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Stanislav
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Seite 64 und folgende
Wenn Du nun sagst: "Wodurch wird denn bewiesen, dass die Glückseligkeit des Menschen in der Erkenntnis Gottes steht?", so wisse: Die Glückseligkiet besteht für jedes Ding in dem, woran es seine Lust hat und worin es seine Befriedigung findet. Für jedes Ding aber bedeutet Lust das, was seiner Natur gemäss ist; das seiner Natur Gemässe aber ist das, wozu es geschaffen ist.
So besteht die Lust der Begierde in der Erfüllung ihrer Wünsche,
die Lust des Zornmutes in der Rache an den Feinden,
die Lust des Auges in schönen Gestalten,
die Lust des Ohres in lieblichen Tönen und Melodien.
Dementsprechend besteht auch die Lust des Herzens in dem, was seine besondere Eigenart ist und um derentwillen es geschaffen ist, das ist die Erkenntnis des wahren Wesens der Dinge. Denn das ist die besondere Eigenart des menschlichen Herzens, Begierde und Zornmut aber und die Wahrnehmung der sinnlichen Dinge mit den fünf Sinnen, das haben auch die Tiere.
Daher liegt in der Natur des Menschen ein Drang, nach dem, was er nicht weis, zu forschen, so lange, bis er es weiss, und an allem, was er weiss, hat er Freude und Lust und ist stolz darauf, mag es etwas noch so Geringes sein.
Wenn man z.B. einem, der das Schachspiel kennen gelernt hat, verbietet, es andere zu lehren, so wird ihn das schwer ankommen, denn die Freude daran, ein so merkwürdiges Spiel gelernt zu haben, treibt ihn an, sich damit vor den anderen zu brüsten.
Wenn nun die Lust des Herzens in der Erkenntnis der Dinge besteht, so ergibt sich weiter, dass, je grösser und edler der Gegenstand der Erkenntnis ist, um so grösser auch die Lust daran sein wird.
Jemand der die Geheimnisse des Wesirs kennt, wird darüber Freude empfinden, lernt er aber die Geheimnisse des Königs und seine Pläne bei der Verwaltung des Reiches kennen, so wird seine Freude noch grösser sein, und wer durch die Wissenschaft der Geometrie Gestalt und Masse der Himmelssphären erkennt, hat grössere Freude als der, der das Schachspiel versteht; und wiederum ist die Freude dessen, der weiss, wie man im Schachspiel die Figuren ziehen muss, grösser als die dessen, der nur die Spielregeln kennt.
So ist alles Wissen umso edler, je edler sein Gegenstand ist, und umso grösser ist die Lust daran.
Es gibt aber kein edleres Wesen als Gott, den Erhabenen, denn auf ihm beruht der Adel aller Dinge, er ist der Herr und König der ganzen Welt, und alle Wunder der Welt sind Spuren seines Wirkens. Daher gibt es keine Erkenntnis, die edler und lustvoller wäre als die Erkenntnis Gottes, und keinen Anblick der schöner wäre als der Anblick der Gottheit. Das aber ist das der Natur des Herzens Gemässe, denn das seiner Natur Gemässe ist für jedes Ding seine besondere Eigenart, um derentwillen es geschaffen ist.
Wenn aber aus einem Herzen der Trieb nach dieser Erkenntnis verschwunden ist, so gleicht es einem kranken Körper, der bei dem der Trieb nach Nahrung abgestorben ist und dem der schmutzige Lehm lieber ist als Brot. Wird er nicht geheilt, so dass die natürliche Begierde wieder in ihn zurückkehrt und jene schädliche Begierde ihn verlässt, so wird er unselig in dieser Welt und gerät ins Verderben. So ist auch der Mensch, in dessen Herz die Begierde nach anderen Dingen die Begierde nach Erkenntnis Gottes verdrängt hat, krank, und wenn sein Herz nicht geheilt wird, so wird er in jener Welt unselig werden und ins Verderben geraten.
Alle Begierden und Empfindungen und Lüste, die am Leibe hängen, hören mit dem Tode auf, die Lust der Erkenntnis aber, die ihren Sitz im Herzen hat, wird durch den Tod des Leibes noch vervielfältigt, denn das Herz geht nicht durch den Tod zugrunde, und die Erkenntnis bleibt bestehen und wird nur noch klarer, und die Lust wird noch vervielfältigt, denn all die Mühe, die die anderen Begierden ihr machten, ist dann von ihm genommen.
Die vollständige Erklärung dessen aber wird sich in dem Kapitel Von der Liebe am Schlusse dieses Buches ergeben.
Abu Hamid ibn Muhammed al-Ghasali