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Taudan
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Am falschen Datentropf
Die neue Gesundheitskarte kündigt an, wie bald sich die Ideale einer analogen Privatsphäre in der Digitalsphäre in Luft auflösen. Auf in die Ära der Cybermedizin - zum Wohle des Bürgers.
Von Joachim Müller-Jung
Wir machen uns immer noch kein Bild, mit welcher Geschwindigkeit sich die vielfach hochgehaltenen Ideale einer analogen Privatsphäre in der vollvernetzten Digitalsphäre in Luft auflösen. Die Internetwirtschaft, Facebook vorne dran, gilt da derzeit als die größte Bedrohung. In Wirklichkeit ist sie als kommerzieller Treiber, als hyperaktiver Straßenbauer im Datendschungel zwar ein entscheidender Faktor, aber eben nur einer. Denn es gibt daneben Vernetzungsoffensiven, die in ihrer Dimension und ihrer Zwangsläufigkeit völlig unterschätzt und deshalb automatisch aus dem Blick geraten.
Das Symbol einer solchen Offensive ist die jetzt von den Kassen versendete elektronische Gesundheitskarte. Nennen wir das Gesamtphänomen Cybermedizin oder, wie ihre Protagonisten, "eHealth". Es bringt in den Wettlauf um Privatdaten ein Motiv hinein, das sich vom kommerziellen Massenkonsum Facebooks fundamental unterscheidet. Man kann es sich bei ihm nämlich gar nicht mehr leisten, ganz auf die Datenschluckspechte zu verzichten. Allein um des eigenen Wohlergehens willen, ja, unter Umständen sogar um des schieren Überlebens willen wird es für immer mehr Menschen quasi zum Gebot, die Privatheit bis zu einem gewissen Grad aufzugeben. Datenaustausch wird plötzlich zur medizinischen Chance und Datenschutz zum Risiko.
Die Gesundheitskarte ist offline - noch!
Zugegeben: So weit geht es mit der neuen Gesundheitskarte erst einmal noch nicht. Außer Name, Adresse, Geburtsdatum und neuerdings Passfoto ist da nicht viel drauf. Eingebaut ist allerdings ein Mikrochip, der den Schritt von der Offline- zur Onlinewelt ebnen soll - und die Vernetzung von siebzig Millionen Versicherten mit Arzt, Therapeuten, Kliniken, Labors, Kassen, ja, der Gesundheitswirtschaft allgemein auch tatsächlich möglich machen dürfte. Fürs Erste werden darauf Notfalldatensätze abgelegt, etwa über Allergierisiken oder lebensrettende Arzneien, auch die Organspendebereitschaft.
Von dem Chip bis zu den zentralisierten "Personalized Health Records", personalisierten Gesundheitsdatenpools, die künftig immer öfter auch Genominformationen enthalten werden, ist es dann nicht mehr weit. Bald werden wir elektronische Rezepte erhalten, Wirkstoffe werden auf dem Chip gespeichert, der behandelnde Arzt checkt online die Verträglichkeitsdaten und passt seine Verschreibung an - zum Wohl des Patienten. Aber auch damit ist nur ansatzweise skizziert, was der personalisierten Cybermedizin fast zwangsläufig zum Durchbruch verhelfen dürfte. Gerne zitiert: Schwerkranke Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz, Todeskandidaten, hat man mit mobilen Überwachungsgeräten und Handyverbindungen zu Kliniken ausgerüstet und, verglichen mit Kontrollgruppen, damit ein Drittel vorzeitiger Todesfälle verhindert. Zum Preis von angeblich neunhundert Euro im Jahr, was die Kosten für Klinikaufenthalte massiv unterbietet.
Wer bekommt die Hoheit über unsere Gesundheitsdaten?
Auf solche Pilotprojekte baut die Gesundheitsdatenindustrie ihre Pläne, nein, sie rüstet auf. Microsoft etwa, bisher völlig neutral auf dem Sektor, hat sich Deutschland als "Chancenrepublik" auserkoren und eine Ausschreibung für eHealth-Projekte gestartet. Roland Trill, einziger deutsche eHealth-Professor an der Fachhochschule Flensburg, hält die medizinische Versorgung einer zunehmend kränkelnden, alternden und auf dem Land verwaisten Bevölkerung generell nur mit Telemonitoring und Telemedizin für möglich. Um die dreißig Prozent wächst die Zahl chronisch Kranker jährlich, jeden Tag kommen eintausend Diabetiker dazu, sieben bis zehn Millionen sind es schon heute. Sie sind die Kunden der Cybermedizin.
Noch ist die Vernetzung in keinem Land geschafft, aber überall findet man Keimzellen dafür: In Europa sind 850 Cybermedizin-Firmen bekannt, 25 volldigitalisierte Kliniken wie das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf arbeiten an der Totalvernetzung mit Patienten und umliegenden Arztpraxen, mehr als einhundert Unternehmen bieten schon mobile Telemedizindienste an - etwa ein fernkontrolliertes Schwangeren-CTG zur Überwachung von Kinderherztönen. Die Weltgesundheitsorganisation hat ermittelt, dass schon vier von fünf unter den wohlhabendsten 112 Ländern mindestens einen mobilen Online-Gesundheitsdienst anbieten. Deutschland liegt auf Platz achtzehn, gleichauf mit Bulgarien. Der Datenhunger der Online-Gesundheitsdienste wächst enorm. Und er wächst mit der Individualisierung der Medizin immer schneller. Wer maßgeschneidert gesund bleiben will, der muss, so lautet das neue Paradigma, bereit sein, auch sensible persönliche Daten - wenn nötig in Echtzeit - austauschen, auswerten und speichern zu lassen.
Wenn aber, wie Roland Trill fordert, jeder sein "eigener Gesundheitsmanager" werden darf, wer schützt uns dann vor dem Missbrauch? In Estland gibt es ein Gesetz, das jeden Bürger zum Herrn über seine eigenen Daten erklärt. In Deutschland ist dagegen auch nach acht Jahren Entwicklungsstreit um eine vergleichsweise primitive Gesundheitskarte noch niemandem klar, wo und welche Daten gespeichert werden, wohin sie transferiert und wie sie genutzt werden. Genügt es nicht, dass wir krank werden? Müssen wir in solchen Zwangslagen auch noch der Hoheit unserer eigenen Gesundheitsdaten beraubt werden?
Die neue Gesundheitskarte kündigt an, wie bald sich die Ideale einer analogen Privatsphäre in der Digitalsphäre in Luft auflösen. Auf in die Ära der Cybermedizin - zum Wohle des Bürgers.
Von Joachim Müller-Jung
Wir machen uns immer noch kein Bild, mit welcher Geschwindigkeit sich die vielfach hochgehaltenen Ideale einer analogen Privatsphäre in der vollvernetzten Digitalsphäre in Luft auflösen. Die Internetwirtschaft, Facebook vorne dran, gilt da derzeit als die größte Bedrohung. In Wirklichkeit ist sie als kommerzieller Treiber, als hyperaktiver Straßenbauer im Datendschungel zwar ein entscheidender Faktor, aber eben nur einer. Denn es gibt daneben Vernetzungsoffensiven, die in ihrer Dimension und ihrer Zwangsläufigkeit völlig unterschätzt und deshalb automatisch aus dem Blick geraten.
Das Symbol einer solchen Offensive ist die jetzt von den Kassen versendete elektronische Gesundheitskarte. Nennen wir das Gesamtphänomen Cybermedizin oder, wie ihre Protagonisten, "eHealth". Es bringt in den Wettlauf um Privatdaten ein Motiv hinein, das sich vom kommerziellen Massenkonsum Facebooks fundamental unterscheidet. Man kann es sich bei ihm nämlich gar nicht mehr leisten, ganz auf die Datenschluckspechte zu verzichten. Allein um des eigenen Wohlergehens willen, ja, unter Umständen sogar um des schieren Überlebens willen wird es für immer mehr Menschen quasi zum Gebot, die Privatheit bis zu einem gewissen Grad aufzugeben. Datenaustausch wird plötzlich zur medizinischen Chance und Datenschutz zum Risiko.
Die Gesundheitskarte ist offline - noch!
Zugegeben: So weit geht es mit der neuen Gesundheitskarte erst einmal noch nicht. Außer Name, Adresse, Geburtsdatum und neuerdings Passfoto ist da nicht viel drauf. Eingebaut ist allerdings ein Mikrochip, der den Schritt von der Offline- zur Onlinewelt ebnen soll - und die Vernetzung von siebzig Millionen Versicherten mit Arzt, Therapeuten, Kliniken, Labors, Kassen, ja, der Gesundheitswirtschaft allgemein auch tatsächlich möglich machen dürfte. Fürs Erste werden darauf Notfalldatensätze abgelegt, etwa über Allergierisiken oder lebensrettende Arzneien, auch die Organspendebereitschaft.
Von dem Chip bis zu den zentralisierten "Personalized Health Records", personalisierten Gesundheitsdatenpools, die künftig immer öfter auch Genominformationen enthalten werden, ist es dann nicht mehr weit. Bald werden wir elektronische Rezepte erhalten, Wirkstoffe werden auf dem Chip gespeichert, der behandelnde Arzt checkt online die Verträglichkeitsdaten und passt seine Verschreibung an - zum Wohl des Patienten. Aber auch damit ist nur ansatzweise skizziert, was der personalisierten Cybermedizin fast zwangsläufig zum Durchbruch verhelfen dürfte. Gerne zitiert: Schwerkranke Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz, Todeskandidaten, hat man mit mobilen Überwachungsgeräten und Handyverbindungen zu Kliniken ausgerüstet und, verglichen mit Kontrollgruppen, damit ein Drittel vorzeitiger Todesfälle verhindert. Zum Preis von angeblich neunhundert Euro im Jahr, was die Kosten für Klinikaufenthalte massiv unterbietet.
Wer bekommt die Hoheit über unsere Gesundheitsdaten?
Auf solche Pilotprojekte baut die Gesundheitsdatenindustrie ihre Pläne, nein, sie rüstet auf. Microsoft etwa, bisher völlig neutral auf dem Sektor, hat sich Deutschland als "Chancenrepublik" auserkoren und eine Ausschreibung für eHealth-Projekte gestartet. Roland Trill, einziger deutsche eHealth-Professor an der Fachhochschule Flensburg, hält die medizinische Versorgung einer zunehmend kränkelnden, alternden und auf dem Land verwaisten Bevölkerung generell nur mit Telemonitoring und Telemedizin für möglich. Um die dreißig Prozent wächst die Zahl chronisch Kranker jährlich, jeden Tag kommen eintausend Diabetiker dazu, sieben bis zehn Millionen sind es schon heute. Sie sind die Kunden der Cybermedizin.
Noch ist die Vernetzung in keinem Land geschafft, aber überall findet man Keimzellen dafür: In Europa sind 850 Cybermedizin-Firmen bekannt, 25 volldigitalisierte Kliniken wie das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf arbeiten an der Totalvernetzung mit Patienten und umliegenden Arztpraxen, mehr als einhundert Unternehmen bieten schon mobile Telemedizindienste an - etwa ein fernkontrolliertes Schwangeren-CTG zur Überwachung von Kinderherztönen. Die Weltgesundheitsorganisation hat ermittelt, dass schon vier von fünf unter den wohlhabendsten 112 Ländern mindestens einen mobilen Online-Gesundheitsdienst anbieten. Deutschland liegt auf Platz achtzehn, gleichauf mit Bulgarien. Der Datenhunger der Online-Gesundheitsdienste wächst enorm. Und er wächst mit der Individualisierung der Medizin immer schneller. Wer maßgeschneidert gesund bleiben will, der muss, so lautet das neue Paradigma, bereit sein, auch sensible persönliche Daten - wenn nötig in Echtzeit - austauschen, auswerten und speichern zu lassen.
Wenn aber, wie Roland Trill fordert, jeder sein "eigener Gesundheitsmanager" werden darf, wer schützt uns dann vor dem Missbrauch? In Estland gibt es ein Gesetz, das jeden Bürger zum Herrn über seine eigenen Daten erklärt. In Deutschland ist dagegen auch nach acht Jahren Entwicklungsstreit um eine vergleichsweise primitive Gesundheitskarte noch niemandem klar, wo und welche Daten gespeichert werden, wohin sie transferiert und wie sie genutzt werden. Genügt es nicht, dass wir krank werden? Müssen wir in solchen Zwangslagen auch noch der Hoheit unserer eigenen Gesundheitsdaten beraubt werden?