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Christlich-Sozial

Ivo2

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Croatia
Lang, aber unbedingt lesenswert:

Dr. Florian Wenninger (Historiker, Inst. f. Zeitgeschichte, Uni Wien) über die "christlich-sozialen Wurzeln" der ÖVP:

»Eines seiner erhellendsten und meistbeachten Konzepte hat der Historiker Eric Hobsbawm eher beiläufig entworfen: Das Phänomen der "erfundenen Traditionen".

Ein Thread zu einem Parade-Exempel:
Die Anrufung der "christlich-sozialen Wurzeln" der ÖVP.
Hobsbawms These: politische Gruppierungen entwerfen Bilder ihrer eigenen Vergangenheit. Auf diese berufen sie sich dann, um bestimmte Werthaltungen diskursiv durchzusetzen.
Der Trick: indem man das (zuvor erfundene) historische Erbe verteidigt, erscheint man selbst als prinzipienfest.
Gegenläufige Positionen erscheinen dagegen als unvereinbar mit der althergebrachten - und daher "wahren" - Natur der Gruppe. Man selbst wird also zum Bannerträger einer historischen Mission, die Widersacher zu Abweichlern u Wendehälsen, die das Wertefundament mit Füßen treten.
Bewusst oder nicht geschieht genau das in- und außerhalb der ÖVP, wenn sich Menschen in Abgrenzung zum Kurz'schen Kurs auf eine Dichotomie berufen, der schlicht die historische Basis fehlt: die [wertgebundenen] "Christlichsozialen" versus die [prinzipienlosen] Türkisen.
Die Anrufung des "christlich-sozialen Erbes" legt nahe, dass die ÖVP einmal ideologisch im Christentum gewurzelt habe. Unterstellt wird so meist eine solidarische, egalitäre Urprägung, in der Nächstenliebe oberste Maxime oder doch zumindest von Belang gewesen sei.
Mit der geschichtlichen Wirklichkeit der von 1893/95 bis 1934 bestehenden christlich-sozialen Partei hat das praktisch nichts zu tun. Schon das Adjektiv "christlich" im Parteinamen war ein antisemitisches Schlagwort, eine Abgrenzung zum vorgeblich "verjudeten" Liberalismus.
Ähnlich verhielt es sich mit dem Prädikat "sozial". Die historischen Christlichsozialen waren eine Partei des Gewerbes, der besitzenden Bauern, der Zinshausbesitzer und Privatiers. Die Gründung von christlichen Arbeiterorganisationen stieß parteiintern auf heftigste Gegenwehr.
Die katholischen Arbeitervereine wurden schließlich durch die wohlhabenderen Einflussgruppen in der Partei geduldet, weil sich Ende des 19. Jahrhunderts abzuzeichnen begann, dass sich die Einführung eines allgemeinen Wahlrechtes langfristig nicht verhindern lassen würde.
Um die Jahrhundertwende begannen Rechtsgruppierungen allgemein verstärkt damit, sich selbst als "sozial" anzupreisen. Damit wollte man sich dem Heer der Habenichtse als politische Repräsentanz empfehlen. Am tatsächlich verfolgten Kurs änderte das freilich nichts.
Die Christlichsozialen waren hier keine Ausnahme: ihr Name war letztlich gezielte Irreführung. Realiter vertraten sie weiterhin konsequent die materiellen Interessen ihrer (klein)bürgerlichen und bäuerlichen Trägergruppen. Politik wurde nicht für, sondern gegen Arme gemacht.
Um die Arbeiterschaft, der man keine materiellen Angebote machen wollte, trotzdem anzusprechen, war die christlich-soziale Wahlwerbung vor allem negativ ausgerichtet. Im Kern ging es meist um die Bedrohung der abendländischen Zivilisation durch "Judentum" und "Marxismus".
Dabei waren weder "Judentum" noch "Marxismus" klar umrissene, sondern vielmehr bedarfsorientierte Kategorien: "Wer a Jud is bestimm i" (Lueger). Wollte man sich mit jemandem handelseins werden, ignorierte man großzügig dessen allfälligen jüdischen Hintergrund.
Ging es hingegen darum, einen Gegner zu denunzieren oder jemanden öffentlich zum Abschuss frei zu geben, wurde dessen jüdische Herkunft hervorgekramt und öffentlich gegen ihn gewendet. "Marxismus" wiederum war alles, was nach konkreten Verbesserungen für die Armen roch.
Diese Einordnung soll nicht dazu dienen, Menschen ihr ehrliches Bemühen abzusprechen, die ÖVP sozialer, weltoffener oder zumindest weniger xenophob zu machen. Nur: historisch betrachtet sind nicht die Türkisen, sondern sie ein Bruch mit der Tradition der Partei.«
 
Interessant!

Apropos irreführende Parteinamen:
In Russland gibt es eine "Liberaldemokratische Partei Russlands".
Bloß hat die absolut nichts mit der liberalen Demokratie gemeinsam.

Schon irre, wenn man Parteinamen wählt, welche dem parteilichem Inhalt völlig widersprechen. Das ist schäbig und zeugt von mangelndem Intellekt.
 
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