (Wanderungen), geschrieben, ein staunenswertes Buch von barocker Fülle, dessen epischer Atem an Tolstojs „Krieg und Frieden“ erinnert, während sein melancholisches Leitmotiv – „Das Wandern hat kein Ende. Wie das Leben“ – nur allzu modern klingt.
Eine besondere Erfahrung verbindet mich mit Danilo Kiš, den ich unverhohlen zu meinen Lieblingsschriftstellern zähle. Ich habe mehrere Bücher von Kiš übersetzt, darunter „Sanduhr“ und „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“, und diesem Umstand verdanke ich nicht nur einen profunden Einblick in Kiš´ einzigartiges literarisches Universum, sondern auch die Bekanntschaft mit ihm als Menschen. Ohne Sentimentalität: mit Kiš führe ich einen ständigen Dialog, seine Werke begleiten mich auf Schritt und Tritt. Mit Eduard Sam hat er eine der tragischsten und skurrilsten Vaterfiguren des 20. Jahrhunderts geschaffen – als Hommage an seinen eigenen, in Auschwitz ermordeten Vater, während die Helden seines Romans „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ dem Stalinismus zum Opfer fallen. Kiš hat die totalitaristischen Ideologien seines Jahrhunderts mit „ironischem Lyrismus“ entlarvt, er hat sich in Essays und Interviews aber nicht weniger schonungslos über die Politik seines Landes geäussert, indem er schon Mitte der siebziger Jahre vor nationalistischen Exzessen warnte. Meines Erachtens gehört Kiš in jedes Schulbuch, auch wenn er dem Leser viel abverlangt, denn sein zwischen Dokument und Fiktion oszillierendes Werk sperrt sich gegen jede vereinnahmende Lektüre.
Ich kann nicht umhin, neben Danilo Kiš auch Aleksandar Tišma zu erwähnen, den Verfasser gnadenlos-grossartiger Romane wie „Das Buch Blam“ und „Der Gebrauch des Menschen“ oder des Erzählungsbandes „Schule der Gottlosigkeit“. Dank Tišma ist Novi Sad in die Weltliteratur eingegangen, als Schauplatz und Paradigma von Gewalt, wie sie in dieser multiethnischen Stadt während des Zweiten Weltkriegs Deutsche und Ungarn an Juden und Serben ausübten. Tišma durchleuchtet Menschen und Schicksale mit nüchternem Blick, der aus Tätern immer auch Opfer und aus Opfern Täter macht. Schwarzweissmalerei gibt es bei ihm nicht, ebenso wenig wie Urteile und Verurteilungen. Dafür Szenen, die einem für immer im Gedächtnis bleiben: Als im „Buch Blam“ die Deportiertenkolonne von der Synagoge Richtung Bahnhof zieht, stürmen plötzlich Hunde herbei, die ihre Besitzer wiedergefunden hatten. Sie folgen ihren Herren hartnäckig bis zum Bahnhof, „dann blieben sie allein zwischen den Schienen.“ „Sie sahen verwundert auf die Felder und Gräben, zwischen die sie geraten waren, kühlten ihre langen, roten, heraushängenden Zungen und trollten sich einer nach dem anderen Richtung Stadt.“
David Albahari ist auf seine Weise ein Meister der Lakonie, auch wenn seine Bücher, die ohne einen einzigen Absatz auskommen, einem anderen inneren Rhythmus gehorchen. Ich bewundere seine Romane „Mutterland“, „Tagelanger Schneefall“, „Götz und Meyer“, bewundere seine Erzählungen und Prosaminiaturen mit ihrer messerscharfen Sprache und ironischen Paradoxalität. Albahari verbindet auf unnachahmliche Weise historisch gewichtige Stoffe mit Alltäglichem, Ethos mit (an Thomas Bernhard geschultem) Formbewusstsein. Man liest und ist zutiefst berührt.
Was aber wäre die serbische Literatur ohne Bora Ćosićs Romane, insbesondere „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“. Ein hinreissend komisches Meisterwerk, das von tiefer Melancholie grundiert ist. Denn die Familiengeschichte wie die sogenannt grosse Geschichte offenbaren in den Augen des Autors vor allem eines: Absurdität. Hinter allen Dingen und Maskeraden lauert Leere, das hat Ćosić von seinem Lehrmeister Beckett gelernt. Und davon handeln – in immer neuen Variationen – seine Bücher: „Das Land Null“, „Zollerklärung“, „Die Reise nach Alaska“, um einige neuere Titel zu nennen. Davon handeln auch Ćosićs Essays, die trotz ihrer Luzidität nie resignativ-defätistisch sind und ausgestattet mit dem Singsang seiner Sprache, dem Ćosić-Sound.
Damit komme ich nur an ein vorläufiges Ende, denn ich könnte zahlreiche weitere Namen nennen: Dragan Velikić, Dragan Aleksić, Ana Ristović, Biljana Srbljanović. Es gibt viel zu entdecken in der serbischen Literatur, ist man nur bereit, sich aufs Lesen einzulassen.
Ilma Rakusa
Warum man Andri
Selbst belesene Menschen in Deutschland wissen oft verblüffend wenig über die Literaturen des ehemaligen Jugoslawien, so auch über die serbische. Der Name des Literaturpreisträgers Ivo Andrić ist ihnen halbwegs geläufig, aber geht es um konkrete Bücher und Lektüreerlebnisse, werden sie verlegen. Ich wundere mich: Warum kennt nicht jedermann „Die Brücke über die Drina“, aus der man mehr über Bosnien erfahren kann als aus allen während des unseligen Balkankriegs erschienenen Zeitungsartikeln zusammengenommen? Und nicht den abgründigsten Roman über den Geiz, „Das Fräulein“? Und nicht den Geschichtenerzähler Andrić, der in „Buffet Titanic“ die Psyche von Opfern und Tätern unnachahmlich ausgeleuchtet hat? Andrić war ein Chronist der Vergangenheit und der Gegenwart – dank seines ausgewogenen Urteils, seiner historischen Kenntnisse, seiner stoizistischen Denkweise und seiner glasklaren Sprache. Keines seiner Werke wirkt veraltet, denn alle sprechen sie in zeitloser Form von menschlichen Universalien.
Miloš Crnjanski, der andere Klassiker der serbischen Moderne, erschliesst sich auf andere Weise. Ich denke vor allem an das „Tagebuch über Čarnojević“ (1921), dieses subtile lyrische Psychogramm eines Kriegsheimkehreres, das sich wie ein Poem in Prosa liest. Da ist die Rede von den Kämpfen an der galizischen Front, vom Sterben in den Wäldern, von Verzweiflung, innerer Leere, Hass, aber auch von Landschaften und Liebschaften, von Träumen und Erinnerungen und von der Hoffnung auf „ein besseres Jahrhundert“. Und dies alles in einer rhythmisch-melodiösen Sprache von sarkastischer Trauer und lapidarer Schönheit, deren Sog man sich nicht entziehen kann. Derselbe Crnjanski hat Jahre später das grosse historische Romanepos über die serbische Diaspora, „Seobe“ (Wanderungen), geschrieben, ein staunenswertes Buch von barocker Fülle, dessen epischer Atem an Tolstojs „Krieg und Frieden“ erinnert, während sein melancholisches Leitmotiv – „Das Wandern hat kein Ende. Wie das Leben“ – nur allzu modern klingt.
Eine besondere Erfahrung verbindet mich mit Danilo Kiš, den ich unverhohlen zu meinen Lieblingsschriftstellern zähle. Ich habe mehrere Bücher von Kiš übersetzt, darunter „Sanduhr“ und „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“, und diesem Umstand verdanke ich nicht nur einen profunden Einblick in Kiš´ einzigartiges literarisches Universum, sondern auch die Bekanntschaft mit ihm als Menschen. Ohne Sentimentalität: mit Kiš führe ich einen ständigen Dialog, seine Werke begleiten mich auf Schritt und Tritt. Mit Eduard Sam hat er eine der tragischsten und skurrilsten Vaterfiguren des 20. Jahrhunderts geschaffen – als Hommage an seinen eigenen, in Auschwitz ermordeten Vater, während die Helden seines Romans „Ein Grabmal für Boris Dawidowitsch“ dem Stalinismus zum Opfer fallen. Kiš hat die totalitaristischen Ideologien seines Jahrhunderts mit „ironischem Lyrismus“ entlarvt, er hat sich in Essays und Interviews aber nicht weniger schonungslos über die Politik seines Landes geäussert, indem er schon Mitte der siebziger Jahre vor nationalistischen Exzessen warnte. Meines Erachtens gehört Kiš in jedes Schulbuch, auch wenn er dem Leser viel abverlangt, denn sein zwischen Dokument und Fiktion oszillierendes Werk sperrt sich gegen jede vereinnahmende Lektüre.
Ich kann nicht umhin, neben Danilo Kiš auch Aleksandar Tišma zu erwähnen, den Verfasser gnadenlos-grossartiger Romane wie „Das Buch Blam“ und „Der Gebrauch des Menschen“ oder des Erzählungsbandes „Schule der Gottlosigkeit“. Dank Tišma ist Novi Sad in die Weltliteratur eingegangen, als Schauplatz und Paradigma von Gewalt, wie sie in dieser multiethnischen Stadt während des Zweiten Weltkriegs Deutsche und Ungarn an Juden und Serben ausübten. Tišma durchleuchtet Menschen und Schicksale mit nüchternem Blick, der aus Tätern immer auch Opfer und aus Opfern Täter macht. Schwarzweissmalerei gibt es bei ihm nicht, ebenso wenig wie Urteile und Verurteilungen. Dafür Szenen, die einem für immer im Gedächtnis bleiben: Als im „Buch Blam“ die Deportiertenkolonne von der Synagoge Richtung Bahnhof zieht, stürmen plötzlich Hunde herbei, die ihre Besitzer wiedergefunden hatten. Sie folgen ihren Herren hartnäckig bis zum Bahnhof, „dann blieben sie allein zwischen den Schienen.“ „Sie sahen verwundert auf die Felder und Gräben, zwischen die sie geraten waren, kühlten ihre langen, roten, heraushängenden Zungen und trollten sich einer nach dem anderen Richtung Stadt.“
David Albahari ist auf seine Weise ein Meister der Lakonie, auch wenn seine Bücher, die ohne einen einzigen Absatz auskommen, einem anderen inneren Rhythmus gehorchen. Ich bewundere seine Romane „Mutterland“, „Tagelanger Schneefall“, „Götz und Meyer“, bewundere seine Erzählungen und Prosaminiaturen mit ihrer messerscharfen Sprache und ironischen Paradoxalität. Albahari verbindet auf unnachahmliche Weise historisch gewichtige Stoffe mit Alltäglichem, Ethos mit (an Thomas Bernhard geschultem) Formbewusstsein. Man liest und ist zutiefst berührt.
Was aber wäre die serbische Literatur ohne Bora Ćosićs Romane, insbesondere „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“. Ein hinreissend komisches Meisterwerk, das von tiefer Melancholie grundiert ist. Denn die Familiengeschichte wie die sogenannt grosse Geschichte offenbaren in den Augen des Autors vor allem eines: Absurdität. Hinter allen Dingen und Maskeraden lauert Leere, das hat Ćosić von seinem Lehrmeister Beckett gelernt. Und davon handeln – in immer neuen Variationen – seine Bücher: „Das Land Null“, „Zollerklärung“, „Die Reise nach Alaska“, um einige neuere Titel zu nennen. Davon handeln auch Ćosićs Essays, die trotz ihrer Luzidität nie resignativ-defätistisch sind und ausgestattet mit dem Singsang seiner Sprache, dem Ćosić-Sound.
Damit komme ich nur an ein vorläufiges Ende, denn ich könnte zahlreiche weitere Namen nennen: Dragan Velikić, Dragan Aleksić, Ana Ristović, Biljana Srbljanović. Es gibt viel zu entdecken in der serbischen Literatur, ist man nur bereit, sich aufs Lesen einzulassen.
Ilma Rakusa
Warum man Andri