ah so, und was ist jude, was ist atheist zmaj?
NZZ Folio 01/08 - Thema: Jung und jüdisch
«Wer ein Jude ist, bestimme ich!»
Wer oder was ein Jude ist, haben die Feinde der Juden immer wieder zu definieren versucht. Vergeblich. Noch heftiger allerdings streiten die Juden selbst darüber.
Von Doron Rabinovici
Kennen Sie den? Fragt einer den anderen im Zug: «Entschuldigen Sie bitte, ich möchte Ihnen nicht zu nahe treten, aber sind Sie Jude?» – «Wo denken Sie hin? Keineswegs.» Nach einer Weile: «Verzeihung, aber sind Sie nicht dennoch jüdisch?» – «Nein, ich sagte Ihnen schon, ich bin kein Jude.» Es vergeht nicht viel Zeit, da fragt der erste wiederum: «Nehmen Sie es mir nicht übel, aber zum letzten Mal: Sind Sie nicht doch womöglich irgendwie jüdisch?» – «Also gut», gesteht der Mann: «Stimmt. Ich bin Jude.» – «Merkwürdig», sagt sein Gegenüber, «Sie sehen nämlich überhaupt nicht jüdisch aus.»
Wer jüdisch ist und was unter dem Judentum zu verstehen sei, wurde im Laufe der Geschichte vor allem von jenen heftig erörtert, die jüdische Menschen verabscheuten. Die Auseinandersetzung über das sogenannte Wesen der Juden hatte, wie allgemein bekannt, auch tödliche Folgen. Und zwar für die Juden.
Die Nazis gaben sich redlich Mühe, um zu einer eindeutigen Definition zu gelangen. Die verschiedenen Bestimmungen, welcher Mensch und welche Familie nicht zu den sogenannten Arischen gezählt werden dürfe, waren auch vielen nationalsozialistischen Beamten zu verworren. Unterschieden wurden nicht nur Halbjuden von Vierteljuden, nicht bloss Mischlinge ersten von solchen zweiten Grades. Lebenswichtig konnte sein, ob jemand vor oder nach der Einführung der Rassengesetze zum Judentum übergetreten war. Um zu bestimmen, wer, wie es damals hiess, deutschen Blutes sei, wurden oft unzuverlässige alte Kirchenbücher zu Rate gezogen. Die Basis der vermeintlichen Erbwissenschaft war nicht Biologie, es waren diese vergilbten Pfarrunterlagen. Karl Lueger, Wiener Bürgermeister vor etwa hundert Jahren und der erste Volkstribun des populistischen Antisemitismus, erklärte hingegen einfach: «Wer ein Jud ist, bestimme ich!»
Heute fragt auch keiner mehr nach dem Ariernachweis, wenn es gegen die Juden geht, und es ist seit Auschwitz nicht mehr schick, ein Antisemit zu sein. Die moderne Wissenschaft kennt keine Semiten und keine semitischen Völker, sondern allenfalls semitische Sprachen. Das typisch jüdische Aussehen kann niemand definieren. Was sollten denn auch die gemeinsamen rassischen Merkmale sein, die wir bei Sammy Davis Jr., Paul Newman und Scarlett Johansson ausmachen könnten?
Falsch wäre allerdings zu glauben, die Frage, wodurch Juden definiert sind, beschäftige bloss ihre Feinde. Gemäss den rabbinischen Regeln ist jüdisch, wer einer jüdischen Mutter entstammt oder zum Judentum übergetreten ist. Allein diese Definition eröffnet ein weites Feld der Auseinandersetzung, denn die Konversion einer jüdischen Kongregation wird von einer anderen nicht unbedingt anerkannt. Es existieren orthodoxe und sogenannte ultraorthodoxe, konservative und verschiedene reformerische Strömungen. Die chassidischen Schulen, die traditionell frommen, grossteils mystischen Bewegungen, tragen eine jeweils eigene Tracht. Zwischen Satmarern und Chabadniks werden etwa keine Ehen gestiftet. Nicht wenige meinen deswegen, die Religion sei weniger, was das Judentum eint, als vielmehr, was es trennt.
Zudem ist im rabbinischen Verständnis sogar ein Atheist ein Jude, wenn er Sohn einer jüdischen Frau ist, und er bleibt es, ob er Schweinsgulasch isst, bunte Ostereier sucht oder nach Mekka pilgert. Die Gläubigen sehen sich vor allem als Volk. Im Grunde ist das Judentum das Bekenntnis der Juden und zu den Juden selbst. Ähnliche Verquickungen ethnischer und religiöser Identität kommen auch bei anderen Gemeinschaften vor. Die Drusen sind etwa eine Glaubensgemeinschaft, zu der nur die Nachkommen drusischer Eltern gehören. Sogar Konversion ist bei den Drusen unmöglich. Eine vollkommen abgeschiedene Schweizer Alpensiedlung, deren Bewohner allesamt von jüdischen Müttern abstammten, bliebe nach der Halacha, nach der gesetzlichen Überlieferung der Religiösen, ein Ort von Juden, selbst wenn die Dörfler seit Generationen nichts vom Judentum wüssten und einen fremden Gott anbeteten. Kurz und gut: Sogar im Gletscher gibt es kein Entrinnen vor der Identität.
Die Identität selbst ist aber nicht so festgefroren, wie sie scheint, sondern wechselte im Laufe der Jahrhunderte ihren Charakter. Der Glaube an einen Gott setzte sich nur allmählich unter den Kindern Israels durch. «Elohim», das hebräische Wort für Gott, zeugt noch von diesem Polytheismus, denn es ist eine Pluralform. Die fünf Bücher des Moses wurden erst im babylonischen Exil oder später geschrieben. So verwundert es auch nicht, wenn vieles, was nun das innerste Wesen des Judentums ausmacht, sich bloss in der Diaspora durchsetzte. Einst bestimmte etwa der Vater die Zugehörigkeit zum Volk des Buches. Wenn allerdings heute ein Teil der Reformbewegung auch Kinder jüdischer Väter eingemeindet, wehrt sich die Orthodoxie dagegen.
Die Mehrheit der Juden in den USA und in Israel ist übrigens säkular. Viele sehen sich eher als Teil einer Kultur. Von der Existenz eines Vaters im Himmel sind sie nicht überzeugt, aber an der Macht der jiddischen Mamme zweifeln sie keine Sekunde. Sie glauben an den Reichtum hebräischer und jiddischer Kunst, an die Prägungen durch gemeinsame Geschichte und gemeinsames Schicksal, an die Traditionen des jüdischen Humors.
Dennoch können auch jüdische Atheisten die Bedeutung der Riten und der Religion nicht verleugnen. «Der Gott, an den ich nicht glaube, ist ein jüdischer», erklärte David Ben Gurion.
Ben Gurion, der erste Premierminister des Staates Israel, war davon überzeugt, dass die Juden ein Volk seien. Andere Menschen jüdischer Herkunft lehnen es strikt ab, von einer jüdischen Kultur zu reden, die jemenitischen, französischen, brasilianischen und schwedischen Juden gemeinsam sei. Was wisse denn ein indischer Jude vom Schicksal der polnischen? Für den bedeutenden Kunsthistoriker Sir Ernst Gombrich stand gar fest, der Begriff der jüdischen Kultur stamme bloss von Hitler, denn die Wiener Assimilierten aus jüdischen Familien hätten sich ihren nichtjüdischen Nachbarn näher gefühlt als jenen, die aus den Schtetln des Ostens eingewandert waren. Dem muss entgegengehalten werden, dass als sogenannte Assimilanten im Österreich des frühen zwanzigsten Jahrhunderts pikanterweise nur Menschen jüdischer Herkunft bezeichnet wurden. Die Paradoxie war offenkundig: Der Begriff der «Assimiliation» umschrieb damals eine, wie gesagt wird, rein jüdische Erscheinung.
Gombrich, der in den 1930er Jahren aus Österreich nach England emigriert war, bestand darauf, dass viele, die wir heute als jüdische Künstler, Schriftsteller und Wissenschafter aus Wien und Deutschland ehren, sich damals nie als solche bezeichnet hätten. Der Hinweis auf diese Eigendefinition ist wichtig und muss ernst genommen werden. Gombrich sprach auch für sich selbst. Dennoch kann nicht ausser Acht gelassen werden, dass die Emanzipation nur eine hehre Hoffnung geblieben war, die, wie wir heute wissen, blutig scheiterte. Von dieser Niederlage zeugt ebenso Gombrichs These, denn im Grunde sagt uns der Kunsthistoriker hier, er sei kein Jude, und er müsse es ja wissen, weil er letztlich einer sei.
Ich erinnere mich an ein Treffen Mitte der 1980er Jahre zwischen dem einstigen österreichischen Bundeskanzler Bruno Kreisky und israelischen Friedensaktivisten. Kreisky begann das Gespräch, indem er erklärte, die Juden seien kein Volk und er sei folglich kein Jude. Ein israelischer Wissenschafter erklärte daraufhin behutsam, wie kompliziert doch die Begriffe Religion, Volk und Nation seien. «In den USA etwa», erläuterte er, «kann jemand sich durchaus der katholischen Religion, dem irischen Volk und der amerikanischen Nation zugehörig fühlen.» Kreisky versetzte: «Das mag ja in Amerika so sein, bei uns ist das nicht so.» Darauf ergriff ein israelischer Psychoanalytiker das Wort: «Wenn Bruno Kreisky sagt, es gebe kein jüdisches Volk und er sei kein Jude, dann respektiere ich das. Falls mich aber jemand fragen sollte, wer der bedeutendste jüdische Politiker in unserer Epoche sei, dann würde ich Bruno Kreisky nennen.» Dieser Argumentation konnte sich der Bundeskanzler denn doch nicht versperren. Er sagte: «Schauen Sie, da werd ich ihnen einen jüdischen Witz erzählen. Geht 1938 ein orthodoxer Jud über die Urania. Hält ihn ein Polizist auf und sagt ihm: ‹Hören S’, gehen Sie da nicht weiter, weil da drüben sind die Nazibuam, und die werden Sie piesacken.› Darauf der Jude mit den Pejes, dem Kaftan und dem Jarmikel: ‹Danke, Herr Inspektor! Aber ach, ich werd mich nicht zu erkennen geben.› Und sehen Sie», schloss Kreisky, «so geht es mir manchmal auch.»
Kreisky wusste, wovon er sprach. Selbst in der politischen Linken wurde nicht vergessen, wer Jude war. Ich erinnere mich an einen tschechoslowakischen Politiker, der nach dem Prager Frühling zu den Vernehmungen geholt wurde. «Sie sind Zionist», fuhr ihn der Verhöroffizier an. – «Nein, ich bin Kommunist, aber Sie meinen wohl, ich sei Jude.» – «Passen Sie auf! Das habe ich nicht gesagt, wir sind keine Antisemiten. Gestehen Sie, dass Sie Zionist sind.» – «Ich bin kein Zionist», antwortete er. «Ich bin jüdischer Abstammung – wie Karl Marx.» – «Was», entfuhr es dem Offizier, «der war auch Zionist?»
Gombrichs These, die Nazis erst hätten den Gedanken an eine eigenständige jüdische Kultur erfunden, lässt sich leicht widerlegen, denn auch in sowjetischen Pässen wurde festgehalten, wer der jüdischen Nation angehörte. Die Juden gelten selbst in vielen jener Länder, die Religion oder Ethnizität in keinem Ausweis festhalten, als fremdes Volk, und die Idee zur Kennzeichnung der Pässe reichsdeutscher Juden mit einem J stammte bekanntlich nicht allein aus Berlin. In «Die Schweiz und die Juden» hat der Historiker Jacques Picard 1994 nachgewiesen, dass der «Judenpass» des Deutschen Reiches von Schweizer Amtsstellen eingefordert und vom Schweizer Bundesrat sanktioniert worden war.
Die Juden sind, bei aller Vielfalt, eine Schicksalsgemeinschaft, die auf historischen und kulturellen Gemeinsamkeiten fusst. Sie verfügen über eigene Sprachen wie Hebräisch, Jiddisch und Ladino, über eine reiche Tradition von Literatur über Folklore bis Musik. Die Mehrheit der Juden bezeichnet sich als Volk, wobei lange darüber gestritten werden kann, was unter diesem Begriff zu verstehen sei, aber welchen Sinn hätte das Selbstbestimmungsrecht der Völker, wenn die Völker nicht einmal selbst bestimmen könnten, ob sie welche sind. Vielleicht ist ein Volk nichts als eine Gruppe von Menschen, die sich als ein solches sieht und genug Aufhebens darum macht, um diesen mythischen Glauben an sich selbst vertreten zu können.
Die Vielfalt des Judentums spricht jedenfalls nicht dagegen, ein Volk zu sein. Kultur war von Anfang an Assimilation und Wechselwirkung. Kennen Sie den Pizza-Effekt, wie er in der Sozialwissenschaft genannt wird? Anfang des 20. Jahrhunderts hatten arme sizilianische Einwanderer in New York nichts anderes zu essen als altes Brot, das sie mit Tomatensauce bestrichen. Mit ihrem gesellschaftlichen Aufstieg veränderte sich der Imbiss, sie kneteten frischen Teig, um ihn mit Käse, Fleisch, Schinken und Gemüse zu belegen. In den Ferien in Italien servierten sie ihren Verwandten die neue Köstlichkeit. So entstand jenes Gericht nicht in Neapel, wie es die Legende uns immer weismachen wollte, sondern in Amerika. Ein Gericht, das dann als echte italienische Nationalspeise zu Weltruhm gelangte.
Das Judentum ist eine Pizza. Die eine einzig wahre Pizza gibt es ebenso wenig wie das einzig wahre Judentum. Sie wird da mit Käse serviert und dort mit Schinken, und wer je Italiener darüber streiten hörte, ob, was mit Ananas daherkommt, noch eine echt italienische Pizza genannt werden dürfe, erinnert sich an manche Debatte zwischen Orthodoxen, Reformern, Konservativen und Säkularen.
So wird weiterhin darüber gestritten, was jüdisch ist. Die Debatte kommt ohne jene Allmachtsansprüche aus, die manch andere Religion auszeichnet. Das Judentum missioniert nicht. Es will gar nicht die Welt dominieren. Jahrhundertelang wurden Interessierte eher abgewiesen, denn die ganze Gemeinde konnte in Gefahr geraten, konnte einem Pogrom zum Opfer fallen, wenn ein Christ Jude wurde. Die Rabbiner waren und sind deshalb vorsichtig. Die Konversion ist eine langwierige Prozedur, die kaum ein Jude, der als solcher geboren wurde, auf sich nehmen würde.
Mittlerweile muss kein Rabbiner mehr die Rache der Christen fürchten, wenn ein Nichtjude übertritt. Im Gegenteil, Bagel und Klezmer sind hip. Während sich vor einigen Jahrzehnten noch viele aus existentiellen Gründen bemühen mussten, einen Ariernachweis zu erlangen, wollen nun manche Kinder von Nazis auf die richtige Seite der Geschichte wechseln und sind scharf auf eine Beschneidung. Wer die religiöse Konversion allerdings einmal absolviert hat, ist und bleibt Jude. Halbe Portionen und Viertelidentitäten kennt das Judentum nicht. Jene hingegen, die als Nachkommen eines jüdischen Vaters antisemitisch verfolgt wurden, können zwar das sogenannte Rückkehrrecht für die Immigration nach Israel nutzen, werden als Bürger in die Armee einberufen, mögen für das Land kämpfen und sterben, sind aber nach rabbinischer Auslegung keine Juden.
Was in der Diaspora einst sinnvoll erschien, wird nun von vielen abgelehnt. Nicht wenige fordern, die Regeln des Übertritts den Verhältnissen der Moderne und den Erfordernissen im jüdischen Staat anzupassen. So etwa Jossi Beilin, Vorsitzender der linkszionistischen Partei Meretz-Jachad. Der Politiker schlägt vor, den Rabbinern die Entscheidung über die Zugehörigkeit zum Judentum zu entwinden. Er will die kulturelle Konversion zum Judentum einführen. Das könnte eine passende Antwort auf die Säkularisierung sein. Manche meinen, jeder solle doch selbst bestimmen, ob er nun jüdisch sei oder nicht. Die Identität wäre dann eine reine Willensfrage, als hätte das Wesen mit dem Gewesenen gar nichts zu tun und als könnte jeder unabhängig von Fremdbildern frei entscheiden, ob er lieber Jude, Apache oder der Weihnachtsmann ist.
Die Mehrheit der jungen Generation im Judenstaat misst dem religiösen Gesetz nicht so viel Bedeutung bei wie dem nationalen. In Amerika wiederum prägt die Reformbewegung die Debatte. In den kleineren Gemeinden Europas ist es, als zwängen Massenmord und Vernichtung manche Nachgeborenen zum orthodoxen Rückgriff. Einige werden so orthodox, wie es die ermordeten Vorfahren nie waren. Der offene Bruch verführt zur Suche nach einem Ursprung, aber wer den Wurzeln nachgeht, stösst vor allem auf Narben, auf Amputationen und auf Phantomschmerzen.
Eine Einigung in dem Jahrtausende alten Disput, was jüdisch ist, scheint nicht in Sicht. Womöglich ist es eben immer eher die Frage als die eine einzige Antwort, die das jüdische Dasein ausmacht. Die Auseinandersetzung selbst ist Ausdruck der Vielfalt und Lebendigkeit dessen, was wir in trügerischer Einzahl Judentum nennen.
Doron Rabinovici ist Schriftsteller, er lebt in Wien.