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Die Flucht aus Lager 14
Shin Dong-hyuk wurde in ein Straflager hineingeboren und sollte dort auch sterben. Mit 23 gelang dem Nordkoreaner die Flucht. An dem, was er als Kind sah und selbst tat, trägt er bis heute.
Shins Lebensgesgeschichte erzählt vom Nordkorea-Experten Blaine Harden erscheint am 29. März 2012 bei Viking Adult.
Shin Dong-hyuk wurde in ein Straflager hineingeboren und sollte dort auch sterben. Mit 23 gelang dem Nordkoreaner die Flucht. An dem, was er als Kind sah und selbst tat, trägt er bis heute.
Shins Lebensgesgeschichte erzählt vom Nordkorea-Experten Blaine Harden erscheint am 29. März 2012 bei Viking Adult.
Escape From Camp 14 (Viking) - YouTube
200 000 Häftlinge fristen in Nordkorea ein elendes Dasein in Straflagern. Shin Dong-hyuk war einer von ihnen und hatte ein besonders hartes Los gezogen: Er wurde bereits in Gefangenschaft geboren und wusste nichts von einem Leben ausserhalb. Sein Zuhause war das berüchtigte Lager 14, wo das nordkoreanische Regime seine politischen Häftlinge interniert. Die Trostlosigkeit und Brutalität in diesem über 1000 Quadratkilometern grossen Gefängnis waren seine Normalität.
Shin war aus einer sogenannten «Belohnungsehe» hervorgegangen. Sein Vater hatte sich in einem Lagerbetrieb als geschickter Handwerker hervorgetan und bekam als Belohnung eine Frau zugewiesen. Sexuelle Kontakte ausserhalb solch arrangierter Partnerschaften waren unter Todesstrafe verboten. Ebenfalls untersagt waren Versammlungen von mehr als zwei Häftlingen. Einzige Ausnahme bildeten Hinrichtungen, die alle anschauen mussten. Warum das Regime seine Eltern interniert hatte, fragte er nie. Später erfuhr er, dass sein Onkel während des Koreakriegs in den Süden geflüchtet war.
Todesstrafe für Sex und Fluchtversuch
Jede Mahlzeit in Lager 14, einem hermetisch abgeriegelten Mikrokosmos mit eigenen landwirtschaftlichen Betrieben, Minen, Fabriken und Schulen, war identisch: Maisbrei und Kohl. Shin hatte immer Hunger. Das Mittagessen, das seine Mutter für ihn morgens zubereitete, verschlang er augenblicklich, wenn sie das Haus verliess. Er ass auch ihre Ration. Wenn Sie mittags nach Hause kam und nichts zu essen vorfand, schlug sie ihn mit einer Schaufel. Er ass Ratten, Frösche, Schlangen und Insekten – seine einzige Proteinquelle. Wer Essen stahl, wurde hart bestraft. Einmal filzte sein Lehrer die Klasse und fand bei einem Mädchen fünf Maiskörner. Er schlug sie vor ihren Augen mit einem Stock zu Tode.
Bis heute gilt Shin als der einzige in Gefangenschaft geborene Häftling, dem die Flucht aus dieser Hölle gelang. Seine erschütternde Lebensgeschichte wird nun in einem Buch veröffentlicht. Noch heute kennt er alle Lagerregeln auswendig. In seiner Kindheit stellte er sie nicht in Frage. Der Aufforderung, Schulkameraden und Familienmitglieder auszuspionieren, kam er instinktiv nach. Eines Tages hörte er seine Mutter und seinen Bruder über Flucht sprechen und verriet die beiden an einen Wärter. Der meldete es seinem Vorgesetzten und behauptete, den Fluchtplan selbst aufgedeckt zu haben.
Shin wurde mit Verdacht auf Komplizenschaft verhaftet und auf grausamste Weise gefoltert. Er überlebte nur dank eines Greises, der ihn liebevoll pflegte. Später wurde er gezwungen, zusammen mit seinem Vater der Hinrichtung seiner Mutter und seines Bruders aus der ersten Reihe beizuwohnen. In seiner Optik verdienten sie den Tod.
Geschichten aus dem Schlaraffenland
Mit zwanzig Jahren machte Shin Bekanntschaft mit dem Mann, der sein Leben radikal verändern sollte. Er wurde einem neuen Häftling als «Mentor» zugewiesen, was bedeutete, dass er sein Vertrauen gewinnen und ihn dann ausspionieren sollte. Park Yong Chul war ein gepflegt auftretender Mann Mitte Vierzig. Wie sich bald herausstellte, entstammte er der nordkoranischen Elite, hatte in der DDR und der Sowjetunion studiert und viel Zeit im Ausland verbracht. Er erklärte Shin, was Geld ist, Fernsehen, Computer und Mobiltelefone – und dass die Welt rund ist. Das meiste davon verstand Shin nicht oder hielt es für unwichtig. Nicht satt hören konnte er sich hingegen an Parks Erzählungen über Essen: Er beschrieb, wie er in China, Deutschland, England und Russland Poulet, Schweine- und Rindfleisch gegessen hatte.
Im Dezember 2004 begann Shin erstmals über Flucht nachzudenken. Parks aufwieglerische Erzählungen liessen ihn zum ersten Mal von einer anderen Zukunft träumen. Und erstmals verstand er, wo er war und was ihm fehlte. Lager 14 war nicht mehr sein Zuhause. Park wusste, wo es zur chinesischen Grenze ging. Manchmal überkamen Shin Zweifel: Was, wenn nicht er der Spion war, sondern Park? Was mit ihm passieren würde, wenn Park seine Fluchtabsichten verriet, wusste er aus eigener Erfahrung. Doch seine freudige Erwartung übertrumpfte jegliche Ängste. Er stahl warme Kleider von einem anderen Häftling und während einem Arbeitseinsatz in der Nähe des Zauns schlichen sich Park und Shin davon.
Tod am Grenzzaun
Als sie den Zaun erreichten, überkamen Park Zweifel. Im Wissen, dass eine solche Chance vielleicht erst in Monaten oder Jahren wiederkommen würde, griff ihn Shin bei der Hand und rannte los. Er strauchelte und sah, wie sich Park am Stacheldraht zu schaffen machte. Er sah Funken sprühen und roch verbranntes Fleisch. Noch bevor er wieder auf den Beinen war, hatte Park aufgehört, sich zu bewegen. Ohne zu überlegen benutzte er dessen leblosen Körper als Isoliermatte und kroch durch den unter Hochspannung stehenden Zaun. Er war beinahe duch, als er abrutschte und sich schwere Verbrennungen an den Beinen zuzog. Doch er hatte es geschafft. Da erinnerte er sich, dass Park ihm nicht gesagt hatte, in welcher Richtung China lag.
Zunächst brach er in ein Bauerhaus ein und stahl eine Armee-Uniform. So unterschied er sich nicht mehr von unzähligen unterernährten und schlecht gekleideten nordkoreanischen Soldaten. Er übernachtete in Schweineställen, Heuhaufen und Güterzügen und ass alles, was er finden konnte. Er stahl und tauschte seine Beute auf dem Schwarzmarkt. Trotz Hunger, Kälte und Beinschmerzen war er zuversichtlich. Er fühlte sich wie ein Ausserirdischer, der auf die Erde gefallen war. Mit Keksen und Zigaretten bestach er ausgehungerte Grenzsoldaten und erreichte schliesslich über den zugefrorenen Grenzfluss Yalu chinesischen Boden. Von dort gelangte er nach Südkorea. Inzwischen lebt er in Kalifornien.
Das Leben mit der Lüge
Nicht alle neuen Empfindungen in der Freiheit waren angenehm. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand Shin Scham und Reue: «Ich war loyaler gegenüber den Wärtern als meiner Familie», sagt er. Aus Angst vor negativen Reaktionen log er zu Beginn, nicht er hätte seine Mutter und seinen Bruder verraten. «Die Menschen haben eine falsche Vorstellung des Lagers. Nicht nur die Wärter quälen die Häftlinge sondern auch die Häftlinge untereinander. Ich bin einer dieser gemeinen Häftlinge», sagt Shin. Doch er ist überzeugt, dass er sein Leben rehabilitieren kann: Er muss der Aussenwelt begreiflich machen, was das nordkoreanische Regime Kindern antut, die innerhalb des Zauns geboren werden.
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