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Gast829627
Guest
"Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen." So steht es im Buche Exodus (22,18), und so beginnt auch der Eintrag Hexen. Die grauenhafte und tragische Geschichte des Hexenwahns beginnt also mit einem Übersetzungsfehler: Das hebräische Wort, das an dieser Stelle verwendet wird, ist wesentlich treffender mit "Giftmischerinnen" zu übersetzen (ähnlich dem Fehler, der aus der "jungen Frau" Maria die "Jungfrau" Maria machte).
Allerdings kann man davon ausgehen, dass es auch ohne explizite biblische Aufforderung eine Hexenverfolgung gegeben hätte. Die eigentliche "Bibel" der Hexenjagden war eines der berüchtigsten Werke der Weltgeschichte: Der sogenannte Hexenhammer (Malleus Maleficarum) der beiden Dominikanermönche Jakob Sprenger und Heinrich Institoris (Krämer). Er wurde 1486 auf Latein veröffentlicht und kann als der erste Bestseller der Weltgeschichte bezeichnet werden, denn die zu diesem Zeitpunkt gerade 40 Jahre alte Erfindung der Druckerpresse verschaffte ihm eine einzigartige Verbreitung. Angestoßen wurden die Autoren von der berühmten Bulle "Summis Desiderantes" des hexengläubigen Papstes Innozenz VIII. (1484-1492), die als "Hexenbulle" in die Geschichte eigegangen ist.
"Die innere Primitivität, mit der er den phantastischen Ammenmärchen der beiden düsteren Gestalten [Sprenger und Institoris] Glauben schenkte und ihnen damit Anlass zur Abfassung eines der entsetzlichsten Machwerke der Literatur aller Zeiten [...] gab; und weiter die Form, in der er schwerste Kirchenstrafen androhte, wenn man die beiden in ihrem Tun behindere, haben sein Ansehen und das hohe Ansehen des Papsttums mehr als alles andere befleckt." (Hans Kühner)
Man kann allerdings nicht sagen, dass Innozenz oder die Dominikanermönche die Hexenverfolgung eingeführt hätten; Hexengeschichten sind so alt wie die Menschheit. Was sie allerdings bewirkten, war eine Systematisierung der Verfolgung, die die ohnehin geringen Überlebenschancen der Angeklagten gegen Null streben ließ. Insbesondere der dritte Teil des Hexenhammers - die Prozessordnung - sollte sich als verheerend erweisen. Dennoch dauerte es noch beinahe hundert Jahre, ehe der Hexenwahn zu einer wahren Epidemie wurde; bis dahin waren Hexenprozesse eher vereinzelt geblieben.
Ein typischer Hexenprozess begann üblicherweise mit einer - meist anonymen - Beschuldigung, zu der man sich vor dem Inquisitionsgericht äußern musste. Wenn man nicht sehr viel Glück oder einen exzellenten Anwalt hatte - der nicht zu eifrig auftreten durfte, um sich nicht verdächtig zu machen - wurde aus der Befragung (eigtl. Bedeutung des Wortes Inquisition) ein echtes Verhör, das mit dem Zeigen der Folterinstrumente und schließlich der tatsächlichen Folter fortgesetzt wurde. Es gab üblicherweise fünf Stufen der Folter, die von den Inquisitoren variiert werden konnten; überlebte eine Angeklagte tatsächlich alle fünf Stufen, ohne zu gestehen, war sie frei (eine Sitte, die Sprenger/Institoris sehr missfiel und die sie im Hexenhammer zu unterminieren versuchen). Die Wasser- oder Feuerprobe war bei weitem nicht die einzig mögliche Methode.
Der genaue Ablauf des Prozesses hing sehr von den beteiligten Personen und der Region ab, in der er stattfand. Da die Inquisition auf die weltlichen Behörden zur Durchsetzung der Urteile angewiesen war, musste sie versuchen, sich deren Kooperation zu sichern, etwa durch Bestechung, Überredung oder Drohung (man denke an Innozenz' Strafen). Viele Mächtige waren natürlich selber ebenfalls hexengläubig. Auch die Persönlichkeit der Inquisitoren spielte eine Rolle; anders als viele meinen, war nicht jeder Inquisitor ein perverser Wüstling und roher Folterknecht, und manche waren durchaus an der Wahrheit interessiert. In Städten wie Frankfurt oder Basel kam es nur zu wenigen Hexenprozessen; in Holland etwa erreichten sie nie die Verbreitung, die sie in Deutschland, England, der Schweiz oder Frankreich hatten. In protestantischen Ländern waren Hexenprozesse im Allgemeinen häufiger als in katholischen; in Spanien trat der Hexenprozess gegenüber dem Ketzerprozess in den Hintergrund.
Vor der Veröffentlichung des Hexenhammers war eine übliche Strafe für eine bußfertige Hexe lebenslange Kerkerhaft, aber danach war die bei weitem häufigste Strafe das Verbrennen, oft bei lebendigem Leibe. Aber nicht jeder Hexenprozess endete mit der Todesstrafe; das ganze Instrumentarium von Leibstrafen über Geldbußen bis hin zu Kirchenstrafen wurde eingesetzt. Nach einem Schuldspruch wurde der Besitz der Hexe konfisziert und kam teils den Inquisitoren, teils des weltlichen Behörden zugute, ein Brauch, der dazu führte, dass nach einer Weile mehr und mehr wohlhabende Leute angeklagt wurden.
Im Zuge des Hexenhammers war jeder noch so hinterhältige Trick erlaubt, um eine Hexe zum Geständnis zu bringen. So konnte der Inquisitor ihr Strafminderung versprechen, ohne dieses Versprechen halten zu müssen; er konnte sich Beschuldigungen und Ankläger ausdenken und nach Belieben Zeugenaussagen fälschen, da es der Angeklagten gemäß Vorschrift nicht gestattet war, ihren Anklägern gegenüberzutreten. Es wurde ihr außerdem nahegelegt, noch weitere Hexen zu benennen, gegen die dann ein neuer Prozess angestrengt werden konnte. Die Inquisitoren scherten sich nur selten um das Beichtgeheimnis, dem sie kirchenrechtlich eigentlich unterlagen.
In den Folterstuben haben sich grauenhafte Szenen abgespielt, die nicht selten in Vergewaltigung und sexuellen Sadismus mündeten. Die Technik, durch Stechen in verschiedene Körperteile der Hexe das sogenannte "Hexenmal" ausfindig zu machen, war eine hervorragende Methode, die Angeklagte ausziehen und berühren zu dürfen - alles für die Wahrheitsfindung. Ein englischer Hexenjäger gab Mitte des 17. Jahrhunderts zu, er sei für den Tod von 220 Frauen verantwortlich - für jeweils 20 Shilling pro Opfer (er endete am Galgen). Die Befragungen nahmen häufig einen verschwitzt-sexuellen Ton an, und viele Inquisitoren erkundigten sich sorgfältig nach allen Details der erotischen Eskapaden mit Satan und seinen Dämonen.
Im Hexenprozess ging es nicht nur im einen religiösen, sondern meist auch um einen tatsächlichen Schaden, der von der Hexe angerichtet worden sein soll: Kinder werden krank, Kühe sterben, Scheunen brennen, die Ernte ist verdorben und so weiter. Da solche Ereignisse ständig vorkamen, war auch immer Bedarf an Schuldigen, und da man sich im Prozess nicht mit Logik, Motiv, Gelegenheit und Alibi herumschlagen musste, war eine Verteidigung praktisch unmöglich. Carl Sagan schreibt über einen Fall, in dem ein Ehemann zugunsten seiner angeklagten Frau aussagt, sie habe sich zu der Zeit, zu der sie angeblich zu einem Hexenritt ausgefahren sei, in seinen Armen befunden. Der Bischof belehrte ihn darüber, dass ein Dämon die Gestalt seiner Frau angenommen habe; er solle nicht glauben, seine Wahrnehmung sei der Täuschung Satans gewachsen.
Obgleich die Manie im späten 16. und im 17. Jahrhundert ihren Höhepunkt erreichte, hatte es schon im 14. Jahrhundert in Frankreich zahlreiche Hexenprozesse gegeben, so dass man das Phänomen zeitlich nicht zu sehr einschränken sollte. Auch ist es nicht auf unseren Kulturkreis beschränkt; Irenäus Eibl-Eibesfeldt berichtet von den neuguineischen Eipo, die auf sehr ähnliche Weise Hexen ausfindig machen und töten.
Friedrich von Spee
Einer meiner persönlichen Geschichtshelden ist der Jesuit Friedrich von Spee (1591-1636), dessen 1631 erschienene Cautio Criminalis den ersten wohlüberlegten Schlag gegen den Hexenwahn führte. In seinem Werk - er sammelte persönliche Erfahrungen als Beichtvater von Hexen - geht er streng logisch und rational vor und zerpflückt mühelos das durchsichtige Gewebe der Hexenprozesse; auch gelingt es ihm, die Rolle der Inquisitoren und Fürsten akkurat zu beschreiben, womit er sich natürlich keine Freunde machte. Von Spee starb während der Pflege pestkranker Soldaten selber an der Pest, bevor er bestraft werden konnte.
Interpretationen des Hexenwahns
Zum Hexenwahn führten viele Wege, und wie alle komplexen historischen Phänomene lässt er sich nicht durch einen einzigen Aspekt erklären. Die folgenden Umstände dürften zu ihm beigetragen haben:
1) Viele Menschen dieser Zeit waren auf eine Weise religiös, die uns heute beinahe unvorstellbar erscheint, und sie empfanden Verbrechen gegen Kirche und Glauben als die schlimmsten und todeswürdigsten Verbrechen überhaupt. Wie die meisten Religionen verlangt auch der christliche Glaube, dass der Gläubige den haltlosesten Aberglauben für bare Münze nehmen soll. Ein Mensch, der sozusagen mental schon darauf eingestimmt ist, an Dämonen, Engel und Wunder zu glauben, hat kaum noch Überreste an Kritikfähigkeit, und wenn doch, so waren die Geistlichen jener Zeit Experten darin, ihm diese auszutreiben.
2) Die Macht der Kirche war wesentlich konkreter spürbar als heute, und das in einem ganz und gar weltlichen Sinne. Selbst wenn man den geistigen Sprung weg von der Kirchendoktrin schaffte, so sah man sich immer noch einer gefährlichen und gut verschanzten weltlichen Macht entgegen. Dies dürfte dazu beigetragen haben, dass auch aufgeklärte und eher antikirchlich eingestellte Fürsten sich lieber nicht querlegten.
3) Die beiden ersten Faktoren trugen mit zu einem dritten, dem in der heutigen Diskussion häufig der Vorrang gegeben wird: Der Hexenwahn sei eine Folge der sexuellen Repression gewesen, die im christlichen Abendland herrschte. Dafür sprechen einige Umstände, etwa die Überzahl der hingerichteten Frauen (70 bis 75%, allerdings regional sehr unterschiedlich), die eindeutig sexuell motivierten Verhöre und die moralische Entwicklung einer Zeit, in der die christlichen Vorstellungen von Sitte und Anstand sich durchgesetzt hatten (das so oft geschmähte Mittelalter war wesentlich lebensfroher und sinnlicher).
4) Im Zuge einer zunehmenden Verstädterung, einer erhöhten Bevölkerungsdichte und einer unerträglichen Reglementierung selbst der kleinsten Kleinigkeiten (Kleidung, Zunftwesen, Heiratserlaubnis) hatten sehr viele Menschen eine Menge Dampf abzulassen. Man kann sich die engen, finsteren und stinkenden Städte dieser Zeit nicht eng, finster und stinkend genug vorstellen; und immer mehr Menschen lebten in ihnen. Hexenprozesse waren Unterhaltung, Spektakel, Fernsehen und Fußballspiel in einem. Der Hexenwahn war kein von oben verordnetes Schauspiel, das die Masse mürrisch über sich ergehen ließ, sie waren überaus populär zu einer Zeit, die außer Sex und öffentlichen Spektakeln praktisch keine Unterhaltung für den Durchschnittsmenschen zu bieten hatte - und viele dieser öffentlichen Spektakel waren Prozesse und Hinrichtungen aller Art.
5) So schmerzhaft und traurig jeder Todesfall auch für den Einzelnen war, die Menschen früherer Zeit waren viel stärker vom Tod umgeben als heute. Ein erwachsener Mensch des Jahres 1600 hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit schon mehrere Geschwister, eigene Kinder und seine Eltern sterben sehen, dazu noch mehrere Nachbarn, Freunde und Bekannte. Es ist falsch, anzunehmen, die Menschen jener Zeit seien "kulturell" derart geprägt gewesen, dass sie um ihre Verluste nicht trauerten; ganz im Gegenteil: Eben diese ständige Benommenheit muss häufig zu Depressivität und Wut geführt haben, Wut auf diejenigen, die dafür verantwortlich waren (etwa die Hexen) und Wut auf diejenigen, denen es besser ging. Da man sich mit den wahrhaft Mächtigen nicht anlegen konnte, mussten eben scheinbar Mächtige herhalten; der Hexenwahn zeigt hier Parallelen zur Judenfeindlichkeit oder zum Hass auf "Ungläubige". Die ständige Angst vor Unglücken, mit der man leben musste, verlangte häufig nach Sündenböcken.
6) Dass Frauen etwa drei Viertel der Opfer ausmachten, ist schon unter dem Aspekt der Sexualität beschrieben worden. Aber auch handfestere Gründe dürften dazu beigetragen haben: Frauen hatten praktisch keine Macht und waren daher wesentlich gefahrloser anzuklagen als viele Männer; alte alleinstehende (verwitwete) Frauen waren viel häufiger anzutreffen als alte alleinstehende Männer (sei es durch die höhere Lebenserwartung, sei es durch Krieg, Unfall etc.) und praktisch wehrlos; und schließlich war die Kirche eine praktisch rein männliche Organisation (mit häufigen homosexuellen Untertönen), in der Frauen nicht auf geschlechtsbedingte Solidarität hoffen konnten.
7) Die Konfiszierung des Vermögens der Hexen durch die Kirche oder durch weltliche Behörden stellte sicherlich einen weiteren Antrieb dar, darf aber nicht überbewertet werden. Es hat schon immer habgierige Machthaber gegeben, aber nur einen Hexenwahn; und Menschen, bei denen was zu holen ist, sind meistens auch Menschen, die sich wehren können, sei es durch Bestechung, Beziehungen oder Söldnertrupps. Die meisten Opfer des Hexenwahns waren alles andere als wohlhabend.
8) Freudianer weisen gerne auf die sogenannte "Projektion" von verdrängten Wünschen (etwa nach ungehemmtem Sex) hin, die dann zu einer besonders wütenden Verfolgung derjenigen führe, die sich ausleben oder von denen man es zumindest annimmt. Damit erklären Psychoanalytiker auch die Aggressionen, die bei Verbrechen wie Vergewaltigung entstehen: Man hasst denjenigen, der es tut, weil man es selber gerne täte, sich aber nicht traut.
Diese Vorstellung ist nicht haltbar. Sie erklärt zunächst einmal nicht, warum auch zahlreiche Kinder dem Hexenwahn zum Opfer fielen; Kindern kann man ja kaum ungehemmte Ausschweifungen unterstellen. Dann gibt es keinerlei Hinweise dafür, dass Männer etwa aggressiver als Frauen reagieren, wenn sie von Vergewaltigung hören; tatsächlich ist ein Element feministischer Kritik, das auch bei einem so scheußlichen Verbrechen noch die alte Männersolidarität mitspielt. Die lautesten Forderungen nach Todesstrafe werden immer im Zuge von Morden an Kindern erhoben: Es bedarf schon großer Phantasie, um hier irgendwo eine Projektion am Werke zu sehen.
Wesentlich überzeugender in diesem Zusammenhang ist die simple Weisheit: Verbrechen, die auch mir oder meiner Familie geschehen können, sind besonders schlimm. Die meisten von uns haben entweder Kinder - die entführt und getötet werden können - oder möchten einmal welche, wir haben oder sind Töchter, Schwestern, Freundinnen, die vergewaltigt werden können, jeder von uns kann ermordet werden, brutal zusammengeschlagen, ausgeraubt. Was wirklich zählt und Aggressionen hervorruft, ist die Hilflosigkeit der Opfer - und hilflos sind nun mal eher Frauen, alte Menschen, Kinder, Menschen, die von einer ganzen Horde überfallen werden. Lesen wir in der Zeitung "30jähriger von hinten niedergestochen", dann sagen wir "schlimm"und lesen weiter; lesen wir aber "88jährige von hinten niedergestochen", dann werden wir sehr viel zorniger. Wirtschaftskriminalität oder Versicherungsbetrug lassen uns vergleichweise kalt und werden erst dann konkret, wenn zum Beispiel Arbeitsplätze gefährdet sein könnten.
Sollte es so etwas wie "Projektion" überhaupt geben, dann spielt sie für den Hexenwahn sicher nur eine minimale Rolle.
9) Ebenso wenig zutreffend ist die Interpretation, derzufolge der Hexenwahn eine Art "bevölkerungspolitischer Maßnahme" gewesen sei; durch neue Wirtschaftsformen sei es zu einem Bedarf an Arbeitskräften gekommen, und daher habe eine Verfolgung der Hebammen und "Weisen Frauen" eingesetzt, die über Kenntnisse von Verhütung und Abtreibung verfügten. Zunächst einmal unterstellt man den Mächtigen damit eine Weitsicht und Planungsfähigkeit, die ihnen zuviel Ehre antut, aber selbst wenn die Erhöhung der Bevölkerungszahl in ihrer Absicht gelegen hätte, ist doch ein Massenmord vor allem an Frauen der allerschlechteste Weg, um viele Kinder zu produzieren - ganz zu schweigen von der harten Haltung der Kirche gegen uneheliche Kinder, außerehelichen Sex und so weiter. Aber die Vorstellung, dass jemand für die wirtschaftlichen Bedürfnisse in zwanzig oder dreißig Jahren sozusagen vorausplant, ist schon an sich etwas abenteuerlich, wenn man bedenkt, dass wir selbst heuzutage kaum fünf Jahre vorausplanen können. Der Hexenwahn hat im Prokrustesbett der Ökonomiegeschichte keinen Platz.
10) Eine Reihe von ideologisch motivierten Erklärungen kann man schnell abtun: Der Hexenwahn als Folge eines "frühkapitalistischen Produktionsprozesses", als "Genozid an Frauen", als "Versuch der katholischen (oder protestantischen, je nachdem) Kirche, die Weltherrschaft zu ergreifen", die Hexen als "Psychotrip-Freaks im Drogenrausch, die sich ihre Hexenflüge einbildeten" und so weiter und so weiter.
Hexenwahn heute
Es wäre schön, wenn man den Hexenwahn als eine der vielen abstoßenden, aber Gottseidank vergangenen Epochen der Menschheitsgeschichte abhaken könnte, aber da sollte man sich nicht zu sicher sein. Moderner Hexenwahn ist - zumindest im Abendland - von der religiösen in die politische Hemisphäre übergewechselt und hat sich im 20. Jahrhundert insbesondere in den Stalinschen Schauprozessen 1935-1939 manifestiert. An ihnen ließ sich der klassische Mechanismus Denunziation - Anklage - Folter - erzwungenes Geständnis - Selbstbezichtigung - Hinrichtung in furchtbarem Detail noch einmal beobachten (da die nationalsozialistische Judenverfolgung weder auf eine Prozessordnung noch auf Geständnisse Wert legte, unterscheidet sie sich in wesentlichen Aspekten vom Hexenwahn -nicht allerdings in der Sündenbockfunktion).
Meiner Auffassung nach sollte man mit den Begriffen "Hexenwahn" und "Hexenjagd" vorsichtiger umgehen. Die McCarthy-Befragungen der 50er Jahre in den USA - übrigens auch dort heftig umstritten - oder die alberne Berufsverbotdebatte im Deutschland der frühen 70er als "Hexenjagd" zu bezeichnen, halte ich für verfehlt, genau wie die Bezeichnung "Holocaust" für israelische Siedlungspolitik (eine doppelte Geschmacklosigkeit) oder das Etikett "Faschismus" oder "Nazi" für alles und jeden, das einem irgendwie Rechts vorkommt. Hexenwahn und Holocaust waren entsetzliche Dinge, die Menschen anderen Menschen angetan haben, grauenhafte Verbrechen und Schandflecke der Geschichte. Mit Begriffen dieser Art wirft man nicht herum wie mit Konfetti.
Die Möglichkeit des Hexenwahns wird immer bei uns bleiben und darf niemals als "überwunden" angesehen werden. Als Mischung aus Angst, Fremdenhass, Gier, sexueller Unterdrückung, Freude am Schauspiel, Neigung zu blindem Gehorsam und zu religiöser Überzeugung ist er sozusagen eine Synthese von Eigenschaften, mit denen der Mensch von Haus aus leben muss. Daher sollte man niemals darin nachlassen, Strukturen dieser Art aufzuzeigen und zu erklären, denn auch Mitgefühl, rationale Überlegung und Neigung zur Unabhängigkeit gehören zu unserem Inventar, und vor diesen Waffen kann kein politischer oder religiöser Hexenwahn bestehen.
Hexenwahn im Web
Die Illustration zu Beginn des Eintrags stammt von
http://www.motz.purespace.de/index.html
Ich hätte mich gerne um ein Copyright bemüht, aber a) vermute ich, dass das Bild ohnehin Public Domain ist und b) kann ich beim besten Willen keine e-mail-Adresse auf der Seite finden. Vielen Dank jedenfalls!
http://www.hexenwahn.ch
Literaturtips
Leder, Karl Bruno: Todesstrafe. Ursprung, Geschichte, Opfer. dtv, München 1986.
Sagan, Carl: The Demon-Haunted World. London 1996.
Soldan, W.G./Heppe, H.: Geschichte der Hexenprozesse in zwei Bänden. Kettwig 1986 (Original 1880).