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Die Diebin, die nur Korrupte bestahl

skenderbegi

Ultra-Poster
Anstatt weiter als Wanderarbeiterin zu schuften, bestahl die chinesische Bauerntochter Tang Shuiyan hochrangige Beamte. Jetzt ist «Chinas Robin Hood» gefasst – und zeigt ihrem Land, wie käuflich die Elite ist.



Von Kai Strittmatter, Peking10.09.2014











Sie nennen sie eine Diebin. Tang Shuiyan selbst fühlte sich mehr wie eine Schatzsucherin. «Das war so lustig, dieses Gefühl, mit einem Mal einfach Geld haben zu können», sagte sie der Zeitung «Südliches Wochenende». Es war oft wie ein Spiel: durch die Gänge schlendern, rein in die Büros, und dann in Schränken, Schubladen, Taschen wühlen. Tief graben musste sie meist nicht. Oft purzelte ihr alles entgegen: teurer Schnaps, Schweizer Uhren, Zigarettenstangen, Berge davon, Bargeld, in Stapeln. Dann die Beute aufhäufen, die Visitenkarte des Amtsleiters, des Parteisekretärs, des Bankdirektors gut sichtbar drauf platzieren, die Fotos machen (das nie vergessen: die Fotos!), ihre Tasche füllen, die grosse schwarze Tasche, fast grösser als sie selbst. Und dann weghuschen.
Ein Star der Medien
Es sei leicht gewesen, sagt sie. Kurze Haare, ein hageres, unscheinbares Bauerntöchterchen, gerade mal 1.60 Meter gross. Manchmal eilten ihr Wachleute zu Hilfe, trugen ihre Tasche. Manchmal, sagt sie, hätten sie beim Aufhäufen all der kostbaren Dinge auch die Erinnerungen an ihr Heimatdorf, an ihre Kindheit übermannt. Wie das war: kein Geld für die Schule, kein Geld für den Arzt.
Dann, sagt sie, sei auch der Zorn gekommen. Der Zorn auf die Menschen, die in diesen Büros hausten, die all das zusammengerafft hatten. Die Beamten, die sich tagein, tagaus hofieren liessen von Antragstellern; die sich gut gefüllte rote Umschläge zustecken liessen von Menschen in Bedrängnis; die sich beschenken liessen von Untergebenen, welche sich so ihre Beförderung erschlichen; die sich kaufen liessen von Unternehmern, welche eine Lizenz brauchten, von Saufkumpanen, welche auf einen Auftrag schielten. Ja, sagt sie, da habe sie auch eine Ahnung von Gerechtigkeit in sich aufsteigen gefühlt. Bestahl sie nicht die eigentlichen Diebe?
Das ist die Geschichte des armen Mädchens Tang Shuiyan, das korrupte Beamte bestahl, das in mehreren Provinzen einen solchen Berg von Bestechungsgeschenken mitgehen liess, dass sie davon jahrelang leben konnte. Mehrere grosse Zeitungen Chinas haben in den vergangenen Tagen den Werdegang der Diebin, diese Parabel aufs moderne China, im Detail nacherzählt.
«Chinas Robin Hood»
Im Internet hat man sie «Chinas Robin Hood» genannt. Dabei hat sie ihre Beute keineswegs an Witwen und Waisen verteilt, sondern für die eigene Familie behalten. Aber weil sie von ganz unten kommt, kamen nicht wenige Kommentatoren im Netz zu dem Schluss, hier habe sich das Volk quasi wieder geholt, was ihm zuvor von der korrupten Klasse entrissen worden sei. Und das Beste: Tang Shuiyan liess am Ende ein paar der Korruptesten hochgehen.
Tang Shuiyans Werdegang war, zumindest am Anfang, der von Millionen und Abermillionen Chinesen: geboren in einem Bauerndorf in Hunan, machte sie sich auf in den Süden, in die Provinz Guangdong, um dort als kleinstes der kleinen Rädchen mitzuarbeiten am chinesischen Wirtschaftswunder.
Sie heuerte an in einer Schuhfabrik in Dongguan. Wie auch ihr Bruder, ihre Schwester, ihre Schwägerin. Eine Wanderarbeiterin, deren Leben zwar völlig anders verlief als das der Eltern, das aber dennoch schon vorgeplant schien: ein paar Jahre Schuhfabrik, dann einen Verlobten suchen, am besten einen aus der Heimat, zurück ins Dorf gehen und heiraten.
Jeden Tag Tausende Schuhsolen
Sie sass am Fliessband, musste jeden Tag Tausende Schuhsohlen mit einem Kleber bestreichen. Vom Lösungsmittel wurde ihr regelmässig schwindlig. Sie wusste, dass im Laden ein Paar der Puma-Schuhe, die an ihr vorüberzogen, Hunderte Yuan kosteten, zehnmal so viel wie das ausgelatschte Paar, das sie an den Füssen trug. Als sie in Dongguan ankam, war ihr kostbarster Besitz ein Kleid aus weisser Chemiefaser, an dem eine kleine rote Blume befestigt war. «Ich vergesse nie, wie die rote Blume im Wind wehte», erzählte sie der «Chinesischen Jugendzeitung».
Vielleicht wäre ihr Leben anders verlaufen, hätte sie nicht eines Tages eine ältere Freundin kennen gelernt, Li Jie: eine hübsche, schicke Frau, die irgendwie immer Geld zu haben schien. Eines Tages nahm Li Jie sie mit in eine andere Stadt. Sie fuhren zum Rathaus, spazierten hinein, nahmen den Lift in den 9. Stock. Es war Mittagspause, keiner war da.
Tang Shuiyan sagt, sie sei nervös gewesen, habe sich aber kaum zu fragen getraut, da nahm ihre Freundin eine kleine Plastikkarte heraus und öffnete die Tür, vor der sie standen. Im Schrank stapelten sich teure Zigaretten, eine Schublade quoll über vor Gold- und Silbermünzen. «Hilf mir», rief Li Jie, und so schnell sie konnten, stopften die beiden die Sachen in eine grosse Tasche. Für 150'000 Yuan, mehr als 21'000 Franken, verkauften sie die Beute, Li gab Tang gut 7000 Franken ab. Das war im Jahr 2006. In die Fabrik ging Tang danach nicht mehr zurück.
Fingerabdruck auf der Omega
Als die ältere Freundin 2008 starb, an einer Überdosis Drogen, da hatte sie Tang nicht nur das Einbrecherhandwerk beigebracht, sondern vor allem die Regel Nummer eins: Stiehl nur bei hohen Beamten. Die werden nämlich den Diebstahl nie anzeigen und dich nie verraten – weil sie selbst fürchten, als korrupt entlarvt zu werden. Tang Shuiyan hatte mittlerweile Zwillinge bekommen, aber sie gab ihr neues Metier nicht auf. Bald hatte sie ihre Routine. Sie suchte sich stets neue Städte aus, mal Jiangsu, mal Henan, mal Shanxi. Meist flog sie, Geld genug hatte sie nun ja. Dann kundschaftete sie ein geeignetes Regierungs­gebäude aus. Zur Tat schritt sie mittags oder abends, wenn die Büros verwaist waren. Sie suchte sich stets ein Büro ohne Namensschild oder mit rotem Teppich vor der Tür – hier residierten die Amtsleiter.
Einmal nur, sagt sie, sei sie in den acht Jahren in flagranti ertappt worden. Da hatte sie gerade das Büro eines Vizebankdirektors ausgeräumt und war auf dem Weg zum Büro des Direktors, als dieser höchstselbst auftauchte und sie fragte, was sie hier mache. Tang erinnerte sich an die Reklametafel einer örtlichen Firma im Gang und nannte den Namen. «Meine Chefs schicken mich», sagte Tang und zog die eben erst ein­gesteckten Edelzigaretten aus dem Büro des Vizedirektors hervor. «In Ordnung. Lass sie einfach hier», sagte der Direktor.
2009 wurde sie zum ersten Mal geschnappt. Sie hatte aus einem Büro fünf Schweizer Uhren mitgehen lassen: Omega, Rado. Die Polizei hatte Fingerabdrücke von ihr gefunden. Sie sass eine kurze Haftstrafe ab, begann nach ihrer Entlassung 2012 wieder in Fabriken zu arbeiten: Ein paar Monate schraubte sie in einer Spielzeugfabrik Transformer­figuren zusammen. Nach einem halben Jahr hatte sie gerade mal 5000 Yuan gespart, 750 Franken, und war deprimiert. «So ein trauriges Leben.»
Dann las sie eine Nachricht im Internet: Ein Dieb hatte bei einem Partei­sekretär Diebesgut im Wert von 50 Millionen Yuan gestohlen; dessen Familie hatte bei der Polizei aber nur einen Verlust von 3 Millionen Yuan angegeben. Als der Dieb geschnappt wurde, kooperierte er mit der Polizei und nannte die wahre Summe – der Beamte wurde wegen Korruption verurteilt, und der Dieb erhielt Strafmilderung.
Beute immer fotografiert
Die Nachricht elektrisierte Tang Shuiyan. Sie kaufte einem Kollegen ein Telefonbuch mit den Nummern wich­tiger Ämter ab und begann ihre Raubzüge in den Ämtern erneut – diesmal aber legte sie Listen an und begann, in jedem Büro ihre Beute zu fotografieren. Die Raubzüge seien nun nicht mehr ganz so ergiebig gewesen, erzählte sie dem «Südlichen Wochenende» – denn 2013 startete der neue Chef der Kommunistischen Partei, Xi Jinping, seine Kam­pag­ne gegen die Korruption. Bald traute sich kaum noch einer, teure Zigaretten zu verschenken; die Geschäfte vom Edelschnapshersteller Maotai, von Luxusmarken wie Louis Vuitton brachen in China ein. Trotzdem fiel noch mehr als genug ab für Tang. Auf den Fotos, die sie in den letzten zwei Jahren machte, biegen sich die Bürotische noch immer.
Im Mai dieses Jahres war Schluss. Tang Shuiyan wurde gestellt, im Moment wartet sie auf ihren Prozess. Sie, die sich zwischendurch auch Hand­taschen von Chanel gegönnt hatte, trägt wieder T-Shirts für 20 Yuan und billige Schlappen. Soeben hat sie drei ausführliche Anzeigen geschrieben gegen hohe Beamte, deren Büros sie besucht, ausgeräumt und fotografiert hatte, Beweise anbei.
Ihre Zwillinge, die sie während ihrer Reisen früher zurück in die Heimat geschickt hatte, zu den Grosseltern, sind im Moment bei ihr. Sie weiss nicht, wie viel Zeit ihr noch mit ihren Kindern bleibt, bevor sie ins Gefängnis muss. Sie habe Dinge gesehen, sagte sie dem «Südlichen Wochenende», denen ihre ehemaligen Kolleginnen am Fliessband im ganzen Leben nicht begegnen würden. Sie habe an den Geheimnissen der Mächtigen teilgehabt. «Ich bereue nichts.»
Eine Diebin bleibe immer eine Diebin, mahnte ein Kommentar der «Pekinger Morgenzeitung». Es sei falsch, Tang Shuiyans Tun zu idealisieren. Derweil nahmen an einer Umfrage des Portals 130'000 Nutzer teil. 88 Prozent fanden: Diebe wie Tang, das seien «Helden im Kampf gegen die Korruption».

(Tages-Anzeiger)
(Erstellt: 10.09.2014, 23:27 Uhr)





eine interessante geschichte....
diese frau hatte "eier".

eine etwas andere art auf die Korruption aufmerksam zu machen.
 
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