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Das Symbolbild des Bosnienkriegs, die Aufnahme eines abgemagerten Gefangenen hinter Stacheldraht, war eine Täuschung
ITN-Aufnahme
Wahrheit? Anfang 1993 trat die "Weltwoche" mit einem Artikel von Peter Brock über die einseitige Berichterstattung der Medien im Bosnienkrieg eine heftige Debatte los. Peter Handke liess diese Diskussion letztes Jahr neu aufflammen. Dass es westliche Zeitungen und Fernsehsender im Bosnienkrieg mit der Wahrheit nicht immer genau nahmen, zeigt eine neue Recherche unseres Autors.
Es dauerte einige Tage, bis ich selbst daran glauben wollte: Das wohl bekannteste Bild des Bosnienkriegs war eine Täuschung. Es wurde am 5. August 1992 von einem britischen Fernsehteam aufgenommen: dem Team von Penny Marshall von ITN und Ian Williams von Channel 4 in Begleitung des Reporters Ed Vulliamy vom "Guardian". Ein abgemagerter Muslim mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldrahtzaun, Fikret Alic, in Trnopolje, einem Lager der bosnischen Serben. "The Proof" - der Beweis - schrieb die "Daily Mail" zwei Tage später in dicken Lettern über die Ablichtung des Bildes: "Das sind Szenen wie die in Schwarz und Weiss flimmernden Bilder aus fünfzig Jahre alten Filmen über Konzentrationslager der Nazis."
Weltweit wurde das Bild in millionenfacher Auflage reproduziert. Es ist ein Dokument der Zeitgeschichte geworden: ein angeblicher Beweis für die Existenz von Konzentrationslagern in Bosnien fünfzig Jahre nach dem Holocaust. Dass an der Korrektheit dieses Stacheldrahtbildes mit Fikret Alic in Trnopolje nicht zu zweifeln sei, dachte zunächst auch ich.
Als ich ITN-Aufnahmen betrachtete, die im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, stiess mich meine Frau zunächst auf ein kleines Detail: Wenn es sich bei der Aufnahme um ein Bild von Insassen eines mit Stacheldrahtzaun umgebenen Lagers drehte, warum war der Stacheldraht an die mächtigen Pfosten von der Seite angebracht, auf der sich auch die Lagerinsassen befanden? Zäune werden normalerweise aussen an den Pfosten befestigt, ein Gelände somit eingezäunt.
Was hatte es mit diesem Bild auf sich? Ich machte mich auf den Weg nach Bosnien. Meine Recherchen, die auch die Ansicht des unbearbeiteten ITN-Filmmaterials umfassten, ergaben, dass nicht die gefilmten Lagerinsassen und in ihrer Mitte Fikret Alic von einem Stacheldrahtzaun umgeben waren, sondern die britischen Journalisten, die aus einem so umzäunten Grundstück heraus in das Lagergelände hineinfilmten. Auf dem Grundstück, auf dem die Journalisten standen, befand sich eine Scheune. Daran angrenzend war das eigentliche Lagergelände: eine Schule, eine Art Bürgerhaus, genannt "Dom", mit Sporthalle und medizinischem Versorgungszentrum und ein Freigelände mit Sportanlage.
Wie war es zu diesen Aufnahmen gekommen? Das britische Journalistenteam war Ende Juli 1992 auf Einladung des damaligen Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, nach Bosnien gereist. Karadzic hatte in London an einer internationalen Konferenz teilgenommen und wurde vor seiner Abreise von Redaktoren von ITN und vom "Guardian" auf Gerüchte über brutale Internierungslager angesprochen. Er stritt deren Existenz ab und willigte ein, einem Journalistenteam den Besuch dieser Orte zu gestatten.
Am 28. Juli trafen Vulliamy, Marshall und Williams in Belgrad ein. Im Gepäck hatten sie ein Papier der bosnischen Regierung, auf dem "Konzentrationslager" der Serben aufgelistet waren. Um die Zeit zu überbrücken, besuchten die Reporter von Belgrad aus zwei solcher Orte und stellten fest, dass es sich um einfache Flüchtlingslager drehte. Von KZs konnte keine Rede sein. Am 3. August wurde nach Pale geflogen. Am nächsten Tag ging es weiter nach Banja Luka und am darauffolgenden, dem 5. August, nach Prijedor. Die Journalisten wurden in Begleitung einer Militäreskorte nach Omarska und Trnopolje gebracht. Ein Artikel von Roy Gutman über Omarska mit dem Titel "Todeslager" war am 2. August in "Newsday" erschienen, und die Erwartungshaltung der Redaktionen in London war gewaltig. Marshall schrieb nach der Rückkehr in einem Artikel für die "Sunday Times", dass sie und Williams von ihren Chefredaktoren die Order erhalten hatten, nichts zu senden, bevor sie die Geschichte über die Lager im Kasten hatten.
Der Besuch des Lagers Omarska war für das Reporterteam eine bedrückende Erfahrung, aber auch eine Enttäuschung: Lagerinsassen, die von Wärtern mit Schnellfeuerwaffen bewacht wurden, und ausgehungerte Menschen, die offensichtlich eingeschüchtert waren und nicht mit den Journalisten sprechen wollten. Dennoch: Die Aufnahmen, die sie machten, waren "nicht schockierend", waren "nicht der Beweis für Folter und Mord", kommentierte auch Monika Gras in ihrer Südwestfunk-Reportage "Omarska - Das Todeslager". Marshall und Williams waren verärgert, weil ihnen trotz des Versprechens von Karadzic nicht erlaubt wurde, alle Gebäude zu betreten. Nach einem erfolglosen Wortduell mit den Militärs machten sie sich auf den Weg zur letzten Station ihrer Reise: Trnopolje, nur wenige Kilometer von Omarska entfernt.
Die Reporter filmten dort im Schulgebäude, das mit Matratzen und notdürftigen Schlafplätzen überfüllt war, im Bürgerhaus, wo sich das gleiche Bild zeigte, und im Aussenbereich, wo sich mehrere hundert Menschen aufhielten. Am gleichen Tag, als die Reporter eintrafen, war eine Gruppe von Muslimen aus dem Lager Keraterm gebracht worden.
Im mehrstündigen Filmmaterial, das aufgenommen und tags darauf in Budapest bearbeitet, nach London gesendet und abends ausgestrahlt wurde, fanden sich auch Aufnahmen von Gesprächen der Journalisten durch den Stacheldrahtzaun hindurch mit Muslimen, darunter Fikret Alic. Diese Aufnahmen, die den Eindruck erweckten, das Lager sei von Stacheldraht umgeben, kamen zustande, indem Marshall und ihr Kameramann Irvin von einer Strassengabelung von Süden her das mit Stacheldrahtzaun umzäunte Grundstück betraten. Dort gab es vor dem Krieg Agrargüter zu kaufen, und auch Baugeräte wurden dort füher untergebracht. Um das Material vor Diebstahl zu schützen, wurde lange vor dem Krieg ein Stacheldrahtzaun errichtet. Die Journalisten passierten zunächst das Trafohäuschen und die Scheune und näherten sich dann dem Stacheldrahtzaun an der Nordseite, wo sich rasch Neugierige versammelten. Vom Innenbereich dieses Grundstücks wurden die berühmten Aufnahmen gemacht.
Das unbearbeitete ITN-Filmmaterial, das ich einsah, zeigte mir, auf welche Einstellungen der Kameramann aus war. Er zoomte von verschiedenen Positionen aus durch den Zaun hindurch, stellte mal den Maschendraht und mal den Stacheldraht scharf. Das Kameraauge war auch stets auf der Suche nach abgemagerten Menschen. Alic, der am 17. August 1992 auf der Titelseite der "Time" abgebildet wurde, bot das passende Profil. Die Mehrheit der Flüchtlinge war zwar von den Kriegsmonaten gezeichnet, ihre Statur war mit der von Alic aber nicht vergleichbar.
Kein Wort zum Stacheldraht
Marshall schrieb in ihrem Artikel für die "Sunday Times": "Jeremy Irvin, unser Kameramann, wusste, dass er mit starken Bildern aus Prijedor zurückgekehrt war. Aber erst als wir die Aufnahmen in unserem kleinen Filmstudio in Budapest betrachteten, begannen wir, ihre Wirkung zu erahnen." Vulliamy fasste diese Wirkung in seinem Buch "Seasons in Hell" zusammen: "Mit seinem Rippenkäfig hinter dem Stacheldrahtzaun von Trnopolje wurde Alic zur symbolischen Figur des Krieges, auf jedem Magazinumschlag und Fernsehbildschirm der Welt" (Seasons in Hell. Simon & Schuster, London 1994, S. 202).
Als ich Trnopolje besuchte, sprach ich mit Familie Baltic, die das Gelände von früher her kannte. Der 17jährige Dragan ging bis etwa April 1992 in Trnopolje zur Schule. "Ausser im vorderen Kreuzungsbereich, um diese Art Scheune herum, hat es nirgends einen Stacheldrahtzaun gegeben", erklärte er mir. Seine 19jährige Schwester Dragana bestätigte dies und fügte hinzu, dass es an der Strasse auf Höhe der Schule einen kleinen, etwa einen Meter hohen Metallzaun gab. Er steht noch heute und ist auch auf den ITN-Bändern zu sehen. Flüchtlinge lehnen daran, und an anderer Stelle springen sie darüber. Dragana erinnerte sich daran, dass es im vorderen Strassenbereich, anschliessend an den Stacheldrahtzaun, schon vor dem Krieg einen kleinen, etwa ein Meter zwanzig hohen Maschendrahtzaun gab, "wie man ihn für die Hühnerhaltung verwendet".
Pero Curguz traf ich in seinem Büro in Prijedor. Er leitet das regionale Rote Kreuz, war während des Betriebs des Flüchtlingszentrums in Trnopolje und wurde im August 1992 auch vom britischen Reporterteam interviewt. Er erklärte damals, die Menschen seien freiwillig auf das Gelände gekommen, um Schutz zu suchen. Er berichtete mir, dass zu keiner Zeit des Lagerbetriebs irgendein Zaun aufgestellt wurde. Im Gegenteil: Als andere Lager in Keraterm und Omarska geschlossen wurden, sei Trnopolje überfüllt gewesen. Bis zu 7500 Menschen seien dort gleichzeitig untergebracht worden. Die Flüchtlinge hätten auch die Zäune in der Umgebung eingerissen, um sich Zelte und kleine Schutzhütten zu bauen. Curguz insistierte, dass es sich nicht um ein Gefangenenlager gehandelt habe, sondern ein Sammelzentrum für vertriebene Muslime. Dem ITN-Filmmaterial konnte ich entnehmen, dass das grosse Lagergelände zum Zeitpunkt der Aufnahmen nicht mit Stacheldraht umzäunt war. Man erkennt deutlich, dass sich die Menschen auf der Strasse und auf dem Gelände bewegten und einige sich bereits kleine Schutzzelte errichtet hatten. Auch auf dem mit Stacheldraht eingezäunten Grundstück sieht man eine Gruppe von etwa 15 Personen, darunter Frauen und Kinder, unter einem Baum im Schatten sitzen. In einer weiteren Bandsequenz sah ich noch einmal die kurz zuvor eingetroffene Gruppe von Männern aus Keraterm aus anderer Perspektive. Der Kameramann stand nicht mehr im Stacheldrahtgelände, sondern etwa 20 Meter westlich daneben. Die Flüchtlinge standen hinter einem weiteren niedrigen Maschendrahtzaun, der sich an den Stacheldrahtzaun um das Scheunengrundstück anschloss und bis zur hinteren Ecke der Sporthalle reichte. Sie warteten dort auf ihre Registrierung und auf weitere Anweisungen, erklärte mir Igor Curguz, ein ehemaliger Lagerwärter.
Wie man wohl mit einem solchen "Scoop" noch ruhig schlafen könne, fragte ich mich. Vulliamy hatte seine Reportage bereits einen Tag nach dem Besuch Trnopoljes fertiggestellt. Sein Artikel erschien am 7. August im "Guardian", wenige Stunden nachdem die ITN-Bilder erstmals am Abend des 6. August ausgestrahlt wurden. Auffällig ist, dass Vulliamy, der bei der Fertigstellung seines Textes den ITN-Fernsehbeitrag vermutlich noch nicht gesehen hatte, kein Wort über einen Stacheldrahtzaun verlor und zudem auch korrekt festhielt, dass Trnopolje nicht als Konzentrationslager bezeichnet werden könne. Seine recht ausgewogene und objektive Darstellung der Situation enhielt auch die Wiedergabe von Gesprächen mit vertriebenen Muslimen, die ihm berichteten, dass keine Gewalt gegen sie angewendet wurde und der Platz ihnen eine gewisse Sicherheit bot.
Der Tonfall des "Guardian"-Reporters bei der Beschreibung seiner Eindrücke von Trnopolje sollte sich aber bis zur Herausgabe seines Buches "Seasons in Hell" 1994 drastisch ändern. Anscheinend beflügelt von der Resonanz auf die Bilder, änderte er einige Passagen, und der Stacheldraht, den er in seinem ersten Artikel nicht einmal für erwähnenswert hielt, bekam auf einmal eine zentrale Bedeutung. Seine ersten Eindrücke von Trnopolje beschrieb er nun wie folgt: "Noch mehr schmutzige Wege, noch mehr abgebrannte Dörfer und letztlich etwas, was früher eine Schule war und ein weiterer erschreckender Unglücksort: ein überfülltes Lagergelände, umgeben mit Stacheldrahtzaun" (S. 104). Inar Gnoric, eine Muslimin, unterhielt sich mit Vulliamy in Trnopolje und erzählte ihm, dass sie aus Sicherheitsgründen freiwillig gekommen war. Im "Guardian"-Artikel wurde sie von Vulliamy mit den Worten zitiert: "Hier ist es sicherer, aber wir wissen nicht, welchen Status wir haben. Wir sind Flüchtlinge, aber es gibt Wärter und den Drahtzaun." Welchen Zaun sie auch immer gemeint haben mag: In Vulliamys Buch findet sich das Zitat in etwas abgewandelter Form, am Ende spricht Gnoric von einem Stacheldrahtzaun.
Wachsendes Selbstvertrauen im Umgang mit dem Stacheldrahtbild liess sich auch bei Marshall beobachten. Sie schrieb einen grossen Bericht für die "Sunday Times" am 16. August 1992. Dieser wirkte stellenweise wie eine Entschuldigung, so als sei ihr der Trubel um die besagten Bilder unangenehm gewesen. Sie verwies auf ihren Kameramann Irvin, der die Aufnahmen gemacht hatte, und auf ihren Chefredaktor, der bereit war, das Risiko des Unternehmens zu tragen.
Marshall erwähnte in ihrem ersten Artikel entgegen Vulliamy den Stacheldrahtzaun. Sie schrieb schlicht: "Draussen gab es Stacheldraht." Ihre Eindrücke bei einem zweiten Besuch des Lagers wenige Tage später hielt sie im gleichen Artikel wie folgt fest: "Draussen hatte sich das Lager in der Woche seit unserem ersten Bericht verändert. Der Stacheldrahtzaun war entfernt worden, und die Serben hatten den Gefangenen Material überlassen, um sich Schutzhütten zu bauen."
Kein Konzentrationslager
Die Schwachstelle ihrer Reportage, der Stacheldrahtzaun, war verschwunden. Doch Marshall hatte die Wahrheit geschrieben, denn die Zäune, die ihr Kameramann beim ersten Besuch filmte, wurden tatsächlich bis zu ihrer Rückkehr fast alle entfernt. Das konnte ich dem Filmmaterial entnehmen, das sie vom zweiten Besuch mit nach Hause brachte. Stehen blieben lediglich der niedrige Metallzaun um das Schulgebäude, einige kurze Zaunpfosten im Bereich der Strasse und um die Scheune mächtige Metallpfosten, an denen der Stacheldrahtzaun zuvor befestigt war. An der Westseite dieses Grundstücks blieben bis heute Reste des Stacheldrahts hängen.
Vulliamy schrieb in seinem Buch: "Vier Tage nach unserem Besuch in Trnopolje wurde der Zaun entfernt..." (S. 113). Auch er liess so das in der Öffentlichkeit verankerte Bild, das gesamte Gelände sei von Stacheldraht eingezäunt gewesen, unangetastet. Die unmenschlichen Zustände während des Krieges erscheinen für Beobachter in Westeuropa schwer nachvollziehbar und die Existenz solcher Zentren wie Trnopolje, in denen Menschen unter erbärmlichen Bedingungen lebten, zu Recht als Qual. Doch in Zeiten des Krieges sind zivile Normen nicht mehr gültig, und unter Berücksichtigung dieser Umstände lässt sich sagen, dass in Trnopolje das Leben relativ geordnet ablief. Meine Nachforschungen liessen mich zum Schluss kommen, dass die Bezeichnung dieses Ortes als Gefangenen- oder gar Konzentrationslager in dem Sinne, dass dort Menschen als Teil eines rassistischen Aggressionsplanes getötet und misshandelt wurden, jeglicher Grundlage entbehrt. Zweifelsohne kam es auch in Trnopolje zu Übergriffen und auch zu Vergewaltigungen und Morden. Doch so befremdlich es sich anhören mag: Hätte es dieses Zentrum für Vertriebene zum Zeitpunkt einer enormen Brutalisierung des Krieges und den Schutz durch serbische Soldaten nicht gegeben, hätten wohl weit mehr schutzlose muslimische Zivilisten ihr Leben verloren.
Die ITN-Reportage hatte ein falsches Bild des Lagers Trnopolje geliefert, und sie hatte auch Einfluss auf die westliche Politik gegenüber den bosnischen Serben. Eine Welle verschärfter Repressionen bis hin zur Androhung von Militärschlägen waren die Folge. Auch beim ersten Prozess des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen den bosnischen Serben Dusko Tadic spielte der Stacheldrahtzaun eine bedeutende Rolle. Tadic wurde vom Zeugen "L" - später bekannt als Dragan Opacic und überführt, von der Polizei in Sarajevo zur Falschaussage gezwungen worden zu sein - beschuldigt, im Lager Trnopolje an Morden und Vergewaltigungen teilgenommen zu haben. Opacic hatte am 15. August 1996 im Gerichtssaal in Den Haag auf eine Skizze gezeichnet, wie der Stacheldrahtzaun angeblich das gesamte Lagergelände einzäunte.
Auch Vulliamy wurde in den Zeugenstand geladen. Am 6. und 7. Juni 1996 gab er seine Erfahrungen über verschiedene Aspekte des Balkankriegs wieder. Seine Ausführungen wurden über weite Strecken vom Abspielen von ITN-Bändern begleitet. Als sich Vulliamy der Stelle mit dem Stacheldrahtbild mit Fikret Alic näherte, bat er darum, das Videogerät abschalten zu lassen: "Ich weiss nicht, wer darüber mehr verblüfft war, die anderen zu sehen. Wir, die wir die Leute hinter dem Stacheldrahtzaun erblickten, oder sie, die eine Gruppe von Leuten mit Notebooks und Kameras aus dem Bus steigen sahen. Wir liefen ihnen über ein Stück Land entgegen. Wir haben einigen von ihnen die Hände geschüttelt. Das war verwirrend. Ich beschreibe, wer hinter dem Zaun war, lieber mit abgeschaltetem Video, weil ich es besser kann, wenn ich nicht versuche, den Bildverlauf zu kommentieren."
Warum Vulliamy gerade diese eindrucksvollen Szenen nicht vorgeführt sehen wollte? Meine spontane Idee war, dass er möglicherweise Rückfragen über den Stacheldraht vermeiden wollte. Die Krönung offerierte mir Rechtsanwalt Wladimiroff. Er erzählte mir, dass er Opacic, einen Tag nach seiner Entlarvung als Lügner, über die Hintergründe seiner Falschaussage befragte. Opacic berichtete, dass ihm in Polizeigewahrsam in Sarajevo Videoaufnahmen von Dusko Tadic und von Trnopolje, das er nur flüchtig kannte, vorgeführt wurden. Darunter sei auch das Filmmaterial von ITN mit dem Stacheldrahtzaun gewesen. Wäre Opacic nicht vorzeitig der Lüge überführt worden, hätte Tadics Verteidiger den Stacheldraht zur Sprache gebracht, und möglicherweise wäre schon dann das ITN-Bild aufgeflogen.
* Thomas Deichmann (34) ist freier Journalist, Novo-Redaktor und Mitarbeiter des "London International Research Exchange". Eine Dokumentation seiner Untersuchungen mit Interviews, Fotos und Skizzen erscheint in diesen Tagen (Thomas.Deichmann@t-online.de).
Quelle: http://www.weltwoche.ch/archiv/ausland/02.97.bosnien.html
ITN-Aufnahme
Wahrheit? Anfang 1993 trat die "Weltwoche" mit einem Artikel von Peter Brock über die einseitige Berichterstattung der Medien im Bosnienkrieg eine heftige Debatte los. Peter Handke liess diese Diskussion letztes Jahr neu aufflammen. Dass es westliche Zeitungen und Fernsehsender im Bosnienkrieg mit der Wahrheit nicht immer genau nahmen, zeigt eine neue Recherche unseres Autors.
Es dauerte einige Tage, bis ich selbst daran glauben wollte: Das wohl bekannteste Bild des Bosnienkriegs war eine Täuschung. Es wurde am 5. August 1992 von einem britischen Fernsehteam aufgenommen: dem Team von Penny Marshall von ITN und Ian Williams von Channel 4 in Begleitung des Reporters Ed Vulliamy vom "Guardian". Ein abgemagerter Muslim mit nacktem Oberkörper hinter Stacheldrahtzaun, Fikret Alic, in Trnopolje, einem Lager der bosnischen Serben. "The Proof" - der Beweis - schrieb die "Daily Mail" zwei Tage später in dicken Lettern über die Ablichtung des Bildes: "Das sind Szenen wie die in Schwarz und Weiss flimmernden Bilder aus fünfzig Jahre alten Filmen über Konzentrationslager der Nazis."
Weltweit wurde das Bild in millionenfacher Auflage reproduziert. Es ist ein Dokument der Zeitgeschichte geworden: ein angeblicher Beweis für die Existenz von Konzentrationslagern in Bosnien fünfzig Jahre nach dem Holocaust. Dass an der Korrektheit dieses Stacheldrahtbildes mit Fikret Alic in Trnopolje nicht zu zweifeln sei, dachte zunächst auch ich.
Als ich ITN-Aufnahmen betrachtete, die im deutschen Fernsehen ausgestrahlt wurden, stiess mich meine Frau zunächst auf ein kleines Detail: Wenn es sich bei der Aufnahme um ein Bild von Insassen eines mit Stacheldrahtzaun umgebenen Lagers drehte, warum war der Stacheldraht an die mächtigen Pfosten von der Seite angebracht, auf der sich auch die Lagerinsassen befanden? Zäune werden normalerweise aussen an den Pfosten befestigt, ein Gelände somit eingezäunt.
Was hatte es mit diesem Bild auf sich? Ich machte mich auf den Weg nach Bosnien. Meine Recherchen, die auch die Ansicht des unbearbeiteten ITN-Filmmaterials umfassten, ergaben, dass nicht die gefilmten Lagerinsassen und in ihrer Mitte Fikret Alic von einem Stacheldrahtzaun umgeben waren, sondern die britischen Journalisten, die aus einem so umzäunten Grundstück heraus in das Lagergelände hineinfilmten. Auf dem Grundstück, auf dem die Journalisten standen, befand sich eine Scheune. Daran angrenzend war das eigentliche Lagergelände: eine Schule, eine Art Bürgerhaus, genannt "Dom", mit Sporthalle und medizinischem Versorgungszentrum und ein Freigelände mit Sportanlage.
Wie war es zu diesen Aufnahmen gekommen? Das britische Journalistenteam war Ende Juli 1992 auf Einladung des damaligen Präsidenten der bosnischen Serben, Radovan Karadzic, nach Bosnien gereist. Karadzic hatte in London an einer internationalen Konferenz teilgenommen und wurde vor seiner Abreise von Redaktoren von ITN und vom "Guardian" auf Gerüchte über brutale Internierungslager angesprochen. Er stritt deren Existenz ab und willigte ein, einem Journalistenteam den Besuch dieser Orte zu gestatten.
Am 28. Juli trafen Vulliamy, Marshall und Williams in Belgrad ein. Im Gepäck hatten sie ein Papier der bosnischen Regierung, auf dem "Konzentrationslager" der Serben aufgelistet waren. Um die Zeit zu überbrücken, besuchten die Reporter von Belgrad aus zwei solcher Orte und stellten fest, dass es sich um einfache Flüchtlingslager drehte. Von KZs konnte keine Rede sein. Am 3. August wurde nach Pale geflogen. Am nächsten Tag ging es weiter nach Banja Luka und am darauffolgenden, dem 5. August, nach Prijedor. Die Journalisten wurden in Begleitung einer Militäreskorte nach Omarska und Trnopolje gebracht. Ein Artikel von Roy Gutman über Omarska mit dem Titel "Todeslager" war am 2. August in "Newsday" erschienen, und die Erwartungshaltung der Redaktionen in London war gewaltig. Marshall schrieb nach der Rückkehr in einem Artikel für die "Sunday Times", dass sie und Williams von ihren Chefredaktoren die Order erhalten hatten, nichts zu senden, bevor sie die Geschichte über die Lager im Kasten hatten.
Der Besuch des Lagers Omarska war für das Reporterteam eine bedrückende Erfahrung, aber auch eine Enttäuschung: Lagerinsassen, die von Wärtern mit Schnellfeuerwaffen bewacht wurden, und ausgehungerte Menschen, die offensichtlich eingeschüchtert waren und nicht mit den Journalisten sprechen wollten. Dennoch: Die Aufnahmen, die sie machten, waren "nicht schockierend", waren "nicht der Beweis für Folter und Mord", kommentierte auch Monika Gras in ihrer Südwestfunk-Reportage "Omarska - Das Todeslager". Marshall und Williams waren verärgert, weil ihnen trotz des Versprechens von Karadzic nicht erlaubt wurde, alle Gebäude zu betreten. Nach einem erfolglosen Wortduell mit den Militärs machten sie sich auf den Weg zur letzten Station ihrer Reise: Trnopolje, nur wenige Kilometer von Omarska entfernt.
Die Reporter filmten dort im Schulgebäude, das mit Matratzen und notdürftigen Schlafplätzen überfüllt war, im Bürgerhaus, wo sich das gleiche Bild zeigte, und im Aussenbereich, wo sich mehrere hundert Menschen aufhielten. Am gleichen Tag, als die Reporter eintrafen, war eine Gruppe von Muslimen aus dem Lager Keraterm gebracht worden.
Im mehrstündigen Filmmaterial, das aufgenommen und tags darauf in Budapest bearbeitet, nach London gesendet und abends ausgestrahlt wurde, fanden sich auch Aufnahmen von Gesprächen der Journalisten durch den Stacheldrahtzaun hindurch mit Muslimen, darunter Fikret Alic. Diese Aufnahmen, die den Eindruck erweckten, das Lager sei von Stacheldraht umgeben, kamen zustande, indem Marshall und ihr Kameramann Irvin von einer Strassengabelung von Süden her das mit Stacheldrahtzaun umzäunte Grundstück betraten. Dort gab es vor dem Krieg Agrargüter zu kaufen, und auch Baugeräte wurden dort füher untergebracht. Um das Material vor Diebstahl zu schützen, wurde lange vor dem Krieg ein Stacheldrahtzaun errichtet. Die Journalisten passierten zunächst das Trafohäuschen und die Scheune und näherten sich dann dem Stacheldrahtzaun an der Nordseite, wo sich rasch Neugierige versammelten. Vom Innenbereich dieses Grundstücks wurden die berühmten Aufnahmen gemacht.
Das unbearbeitete ITN-Filmmaterial, das ich einsah, zeigte mir, auf welche Einstellungen der Kameramann aus war. Er zoomte von verschiedenen Positionen aus durch den Zaun hindurch, stellte mal den Maschendraht und mal den Stacheldraht scharf. Das Kameraauge war auch stets auf der Suche nach abgemagerten Menschen. Alic, der am 17. August 1992 auf der Titelseite der "Time" abgebildet wurde, bot das passende Profil. Die Mehrheit der Flüchtlinge war zwar von den Kriegsmonaten gezeichnet, ihre Statur war mit der von Alic aber nicht vergleichbar.
Kein Wort zum Stacheldraht
Marshall schrieb in ihrem Artikel für die "Sunday Times": "Jeremy Irvin, unser Kameramann, wusste, dass er mit starken Bildern aus Prijedor zurückgekehrt war. Aber erst als wir die Aufnahmen in unserem kleinen Filmstudio in Budapest betrachteten, begannen wir, ihre Wirkung zu erahnen." Vulliamy fasste diese Wirkung in seinem Buch "Seasons in Hell" zusammen: "Mit seinem Rippenkäfig hinter dem Stacheldrahtzaun von Trnopolje wurde Alic zur symbolischen Figur des Krieges, auf jedem Magazinumschlag und Fernsehbildschirm der Welt" (Seasons in Hell. Simon & Schuster, London 1994, S. 202).
Als ich Trnopolje besuchte, sprach ich mit Familie Baltic, die das Gelände von früher her kannte. Der 17jährige Dragan ging bis etwa April 1992 in Trnopolje zur Schule. "Ausser im vorderen Kreuzungsbereich, um diese Art Scheune herum, hat es nirgends einen Stacheldrahtzaun gegeben", erklärte er mir. Seine 19jährige Schwester Dragana bestätigte dies und fügte hinzu, dass es an der Strasse auf Höhe der Schule einen kleinen, etwa einen Meter hohen Metallzaun gab. Er steht noch heute und ist auch auf den ITN-Bändern zu sehen. Flüchtlinge lehnen daran, und an anderer Stelle springen sie darüber. Dragana erinnerte sich daran, dass es im vorderen Strassenbereich, anschliessend an den Stacheldrahtzaun, schon vor dem Krieg einen kleinen, etwa ein Meter zwanzig hohen Maschendrahtzaun gab, "wie man ihn für die Hühnerhaltung verwendet".
Pero Curguz traf ich in seinem Büro in Prijedor. Er leitet das regionale Rote Kreuz, war während des Betriebs des Flüchtlingszentrums in Trnopolje und wurde im August 1992 auch vom britischen Reporterteam interviewt. Er erklärte damals, die Menschen seien freiwillig auf das Gelände gekommen, um Schutz zu suchen. Er berichtete mir, dass zu keiner Zeit des Lagerbetriebs irgendein Zaun aufgestellt wurde. Im Gegenteil: Als andere Lager in Keraterm und Omarska geschlossen wurden, sei Trnopolje überfüllt gewesen. Bis zu 7500 Menschen seien dort gleichzeitig untergebracht worden. Die Flüchtlinge hätten auch die Zäune in der Umgebung eingerissen, um sich Zelte und kleine Schutzhütten zu bauen. Curguz insistierte, dass es sich nicht um ein Gefangenenlager gehandelt habe, sondern ein Sammelzentrum für vertriebene Muslime. Dem ITN-Filmmaterial konnte ich entnehmen, dass das grosse Lagergelände zum Zeitpunkt der Aufnahmen nicht mit Stacheldraht umzäunt war. Man erkennt deutlich, dass sich die Menschen auf der Strasse und auf dem Gelände bewegten und einige sich bereits kleine Schutzzelte errichtet hatten. Auch auf dem mit Stacheldraht eingezäunten Grundstück sieht man eine Gruppe von etwa 15 Personen, darunter Frauen und Kinder, unter einem Baum im Schatten sitzen. In einer weiteren Bandsequenz sah ich noch einmal die kurz zuvor eingetroffene Gruppe von Männern aus Keraterm aus anderer Perspektive. Der Kameramann stand nicht mehr im Stacheldrahtgelände, sondern etwa 20 Meter westlich daneben. Die Flüchtlinge standen hinter einem weiteren niedrigen Maschendrahtzaun, der sich an den Stacheldrahtzaun um das Scheunengrundstück anschloss und bis zur hinteren Ecke der Sporthalle reichte. Sie warteten dort auf ihre Registrierung und auf weitere Anweisungen, erklärte mir Igor Curguz, ein ehemaliger Lagerwärter.
Wie man wohl mit einem solchen "Scoop" noch ruhig schlafen könne, fragte ich mich. Vulliamy hatte seine Reportage bereits einen Tag nach dem Besuch Trnopoljes fertiggestellt. Sein Artikel erschien am 7. August im "Guardian", wenige Stunden nachdem die ITN-Bilder erstmals am Abend des 6. August ausgestrahlt wurden. Auffällig ist, dass Vulliamy, der bei der Fertigstellung seines Textes den ITN-Fernsehbeitrag vermutlich noch nicht gesehen hatte, kein Wort über einen Stacheldrahtzaun verlor und zudem auch korrekt festhielt, dass Trnopolje nicht als Konzentrationslager bezeichnet werden könne. Seine recht ausgewogene und objektive Darstellung der Situation enhielt auch die Wiedergabe von Gesprächen mit vertriebenen Muslimen, die ihm berichteten, dass keine Gewalt gegen sie angewendet wurde und der Platz ihnen eine gewisse Sicherheit bot.
Der Tonfall des "Guardian"-Reporters bei der Beschreibung seiner Eindrücke von Trnopolje sollte sich aber bis zur Herausgabe seines Buches "Seasons in Hell" 1994 drastisch ändern. Anscheinend beflügelt von der Resonanz auf die Bilder, änderte er einige Passagen, und der Stacheldraht, den er in seinem ersten Artikel nicht einmal für erwähnenswert hielt, bekam auf einmal eine zentrale Bedeutung. Seine ersten Eindrücke von Trnopolje beschrieb er nun wie folgt: "Noch mehr schmutzige Wege, noch mehr abgebrannte Dörfer und letztlich etwas, was früher eine Schule war und ein weiterer erschreckender Unglücksort: ein überfülltes Lagergelände, umgeben mit Stacheldrahtzaun" (S. 104). Inar Gnoric, eine Muslimin, unterhielt sich mit Vulliamy in Trnopolje und erzählte ihm, dass sie aus Sicherheitsgründen freiwillig gekommen war. Im "Guardian"-Artikel wurde sie von Vulliamy mit den Worten zitiert: "Hier ist es sicherer, aber wir wissen nicht, welchen Status wir haben. Wir sind Flüchtlinge, aber es gibt Wärter und den Drahtzaun." Welchen Zaun sie auch immer gemeint haben mag: In Vulliamys Buch findet sich das Zitat in etwas abgewandelter Form, am Ende spricht Gnoric von einem Stacheldrahtzaun.
Wachsendes Selbstvertrauen im Umgang mit dem Stacheldrahtbild liess sich auch bei Marshall beobachten. Sie schrieb einen grossen Bericht für die "Sunday Times" am 16. August 1992. Dieser wirkte stellenweise wie eine Entschuldigung, so als sei ihr der Trubel um die besagten Bilder unangenehm gewesen. Sie verwies auf ihren Kameramann Irvin, der die Aufnahmen gemacht hatte, und auf ihren Chefredaktor, der bereit war, das Risiko des Unternehmens zu tragen.
Marshall erwähnte in ihrem ersten Artikel entgegen Vulliamy den Stacheldrahtzaun. Sie schrieb schlicht: "Draussen gab es Stacheldraht." Ihre Eindrücke bei einem zweiten Besuch des Lagers wenige Tage später hielt sie im gleichen Artikel wie folgt fest: "Draussen hatte sich das Lager in der Woche seit unserem ersten Bericht verändert. Der Stacheldrahtzaun war entfernt worden, und die Serben hatten den Gefangenen Material überlassen, um sich Schutzhütten zu bauen."
Kein Konzentrationslager
Die Schwachstelle ihrer Reportage, der Stacheldrahtzaun, war verschwunden. Doch Marshall hatte die Wahrheit geschrieben, denn die Zäune, die ihr Kameramann beim ersten Besuch filmte, wurden tatsächlich bis zu ihrer Rückkehr fast alle entfernt. Das konnte ich dem Filmmaterial entnehmen, das sie vom zweiten Besuch mit nach Hause brachte. Stehen blieben lediglich der niedrige Metallzaun um das Schulgebäude, einige kurze Zaunpfosten im Bereich der Strasse und um die Scheune mächtige Metallpfosten, an denen der Stacheldrahtzaun zuvor befestigt war. An der Westseite dieses Grundstücks blieben bis heute Reste des Stacheldrahts hängen.
Vulliamy schrieb in seinem Buch: "Vier Tage nach unserem Besuch in Trnopolje wurde der Zaun entfernt..." (S. 113). Auch er liess so das in der Öffentlichkeit verankerte Bild, das gesamte Gelände sei von Stacheldraht eingezäunt gewesen, unangetastet. Die unmenschlichen Zustände während des Krieges erscheinen für Beobachter in Westeuropa schwer nachvollziehbar und die Existenz solcher Zentren wie Trnopolje, in denen Menschen unter erbärmlichen Bedingungen lebten, zu Recht als Qual. Doch in Zeiten des Krieges sind zivile Normen nicht mehr gültig, und unter Berücksichtigung dieser Umstände lässt sich sagen, dass in Trnopolje das Leben relativ geordnet ablief. Meine Nachforschungen liessen mich zum Schluss kommen, dass die Bezeichnung dieses Ortes als Gefangenen- oder gar Konzentrationslager in dem Sinne, dass dort Menschen als Teil eines rassistischen Aggressionsplanes getötet und misshandelt wurden, jeglicher Grundlage entbehrt. Zweifelsohne kam es auch in Trnopolje zu Übergriffen und auch zu Vergewaltigungen und Morden. Doch so befremdlich es sich anhören mag: Hätte es dieses Zentrum für Vertriebene zum Zeitpunkt einer enormen Brutalisierung des Krieges und den Schutz durch serbische Soldaten nicht gegeben, hätten wohl weit mehr schutzlose muslimische Zivilisten ihr Leben verloren.
Die ITN-Reportage hatte ein falsches Bild des Lagers Trnopolje geliefert, und sie hatte auch Einfluss auf die westliche Politik gegenüber den bosnischen Serben. Eine Welle verschärfter Repressionen bis hin zur Androhung von Militärschlägen waren die Folge. Auch beim ersten Prozess des Kriegsverbrechertribunals in Den Haag gegen den bosnischen Serben Dusko Tadic spielte der Stacheldrahtzaun eine bedeutende Rolle. Tadic wurde vom Zeugen "L" - später bekannt als Dragan Opacic und überführt, von der Polizei in Sarajevo zur Falschaussage gezwungen worden zu sein - beschuldigt, im Lager Trnopolje an Morden und Vergewaltigungen teilgenommen zu haben. Opacic hatte am 15. August 1996 im Gerichtssaal in Den Haag auf eine Skizze gezeichnet, wie der Stacheldrahtzaun angeblich das gesamte Lagergelände einzäunte.
Auch Vulliamy wurde in den Zeugenstand geladen. Am 6. und 7. Juni 1996 gab er seine Erfahrungen über verschiedene Aspekte des Balkankriegs wieder. Seine Ausführungen wurden über weite Strecken vom Abspielen von ITN-Bändern begleitet. Als sich Vulliamy der Stelle mit dem Stacheldrahtbild mit Fikret Alic näherte, bat er darum, das Videogerät abschalten zu lassen: "Ich weiss nicht, wer darüber mehr verblüfft war, die anderen zu sehen. Wir, die wir die Leute hinter dem Stacheldrahtzaun erblickten, oder sie, die eine Gruppe von Leuten mit Notebooks und Kameras aus dem Bus steigen sahen. Wir liefen ihnen über ein Stück Land entgegen. Wir haben einigen von ihnen die Hände geschüttelt. Das war verwirrend. Ich beschreibe, wer hinter dem Zaun war, lieber mit abgeschaltetem Video, weil ich es besser kann, wenn ich nicht versuche, den Bildverlauf zu kommentieren."
Warum Vulliamy gerade diese eindrucksvollen Szenen nicht vorgeführt sehen wollte? Meine spontane Idee war, dass er möglicherweise Rückfragen über den Stacheldraht vermeiden wollte. Die Krönung offerierte mir Rechtsanwalt Wladimiroff. Er erzählte mir, dass er Opacic, einen Tag nach seiner Entlarvung als Lügner, über die Hintergründe seiner Falschaussage befragte. Opacic berichtete, dass ihm in Polizeigewahrsam in Sarajevo Videoaufnahmen von Dusko Tadic und von Trnopolje, das er nur flüchtig kannte, vorgeführt wurden. Darunter sei auch das Filmmaterial von ITN mit dem Stacheldrahtzaun gewesen. Wäre Opacic nicht vorzeitig der Lüge überführt worden, hätte Tadics Verteidiger den Stacheldraht zur Sprache gebracht, und möglicherweise wäre schon dann das ITN-Bild aufgeflogen.
* Thomas Deichmann (34) ist freier Journalist, Novo-Redaktor und Mitarbeiter des "London International Research Exchange". Eine Dokumentation seiner Untersuchungen mit Interviews, Fotos und Skizzen erscheint in diesen Tagen (Thomas.Deichmann@t-online.de).
Quelle: http://www.weltwoche.ch/archiv/ausland/02.97.bosnien.html