28.11.2008
Gagausien in Moldawien
Die Nachfahren der Wölfe
Von
Renate Nimtz-Köster
Gaga-was? Die autonome Region Gagausien in Moldawien ist winzig und in Europa wenig bekannt. Auch deshalb, weil es hier anders als in Transnistrien gelang, einen blutigen Kampf um die Unabhängigkeit zu verhindern. Ein friedliches Land - obwohl das Nationaltier der Wolf ist.
Weingärten säumen die schnurgerade Holperstraße, die von Moldawiens Hauptstadt Chisinau nach Süden führt, von großen Plakaten grüßen Mädchen in gestickter Tracht. Nach anderthalb Stunden schon ist, trotz des Busgezockels von etwa 40 km/h, eine Grenze erreicht, an der es keine Formalien gibt.
Es ist die Grenze zu einem Land, das im übrigen Europa kaum jemand kennt: "Gagauz Yeri", Ort der Gagausen, heißt die "autonome territoriale Einheit" innerhalb Moldawiens, auf die ihre 171.500 Einwohner stolz sind.
Das kleine Volk hat sich seine weitgehende Selbständigkeit innerhalb des moldawischen Staates erkämpft – unblutig, in "einem spektakulären Sieg der Vernunft", wie der Leipziger Osteuropaforscher und Gagausien-Kenner Stefan Troebst sagt.
Hier, im Süden der Republik Moldova, leben Gagausen und Bulgaren, Ukrainer und Russen seit 1990 unabhängig von der Zentralregierung. Anders als bei der Abspaltung Transnistriens, des zweiten moldawischen Gebietes, floss hier bei Auseinandersetzungen kein Blut: Das 1994 in Chisinau verabschiedete Autonomiegesetz für Gagausien, das dann offiziell die innere Selbstbestimmung möglich machte, sei "eine zumal im postsowjetischen Raum ebenso seltene wie reife Lösung aller Konfliktakteure", sagt Wissenschaftler Troebst.
Heizen mit Walnussschalen
An den dörflichen Straßen wird die Ernte verarbeitet. Vor den Häuschen türmen sich Berge von geschnittenem Mais, gern lassen sich die Familien beim Ausschälen der Kolben zusehen. "Kohle ist hier nicht bezahlbar", sagt Reiseleiterin Larissa Starodubzeva. Deshalb werden die trockenen Blätter und Stängel zum Heizen verwendet, überhaupt alles, was brennt, auch die Schalen der Walnüsse. Keine Straße, kein Weg ohne Walnussbaum-Allee.
Die Nüsse werden in Honig eingelegt und in Hefekuchen gefüllt, reißende Abnahme finden sie neuerdings in arabischen Ländern, erzählt Larissa. Die gebürtige Russin von der Insel Sachalin lebt schon lange und gern in Moldawien, der ehemaligen Sowjetrepublik, die dem gesamten Riesenreich als Gemüse-, Obst- und Weinlieferant diente.
Blau ist die Farbe Gagausiens, das sich Gaga-usien ausspricht, mit der Betonung auf dem "u": knallblaue Bauernhäuser, vor denen sich die Gänse tummeln, leuchtend blau gestrichene Holzbänke auf dem Friedhof, vor fast jedem Grab. Dorthin wird bald, nach dem orthodoxen Gottesdienst in der Kirche der Hauptstadt Comrat, der offene rot umkleidete Sarg gefahren, den Männer gerade zur Aussegnung von der Ladefläche eines Kleinlasters heben.
Blau, Weiß und Rot sind die Farben der Fahne der Mini-Region, die ihr eigenes Parlament hat, ihre eigene Gesetzgebung, ihre eigenen Schulbücher. Drei Sterne in der linken Ecke versinnbildlichen die drei Landesteile Moldawien, Gagausien und das gänzlich abtrünnige Transnistrien, jenseits des Flusses Dnjestr gelegen und der verblichenen Sowjetzeit immer noch verhaftet. Auch in Comrat posiert noch Lenin vor dem Rathaus, eine Statue mit gerundeten, weicheren Gesichtszügen als üblich, die aber wohl eher aus Bequemlichkeit am Platz belassen worden ist.
Unterstützung aus der Türkei
Im Sitzungssaal der Universität schmücken Wandteppiche mit den Abbildern von Atatürk und Stefan dem Großen, dem rumänisch-moldauischen Fürsten, die Wand. "Wir sind Atatürk sehr verbunden", sagt Sofia Sulak, die Leiterin des Lehrstuhls für Fremdsprachen. Die Gagausen seien, höchstwahrscheinlich, ein Turkvolk, wenngleich christlich-orthodox. Nicht nur mit einer eigenen Bibliothek sind die Türken in Comrat vertreten, die Türkei fördert auch die kleine autonome Region, mitsamt ihren beiden Enklaven, den Dörfern Copceac und Carbolia.
17 Jahre alt ist die staatliche Hochschule. Schon vor der Autonomie gegründet, hat sie 18 Lehrstühle, 250 Dozenten und 2500 Studenten, die tüchtigsten sind in der Eingangshalle zu sehen, in Farbe abgelichtet. 300 Lei monatlich, ungefähr 36 Euro, beträgt das höchste Stipendium. 630 Lei kostet im Jahr der Platz im Studentenwohnheim. Noch wird in zwei Schichten unterrichtet. Der neue Gebäudekomplex, auf Kosten der Republik Moldova gebaut, wird bald fertig sein.
Traditionsgemäß gibt es hier viele Deutsch-Studenten, erklärt Vizerektorin Iwanna Bancova. Deutschland sei die "erste Schwalbe", gewesen, das erste Land, "das Interesse an unserer Universität geäußert hat". Gerade ist eine Philologen-Kollegin zur Fortbildung an der Uni Düsseldorf, alle gagausischen Germanistikstudenten wünschen sich natürlich ein Deutschland-Semester.
Ein Museum für den Nationalstolz
Immer mehr Gäste aus Griechenland, Deutschland oder auch Frankreich hat seit einigen Sommern Munija Crischtschowa in ihrem Restaurant im Zentrum. Hier wird, sehr emsig und freundlich, nur Hausgemachtes serviert. Vor der Tür bettelt ein herrenloser Welpe, erfolgreich und noch unerschrocken. Panische Angst vor menschlicher Annäherung zeugt bei fast allen seiner umherstreifenden Genossen von erlebter Pein.
Achtstöckige Neubauten, Eselskarren, schön und neu umbaute Ziehbrunnen, ein prächtiges Kruzifix mit byzantinischer Kuppel am Ortsausgang, große Marktplätze mit Bergen kleiner Paprikaschoten: Was Gagausien ausmacht und zusammenhält, zeigt ein paar Kilometer von Comrat entfernt, bei einem Rundgang im Dorf Baschalma, Matriona Kiosia. Die junge Frau ist Direktorin des ethnografischen Museums von Gagausien und Hüterin der kostbarsten nationalen Schätze.
Vom Jahr 525 an, als türkische Stämme sich vereinigten, bis in die Gegenwart belegt sie anhand von archäologischen Fundstücken, von Kunst und Handwerk, Literatur und Fotografie die Kontinuität der gagausischen Geschichte. "Wir sind die Nachfahren von Wölfen", sagt sie, und zeigt ein historisches Relief mit einem türkischen Krieger und dem Raubtier. Der Wolf als gagausisches Wahrzeichen ist mittlerweile den drei Sternen auf der Fahne gewichen. Doch sein Stolz sei geblieben, sagt Kiosia, und der werde hier, im Museum, allen durchziehenden Schulkindern Gagausiens vermittelt.
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