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EMANZIPATION Seite 62
Eine Stadt wie ein Versprechen
Sie haben hochbezahlte Jobs, sind Motoren des türkischen Wirtschaftswunders und reden wie die Frauen in "Sex and the City". In Istanbul wagt eine junge weibliche Generation den sanften Aufstand - gegen den Fundamentalismus, für eine moderne Türkei. Von Hatice Akyün und Thomas Hüetlin
Als der Morgen erwacht in den Straßen von Istanbul, klackern die Absätze der drei Frauen auf dem Asphalt. Sie sind übrig geblieben von der Nacht, das Geräusch ihrer Schuhe mischt sich mit dem ersten Ruf des Muezzin, ein knatterndes Summen, als murmelte Allah persönlich durch einen rostigen Telegrafendraht.
Das Gebet will die Ordnung wiederherstellen, die die Nacht ins Wanken gebracht hat. Wie ein großer, sauberer Teppich legt es sich über die Stadt. "Allah ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah."
Die drei Frauen haben nichts gegen Allah, aber der Allmächtige hat nicht die Macht, ihr Geplauder zu unterbrechen.
"Mädchen, ich glaube, ihr habt heute wieder übertrieben", sagt Canan Kiliç, eine der Frauen. "Die Kalorien sind Gift für die Figur." Sie unterrichtet tagsüber im besten Fitnesscenter der Stadt; die beiden anderen lachen.
"Meinst du, Männer stehen eher auf dünne Frauen?", fragt Gülay Özkan - "Oder auf Frauen mit Rundungen?", beendet Bilge Algül den Satz.
Dann steigen sie in ihre Autos, es war eine lange Nacht. Gülay, Bilge, Canan kennen sich seit drei Jahren. Sie treiben zusammen Sport, manchmal gehen sie shoppen, manchmal ziehen sie durch die Restaurants und Nachtclubs, manchmal sitzen sie zu Hause im Bett und telefonieren über Jobs und Bücher und Kinofilme und, natürlich, über Männer und warum es auch diesmal wieder nicht die große Liebe war.
In der alten Türkei, in den Dörfern Anatoliens, deren Lebensstil bis nach Ankara oder Istanbul und auch bis nach Köln, Mülheim oder München strahlt, müssten Gülay, Bilge und Canan ein anderes Leben führen, sich beschimpfen lassen, als Schlampen, als Gottlose. Aber in den besseren Vierteln Istanbuls haben sie hochbezahlte Jobs und können die ganze Nacht ausgehen, ohne dass ihnen im Dunkeln die Männer gierig hinterherzischen.
Wie kein anderes europäisches Land ist die Türkei zweigeteilt, halb europäisch, halb asiatisch, halb westlich, halb anatolisch, selbst Istanbul ist geteilt, im europäischen Teil ist das Leben so frei wie in Berlin und München, selbstverständlich viel freier als in den türkischen Bezirken deutscher Städte. Das Nachtleben in Istanbul erinnert an das New York der späten Siebziger oder das London der Achtziger. Die Sittenwächter sind verschwunden, nun regieren das Geld und
... Fortsetzung von Seite 62
der DJ die Nacht: mehr Spaß, mehr Sex, mehr Musik.
Der Abend der drei Frauen begann in einem Jazz-Club. Gülay hatte ihre beiden Freundinnen dorthin bestellt. Die Luft stand voller Rauch, und vorn auf der kleinen Bühne mühten sich drei Musiker mit ihren Improvisationen ab. Das sei Free Jazz, jubelte Gülay. Gab es früher nicht so oft. Bilge und Canan lächelten, fast so, als hätten sie plötzlich ein wenig Sehnsucht nach der Vergangenheit.
Ihre nächste Station war ein französisches Bistro namens "Flann", dort hielt die Fernsehmoderatorin einer Verkupplungsshow Hof, die Show heißt: "Darf ich Sie Mutter nennen?" Kameras liefen, ein riesiger Trubel - Zeit zu gehen.
So ging es die ganze Nacht, irgendwo rein und wieder raus, bis sie schließlich in einem Club landeten, in dem ein paar hundert Leute auf den Tischen, in den Gängen vor den Toiletten tanzten. Als sie Stunden später wieder auftauchten aus dem Untergrund von Istanbul, glänzten die Augen der Frauen wie Schokoladenpapier. "Selbst wenn du mal kein Date hast", sagt Gülay und klingt jetzt fast wie eine dieser Frauen aus "Sex and the City": "Istanbul lässt dich nie im Stich. Die Stadt ist immer dein Date."
Es gibt in Istanbul heute viele Frauen, die höchstens ein Kopftuch tragen würden, um sich vor einem Unwetter zu schützen. Die Stadt ist für Gülay und ihre Freundinnen ein Versprechen auf die türkische Moderne, ein Versprechen, das auch schon die Generation ihrer Eltern angezogen hat. "Straßenbahnen, mit denen man auf Schienen durch die Stadt fahren konnte, Sommergemüse, das man in Dosen verpackt im Winter essen konnte, Musik, die auf schwarzen Scheiben konserviert wurde, und Autos aus Amerika, so bunt wie Bonbons und bequem wie ein Diwan", beschreibt die Bestseller-Autorin Necla Kelek die Magie der Metropole zu Beginn der sechziger Jahre.
Aber es gibt immer noch die andere Türkei: Frauen, die in eine Gefängnisehe gezwungen werden, die beim geringsten Verstoß gegen die patriarchalische Ordnung von Vätern, Brüdern und Ehemännern geschlagen oder ermordet werden; Frauen, die wie Sklaven zu Hause eingesperrt einen lebenslangen Dienst als Putzfrau, Köchin und Triebabfuhrobjekt versehen müssen. Mädchen, die nicht zur Schule dürfen - 600 000 sollen es landesweit sein, die zu Hause bleiben, obwohl sie schulpflichtig sind. Frauen aus der Provinz, eingekerkert hinter einer Mauer aus islamischem Fundamentalismus, kultureller Rückständigkeit und Unsicherheit.
"Ich weiß, dass es solche Schicksale gibt, und ich finde es entsetzlich", sagt Gülay, aber sie kennt niemanden, der so lebt. Gülay und ihre Freundinnen agieren so modern und frei und emanzipiert wie Frauen in Paris oder New York. Frauen wie Gülay entscheiden über ihren Beruf, ihre Wohnung, ihre Kleider, ihr Essen, ihren Sport, ihr Auto, ihre Freunde. Und natürlich entscheiden sie darüber, wann sie Sex haben und mit wem.
Jungfräulichkeit ist ab einem gewissen Alter auch bei türkischen Frauen keine große Sache mehr. Aber im Gegensatz zum Westen ist Sex kein Dauerthema unter ihnen. Emanzipation bedeutet für die drei Frauen nicht, dass sie tabulos ständig darüber sprechen. Frauen, die das tun, werden in der Türkei "yiritk" - unverschämt, zerrissen - genannt.
In diesem Kulturstreit, der die Türkei trennt in alt und neu, in frauenfeindlich und frauenfreundlich, haben sie sich auf die fortschrittliche Seite gekämpft: dank ihrer Herkunft, dank ihrer Bildung, dank ihrer Leistung. Jeder dritte Professor, jeder dritte Arzt und jeder vierte Anwalt in der Türkei ist eine Frau, und es gibt auch mehr Frauen in Führungspositionen von Unternehmen als in Deutschland. 70 Prozent der Türkinnen mit abgeschlossenem Hochschulstudium
sind berufstätig. Aber diese Elite steht immer noch einem Heer von Menschen gegenüber, die gedemütigt, versklavt, geschlagen werden - bloß weil sie Frauen sind. Einem Geschlechterproletariat, wo auf dem Land jede Dritte nicht lesen kann oder schreiben, wo im Südosten jede zweite Ehe eine Zwangsheirat ist, wo Hunderte Frauen pro Jahr ermordet werden, weil sie angeblich die Ehre der Familie beschmutzten.
Es ist eine verhaltene Auflehnung gegen die alte Türkei, die Gülay und ihre Freundinnen durch ihren Lebensstil betreiben - kein Protest, der Transparente vor sich her trägt. Die aufgeklärt-orientalische Tradition, in der sie groß geworden sind, kennt die Familie als Ort der Geborgenheit, nicht als Terrorinstrument. Das wichtigste Wort in den weltoffenen Häusern der drei heißt Bildung: Je mehr man über die Welt weiß und gelernt hat, desto stärker wird man sein. Unabhängigkeit und Freiheit gelten nicht als Bedrohung, sondern als verlockendes Ziel.
Gülay ist 33 Jahre alt, sie arbeitet in der türkischen Zentrale des Mobiltelefonherstellers Ericsson im Stadtteil Maslak. Der Fußboden ist aus Metall, jeder ihrer Schritte klingt, als schlüge jemand mit einem Hammer auf eine leere Regentonne. An den Wänden hängen Flachbildschirme, auf denen MTV und CNN laufen, im Haus gibt es ein Fitnesscenter und eine amerikanische Sandwich-Bar. Gülay deutet aus dem Fenster auf einen grauen Glasturm, dort arbeitet Bilge bei einer Firma namens "Pharos Consulting", auch hier arbeiten fast nur türkische Männer und Frauen um die dreißig, die sich mittags Sushi auf den Schreibtisch stellen und überlegen, wie man den globalen Kapitalismus noch beschleunigen kann. Bilge plant gerade eine Marketing-Aktion für BP, bei der man einen Mercedes gewinnen kann.
Gülay trägt rote Strähnen in ihrem Haar, an den Ohren baumeln Strasssteine, sie kommt viel herum, sie ist Abteilungsleiterin bei Ericsson und verantwortlich dafür, dass das Unternehmen die Zukunft nicht verschläft. Gülays Handys sollen bald schon Herztöne zum Arzt senden oder Mahnungen der Stadtbibliothek verschicken, wenn Leihfristen überschritten sind. In den vergangenen drei Jahren wuchs die türkische Wirtschaft um sieben Prozent jährlich, es gibt Analysten, die glauben, die Türkei sei das China Europas und Frauen wie Gülay, die Ingenieurin, und Bilge, die Unternehmensberaterin, und Canan, die Fitnesstrainerin, seien Motoren dieses Wirtschaftswunders.
Gülay ist aufgewachsen in Trabzon, einer Stadt weit im Osten der Türkei am Schwarzen Meer. Sie war die Erstgeborene, sie hat zwei jüngere Schwestern und einen sehr viel jüngeren Bruder. "Meine Eltern waren stolz auf mich von Anfang an", sagt sie. Ihr Vater hat als Vertreter für Arzneimittel gearbeitet, er hat seine Töchter nie benachteiligt, und er hat Gülay gesagt, dass sie erst heiraten darf, "wenn sie einen Beruf erlernt hat". Er wollte seine Tochter nicht für ein paar tausend Euro und ein Auto an einen Ehemann verkaufen. Gülay sollte frei sein, selbständig und stark.
Bei der Abschlussprüfung ihrer Schule war sie im Fach Mathematik eine der zehn besten der Stadt, der türkische Staat gab ihr ein Stipendium. Sie ging nach Istanbul, ein bisschen mulmig war ihr, kein Gummitwist und Volleyball mehr auf der Straße, bis es dunkel wurde. Und was wusste sie schon von Jungs - ein wenig auf die Wange küssen, aber kein Liebesküssen, nicht da oben im Osten.
Die Eltern fuhren sie, in einem kleinen Auto, 18 Stunden dauerte die Reise, es war heiß, August. Im Kofferraum lag ihre Tasche: Kassetten, Bücher, Bilder ihrer Familie, Kleidungsstücke, darunter das Wichtigste: ihre Blue Jeans. Die Richtung stimmte. Der Vater hatte immer gesagt:
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Die Erstgeborene muss den Weg pflastern."
Istanbul war hart, sie war es auch. Sie studierte, an der Universität gab es keine Kopftücher, Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei, hat sie vor 80 Jahren per Gesetz verboten. Sie wurde Ingenieurin der Telekommunikation, füllte die Wissenslücken auf, war am Ende in einem Jahrgang, in dem 122 Jungs auf 18 Mädchen trafen, die Sechstbeste. Fragt man sie, was das für eine Leistung sei, sich durchzusetzen unter all den Männern, antwortet sie: "Es gibt keinen Unterschied der Geschlechter in diesem Beruf. Es kommt nur darauf an, wie klug jemand ist und wie hart zu arbeiten man gewillt ist."
Es ist Samstagmorgen in Nisantasi, dem Beverly Hills von Istanbul. Ein warmer Wind bläst vom Bosporus den Hügel hinauf und reißt an den Frisuren der Passanten. Viele halten große Tüten in der Hand, auf denen in Goldbuchstaben Gucci oder Louis Vuitton steht. Die drei Freundinnen probieren ein paar Ohrringe aus, stürmen aus dem Laden, spazieren in den nächsten. Das Ganze wirkt wie ein Spiel, sie kaufen nichts. Als sie bei Gucci vorbeigehen, kräuselt sich Gülays Nase, als ob das Luxusgeschäft schlecht röche. "Eine Gucci-Tasche", sagt sie, "stiehlt ein Stück deiner Stärke und macht dich zu einem Modeopfer."
Es war Gülays Mutter, die die Tochter ermutigte, keine Angst vor dem Fremden zu haben: vor neuen Ländern, anderen Kulturen, unterschiedlichen Blickrichtungen auf die Welt. Gülay hat dank eines Stipendiums auch in den USA studiert. In Lincoln, in Nebraska, in einer Stadt mit 250 000 Einwohnern, mitten in der Prärie. Sie flog allein, eine kleine Revolution. Ihre Freundin Bilge, die die Harvard Business School besuchte, stattete der Vater mit Geld und dazu mit einer Tante als Quartiermeisterin aus.
Die Universität gab Gülay 1500 Dollar im Monat und verlangte als Gegenleistung, dass sie zusätzlich 20 Stunden im Monat unterrichtete. Man brachte sie in einem geräumigen Haus unter, zusammen mit einem Russen und einer Amerikanerin. Sie hatte schon nach einer Woche nicht mehr das Gefühl, eine Fremde zu sein. "Man musste nicht darüber nachdenken, was einer so für Hintergedanken hat. Die Leute meinten, was sie sagten, und taten es auch." Eine Firma aus Seattle bot ihr später einen Job mit einem Anfangsgehalt von 70 000 Dollar im Jahr.
Es hatte alles seine Ordnung in Lincoln, Nebraska. Der Kühlschrank zu Hause war nach Fächern getrennt, der Russe oben, die Amerikanerin unten, Gülay in der Mitte, und wenn sie zum Essen von einem Jungen ausgeführt wurde, erwartete er nach dem zweiten Mal einen langen Gutenachtkuss und beim vierten Mal den Rest des Programms. Das Leben lief, als wäre es vorgestanzt auf einer Lochkarte. Irgendwann bemerkte Gülay, dass sie abends nur noch zu Hause saß und sich vom Take-out-Service "Mongolisches Rindfleisch" bringen ließ.
Sie vermisste den Geruch des Meeres, die Freundinnen, die vorbeikommen, ohne sich zu verabreden, die Ausgelassenheit der Nächte, die großen Festessen mit der Familie. "Diese Versessenheit auf Geld", sagt sie, "am Ende war das alles zu viel für mich."
Der Reichtum in Lincoln, Nebraska, findet sie, hat die Leute arm gemacht. Als sie nach vier Jahren im Flugzeug nach Istanbul saß, schaute sie aus dem Fenster und grinste. Sie hatte gelernt zu arbeiten wie eine Amerikanerin, das war genug. Leben wollte sie wie eine Türkin.
Gülay sitzt ein wenig abgekämpft in ihrer kleinen Wohnung auf der europäischen Seite Istanbuls. Vor ihr stehen ein Glas Chardonnay, Oliven, Käse, frisches Brot. Sie schaut durch ein kleines Fenster hinunter auf den Bosporus, wo winzige Schiffe in der Dunkelheit leuchten. Sie ist stolz auf diesen Ausblick. In Istanbul bemisst sich der Wert einer Wohnung danach, wie weit sie vom Herzen der Stadt, dem Wasser, entfernt ist. Gülay ist einen Kilometer weit weg, aber sie kann das Meer sehen.
Sie fühlt sich wie eine Pionierin. Sie ist die erste Frau in ihrer Familie, die ausziehen durfte in eine eigene Wohnung ohne einen Mann; die erste, die Ingenieurin werden konnte; die erste, die in Amerika Geld verdiente; und die erste, die wieder nach Hause kam, eine Identität zu finden, die vollkommen neu ist und doch sehr in der Tradition liegt, in jener Stadt, zerrissen und ergänzt von zwei Kontinenten.
Gerade in den letzten Jahren haben die Frauen in der Türkei, auch auf Druck der EU, ihr gestiegenes Selbstbewusstsein in neuen Gesetzen und Vorschriften dokumentieren können: Männer und Frauen sind jetzt offiziell gleichgestellt, ein neues Strafrecht schützt sie vor Vergewaltigung auch in der Ehe und lässt Jungfräulichkeitstests nur noch nach richterlicher Anordnung zu. Und als erstes islamisches Land wird die türkische Republik Frauen zu Hocas ausbilden.
Gülay schätzt an Istanbul das Gefühl der Geborgenheit und des Ausgleichs - inmitten der Herausforderungen von Technologie und Marktwirtschaft. In Istanbul kann sie die Nächte durchtanzen oder durcharbeiten. Sie kann ihrem Ego freien Lauf lassen, ohne sich je allein zu fühlen. Sie schiebt ein wenig Brot, Käse und Oliven über den Tisch. "Leben heißt hier: die Dinge miteinander teilen", sagt sie. In Amerika habe das niemand begriffen. Die drei Fächer im Kühlschrank wird sie nie vergessen.
"Im Westen sind die kulturellen Zwänge drauf und dran, die natürlichen Instinkte der Frauen abzutöten, weil man sie zwingt, zugunsten der Karriere auf Kinder und Familie zu verzichten", sagt sie. Gülay schaut auf den Bosporus. Sie habe keine Lust auf diese Art Fortschritt. "Die Häuser in der Türkei sind noch nicht voller Einsamkeit. Hunde und Katzen haben noch nicht Freunde und Familie ersetzt."
Auf dem Bosporus schaukeln nur noch ein paar Kähne. Der Mond scheint, im Apartment fällt der Strom aus. "Keine Sorge", sagt Gülay, "das kommt hier dauernd vor." Sie kramt ein paar Kerzen hervor. Ohne Lowtech, meint sie, sei Hightech einfach unerträglich.
Spiegel 26/2005
Eine Stadt wie ein Versprechen
Sie haben hochbezahlte Jobs, sind Motoren des türkischen Wirtschaftswunders und reden wie die Frauen in "Sex and the City". In Istanbul wagt eine junge weibliche Generation den sanften Aufstand - gegen den Fundamentalismus, für eine moderne Türkei. Von Hatice Akyün und Thomas Hüetlin
Als der Morgen erwacht in den Straßen von Istanbul, klackern die Absätze der drei Frauen auf dem Asphalt. Sie sind übrig geblieben von der Nacht, das Geräusch ihrer Schuhe mischt sich mit dem ersten Ruf des Muezzin, ein knatterndes Summen, als murmelte Allah persönlich durch einen rostigen Telegrafendraht.
Das Gebet will die Ordnung wiederherstellen, die die Nacht ins Wanken gebracht hat. Wie ein großer, sauberer Teppich legt es sich über die Stadt. "Allah ist groß. Es gibt keinen Gott außer Allah."
Die drei Frauen haben nichts gegen Allah, aber der Allmächtige hat nicht die Macht, ihr Geplauder zu unterbrechen.
"Mädchen, ich glaube, ihr habt heute wieder übertrieben", sagt Canan Kiliç, eine der Frauen. "Die Kalorien sind Gift für die Figur." Sie unterrichtet tagsüber im besten Fitnesscenter der Stadt; die beiden anderen lachen.
"Meinst du, Männer stehen eher auf dünne Frauen?", fragt Gülay Özkan - "Oder auf Frauen mit Rundungen?", beendet Bilge Algül den Satz.
Dann steigen sie in ihre Autos, es war eine lange Nacht. Gülay, Bilge, Canan kennen sich seit drei Jahren. Sie treiben zusammen Sport, manchmal gehen sie shoppen, manchmal ziehen sie durch die Restaurants und Nachtclubs, manchmal sitzen sie zu Hause im Bett und telefonieren über Jobs und Bücher und Kinofilme und, natürlich, über Männer und warum es auch diesmal wieder nicht die große Liebe war.
In der alten Türkei, in den Dörfern Anatoliens, deren Lebensstil bis nach Ankara oder Istanbul und auch bis nach Köln, Mülheim oder München strahlt, müssten Gülay, Bilge und Canan ein anderes Leben führen, sich beschimpfen lassen, als Schlampen, als Gottlose. Aber in den besseren Vierteln Istanbuls haben sie hochbezahlte Jobs und können die ganze Nacht ausgehen, ohne dass ihnen im Dunkeln die Männer gierig hinterherzischen.
Wie kein anderes europäisches Land ist die Türkei zweigeteilt, halb europäisch, halb asiatisch, halb westlich, halb anatolisch, selbst Istanbul ist geteilt, im europäischen Teil ist das Leben so frei wie in Berlin und München, selbstverständlich viel freier als in den türkischen Bezirken deutscher Städte. Das Nachtleben in Istanbul erinnert an das New York der späten Siebziger oder das London der Achtziger. Die Sittenwächter sind verschwunden, nun regieren das Geld und
... Fortsetzung von Seite 62
der DJ die Nacht: mehr Spaß, mehr Sex, mehr Musik.
Der Abend der drei Frauen begann in einem Jazz-Club. Gülay hatte ihre beiden Freundinnen dorthin bestellt. Die Luft stand voller Rauch, und vorn auf der kleinen Bühne mühten sich drei Musiker mit ihren Improvisationen ab. Das sei Free Jazz, jubelte Gülay. Gab es früher nicht so oft. Bilge und Canan lächelten, fast so, als hätten sie plötzlich ein wenig Sehnsucht nach der Vergangenheit.
Ihre nächste Station war ein französisches Bistro namens "Flann", dort hielt die Fernsehmoderatorin einer Verkupplungsshow Hof, die Show heißt: "Darf ich Sie Mutter nennen?" Kameras liefen, ein riesiger Trubel - Zeit zu gehen.
So ging es die ganze Nacht, irgendwo rein und wieder raus, bis sie schließlich in einem Club landeten, in dem ein paar hundert Leute auf den Tischen, in den Gängen vor den Toiletten tanzten. Als sie Stunden später wieder auftauchten aus dem Untergrund von Istanbul, glänzten die Augen der Frauen wie Schokoladenpapier. "Selbst wenn du mal kein Date hast", sagt Gülay und klingt jetzt fast wie eine dieser Frauen aus "Sex and the City": "Istanbul lässt dich nie im Stich. Die Stadt ist immer dein Date."
Es gibt in Istanbul heute viele Frauen, die höchstens ein Kopftuch tragen würden, um sich vor einem Unwetter zu schützen. Die Stadt ist für Gülay und ihre Freundinnen ein Versprechen auf die türkische Moderne, ein Versprechen, das auch schon die Generation ihrer Eltern angezogen hat. "Straßenbahnen, mit denen man auf Schienen durch die Stadt fahren konnte, Sommergemüse, das man in Dosen verpackt im Winter essen konnte, Musik, die auf schwarzen Scheiben konserviert wurde, und Autos aus Amerika, so bunt wie Bonbons und bequem wie ein Diwan", beschreibt die Bestseller-Autorin Necla Kelek die Magie der Metropole zu Beginn der sechziger Jahre.
Aber es gibt immer noch die andere Türkei: Frauen, die in eine Gefängnisehe gezwungen werden, die beim geringsten Verstoß gegen die patriarchalische Ordnung von Vätern, Brüdern und Ehemännern geschlagen oder ermordet werden; Frauen, die wie Sklaven zu Hause eingesperrt einen lebenslangen Dienst als Putzfrau, Köchin und Triebabfuhrobjekt versehen müssen. Mädchen, die nicht zur Schule dürfen - 600 000 sollen es landesweit sein, die zu Hause bleiben, obwohl sie schulpflichtig sind. Frauen aus der Provinz, eingekerkert hinter einer Mauer aus islamischem Fundamentalismus, kultureller Rückständigkeit und Unsicherheit.
"Ich weiß, dass es solche Schicksale gibt, und ich finde es entsetzlich", sagt Gülay, aber sie kennt niemanden, der so lebt. Gülay und ihre Freundinnen agieren so modern und frei und emanzipiert wie Frauen in Paris oder New York. Frauen wie Gülay entscheiden über ihren Beruf, ihre Wohnung, ihre Kleider, ihr Essen, ihren Sport, ihr Auto, ihre Freunde. Und natürlich entscheiden sie darüber, wann sie Sex haben und mit wem.
Jungfräulichkeit ist ab einem gewissen Alter auch bei türkischen Frauen keine große Sache mehr. Aber im Gegensatz zum Westen ist Sex kein Dauerthema unter ihnen. Emanzipation bedeutet für die drei Frauen nicht, dass sie tabulos ständig darüber sprechen. Frauen, die das tun, werden in der Türkei "yiritk" - unverschämt, zerrissen - genannt.
In diesem Kulturstreit, der die Türkei trennt in alt und neu, in frauenfeindlich und frauenfreundlich, haben sie sich auf die fortschrittliche Seite gekämpft: dank ihrer Herkunft, dank ihrer Bildung, dank ihrer Leistung. Jeder dritte Professor, jeder dritte Arzt und jeder vierte Anwalt in der Türkei ist eine Frau, und es gibt auch mehr Frauen in Führungspositionen von Unternehmen als in Deutschland. 70 Prozent der Türkinnen mit abgeschlossenem Hochschulstudium
sind berufstätig. Aber diese Elite steht immer noch einem Heer von Menschen gegenüber, die gedemütigt, versklavt, geschlagen werden - bloß weil sie Frauen sind. Einem Geschlechterproletariat, wo auf dem Land jede Dritte nicht lesen kann oder schreiben, wo im Südosten jede zweite Ehe eine Zwangsheirat ist, wo Hunderte Frauen pro Jahr ermordet werden, weil sie angeblich die Ehre der Familie beschmutzten.
Es ist eine verhaltene Auflehnung gegen die alte Türkei, die Gülay und ihre Freundinnen durch ihren Lebensstil betreiben - kein Protest, der Transparente vor sich her trägt. Die aufgeklärt-orientalische Tradition, in der sie groß geworden sind, kennt die Familie als Ort der Geborgenheit, nicht als Terrorinstrument. Das wichtigste Wort in den weltoffenen Häusern der drei heißt Bildung: Je mehr man über die Welt weiß und gelernt hat, desto stärker wird man sein. Unabhängigkeit und Freiheit gelten nicht als Bedrohung, sondern als verlockendes Ziel.
Gülay ist 33 Jahre alt, sie arbeitet in der türkischen Zentrale des Mobiltelefonherstellers Ericsson im Stadtteil Maslak. Der Fußboden ist aus Metall, jeder ihrer Schritte klingt, als schlüge jemand mit einem Hammer auf eine leere Regentonne. An den Wänden hängen Flachbildschirme, auf denen MTV und CNN laufen, im Haus gibt es ein Fitnesscenter und eine amerikanische Sandwich-Bar. Gülay deutet aus dem Fenster auf einen grauen Glasturm, dort arbeitet Bilge bei einer Firma namens "Pharos Consulting", auch hier arbeiten fast nur türkische Männer und Frauen um die dreißig, die sich mittags Sushi auf den Schreibtisch stellen und überlegen, wie man den globalen Kapitalismus noch beschleunigen kann. Bilge plant gerade eine Marketing-Aktion für BP, bei der man einen Mercedes gewinnen kann.
Gülay trägt rote Strähnen in ihrem Haar, an den Ohren baumeln Strasssteine, sie kommt viel herum, sie ist Abteilungsleiterin bei Ericsson und verantwortlich dafür, dass das Unternehmen die Zukunft nicht verschläft. Gülays Handys sollen bald schon Herztöne zum Arzt senden oder Mahnungen der Stadtbibliothek verschicken, wenn Leihfristen überschritten sind. In den vergangenen drei Jahren wuchs die türkische Wirtschaft um sieben Prozent jährlich, es gibt Analysten, die glauben, die Türkei sei das China Europas und Frauen wie Gülay, die Ingenieurin, und Bilge, die Unternehmensberaterin, und Canan, die Fitnesstrainerin, seien Motoren dieses Wirtschaftswunders.
Gülay ist aufgewachsen in Trabzon, einer Stadt weit im Osten der Türkei am Schwarzen Meer. Sie war die Erstgeborene, sie hat zwei jüngere Schwestern und einen sehr viel jüngeren Bruder. "Meine Eltern waren stolz auf mich von Anfang an", sagt sie. Ihr Vater hat als Vertreter für Arzneimittel gearbeitet, er hat seine Töchter nie benachteiligt, und er hat Gülay gesagt, dass sie erst heiraten darf, "wenn sie einen Beruf erlernt hat". Er wollte seine Tochter nicht für ein paar tausend Euro und ein Auto an einen Ehemann verkaufen. Gülay sollte frei sein, selbständig und stark.
Bei der Abschlussprüfung ihrer Schule war sie im Fach Mathematik eine der zehn besten der Stadt, der türkische Staat gab ihr ein Stipendium. Sie ging nach Istanbul, ein bisschen mulmig war ihr, kein Gummitwist und Volleyball mehr auf der Straße, bis es dunkel wurde. Und was wusste sie schon von Jungs - ein wenig auf die Wange küssen, aber kein Liebesküssen, nicht da oben im Osten.
Die Eltern fuhren sie, in einem kleinen Auto, 18 Stunden dauerte die Reise, es war heiß, August. Im Kofferraum lag ihre Tasche: Kassetten, Bücher, Bilder ihrer Familie, Kleidungsstücke, darunter das Wichtigste: ihre Blue Jeans. Die Richtung stimmte. Der Vater hatte immer gesagt:
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Die Erstgeborene muss den Weg pflastern."
Istanbul war hart, sie war es auch. Sie studierte, an der Universität gab es keine Kopftücher, Kemal Atatürk, Gründer der modernen Türkei, hat sie vor 80 Jahren per Gesetz verboten. Sie wurde Ingenieurin der Telekommunikation, füllte die Wissenslücken auf, war am Ende in einem Jahrgang, in dem 122 Jungs auf 18 Mädchen trafen, die Sechstbeste. Fragt man sie, was das für eine Leistung sei, sich durchzusetzen unter all den Männern, antwortet sie: "Es gibt keinen Unterschied der Geschlechter in diesem Beruf. Es kommt nur darauf an, wie klug jemand ist und wie hart zu arbeiten man gewillt ist."
Es ist Samstagmorgen in Nisantasi, dem Beverly Hills von Istanbul. Ein warmer Wind bläst vom Bosporus den Hügel hinauf und reißt an den Frisuren der Passanten. Viele halten große Tüten in der Hand, auf denen in Goldbuchstaben Gucci oder Louis Vuitton steht. Die drei Freundinnen probieren ein paar Ohrringe aus, stürmen aus dem Laden, spazieren in den nächsten. Das Ganze wirkt wie ein Spiel, sie kaufen nichts. Als sie bei Gucci vorbeigehen, kräuselt sich Gülays Nase, als ob das Luxusgeschäft schlecht röche. "Eine Gucci-Tasche", sagt sie, "stiehlt ein Stück deiner Stärke und macht dich zu einem Modeopfer."
Es war Gülays Mutter, die die Tochter ermutigte, keine Angst vor dem Fremden zu haben: vor neuen Ländern, anderen Kulturen, unterschiedlichen Blickrichtungen auf die Welt. Gülay hat dank eines Stipendiums auch in den USA studiert. In Lincoln, in Nebraska, in einer Stadt mit 250 000 Einwohnern, mitten in der Prärie. Sie flog allein, eine kleine Revolution. Ihre Freundin Bilge, die die Harvard Business School besuchte, stattete der Vater mit Geld und dazu mit einer Tante als Quartiermeisterin aus.
Die Universität gab Gülay 1500 Dollar im Monat und verlangte als Gegenleistung, dass sie zusätzlich 20 Stunden im Monat unterrichtete. Man brachte sie in einem geräumigen Haus unter, zusammen mit einem Russen und einer Amerikanerin. Sie hatte schon nach einer Woche nicht mehr das Gefühl, eine Fremde zu sein. "Man musste nicht darüber nachdenken, was einer so für Hintergedanken hat. Die Leute meinten, was sie sagten, und taten es auch." Eine Firma aus Seattle bot ihr später einen Job mit einem Anfangsgehalt von 70 000 Dollar im Jahr.
Es hatte alles seine Ordnung in Lincoln, Nebraska. Der Kühlschrank zu Hause war nach Fächern getrennt, der Russe oben, die Amerikanerin unten, Gülay in der Mitte, und wenn sie zum Essen von einem Jungen ausgeführt wurde, erwartete er nach dem zweiten Mal einen langen Gutenachtkuss und beim vierten Mal den Rest des Programms. Das Leben lief, als wäre es vorgestanzt auf einer Lochkarte. Irgendwann bemerkte Gülay, dass sie abends nur noch zu Hause saß und sich vom Take-out-Service "Mongolisches Rindfleisch" bringen ließ.
Sie vermisste den Geruch des Meeres, die Freundinnen, die vorbeikommen, ohne sich zu verabreden, die Ausgelassenheit der Nächte, die großen Festessen mit der Familie. "Diese Versessenheit auf Geld", sagt sie, "am Ende war das alles zu viel für mich."
Der Reichtum in Lincoln, Nebraska, findet sie, hat die Leute arm gemacht. Als sie nach vier Jahren im Flugzeug nach Istanbul saß, schaute sie aus dem Fenster und grinste. Sie hatte gelernt zu arbeiten wie eine Amerikanerin, das war genug. Leben wollte sie wie eine Türkin.
Gülay sitzt ein wenig abgekämpft in ihrer kleinen Wohnung auf der europäischen Seite Istanbuls. Vor ihr stehen ein Glas Chardonnay, Oliven, Käse, frisches Brot. Sie schaut durch ein kleines Fenster hinunter auf den Bosporus, wo winzige Schiffe in der Dunkelheit leuchten. Sie ist stolz auf diesen Ausblick. In Istanbul bemisst sich der Wert einer Wohnung danach, wie weit sie vom Herzen der Stadt, dem Wasser, entfernt ist. Gülay ist einen Kilometer weit weg, aber sie kann das Meer sehen.
Sie fühlt sich wie eine Pionierin. Sie ist die erste Frau in ihrer Familie, die ausziehen durfte in eine eigene Wohnung ohne einen Mann; die erste, die Ingenieurin werden konnte; die erste, die in Amerika Geld verdiente; und die erste, die wieder nach Hause kam, eine Identität zu finden, die vollkommen neu ist und doch sehr in der Tradition liegt, in jener Stadt, zerrissen und ergänzt von zwei Kontinenten.
Gerade in den letzten Jahren haben die Frauen in der Türkei, auch auf Druck der EU, ihr gestiegenes Selbstbewusstsein in neuen Gesetzen und Vorschriften dokumentieren können: Männer und Frauen sind jetzt offiziell gleichgestellt, ein neues Strafrecht schützt sie vor Vergewaltigung auch in der Ehe und lässt Jungfräulichkeitstests nur noch nach richterlicher Anordnung zu. Und als erstes islamisches Land wird die türkische Republik Frauen zu Hocas ausbilden.
Gülay schätzt an Istanbul das Gefühl der Geborgenheit und des Ausgleichs - inmitten der Herausforderungen von Technologie und Marktwirtschaft. In Istanbul kann sie die Nächte durchtanzen oder durcharbeiten. Sie kann ihrem Ego freien Lauf lassen, ohne sich je allein zu fühlen. Sie schiebt ein wenig Brot, Käse und Oliven über den Tisch. "Leben heißt hier: die Dinge miteinander teilen", sagt sie. In Amerika habe das niemand begriffen. Die drei Fächer im Kühlschrank wird sie nie vergessen.
"Im Westen sind die kulturellen Zwänge drauf und dran, die natürlichen Instinkte der Frauen abzutöten, weil man sie zwingt, zugunsten der Karriere auf Kinder und Familie zu verzichten", sagt sie. Gülay schaut auf den Bosporus. Sie habe keine Lust auf diese Art Fortschritt. "Die Häuser in der Türkei sind noch nicht voller Einsamkeit. Hunde und Katzen haben noch nicht Freunde und Familie ersetzt."
Auf dem Bosporus schaukeln nur noch ein paar Kähne. Der Mond scheint, im Apartment fällt der Strom aus. "Keine Sorge", sagt Gülay, "das kommt hier dauernd vor." Sie kramt ein paar Kerzen hervor. Ohne Lowtech, meint sie, sei Hightech einfach unerträglich.
Spiegel 26/2005