UN-Friedenstruppe wäre Lösungsansatz
Brief von Gregor Gysi an Slobodan Milosevic
Sehr geehrter Herr Präsident,
eingedenk unseres Gespräches vom 14. April 1999 schreibe ich Ihnen diesen Brief.
Noch einmal unterstreiche ich meine eindeutige Ablehnung des völkerrechtswidrigen und völlig ungleichen Krieges der NATO gegen die Föderative Republik Jugoslawien, bringe ich meine große Bestürzung über die Toten und Verletzten, insbesondere in der Zivilbevölkerung, und die immer zynischeren Zerstörungen zunehmend ziviler Einrichtungen Jugoslawiens sowie meine Verurteilung jeglicher Menschenrechtsverletzungen in Kosovo zum Ausdruck.
Ich befürchte, daß der Krieg die europäische Integration und das Verhältnis einer Vielzahl europäischer Staaten zur Russischen Föderation über Jahre zurückwerfen wird, was nur im Interesse der USA liegen kann, um einen gleichwertigen politischen und ökonomischen Konkurrenten Europa zu verhindern.
Erneut bitte ich Sie, die Zustimmung zu einer UN-Friedenstruppe nach der Charta der Vereinten Nationen - ohne Beteiligung der angreifenden NATO-Staaten - zu erteilen.
Wenn in direkten Verhandlungen zwischen den politischen Führungen Jugoslawiens und des Kosovo unter Beteiligung der Vereinten Nationen ein Abkommen zustande kommt, muß die Rückkehr der Hunderttausenden Flüchtlinge und Vertriebenen friedlich und gesichert erfolgen.
Diese Flüchtlinge haben aber - worauf ich noch eingehen werde - aus nachvollziehbaren Gründen kein Vertrauen zur jugoslawischen Armee und Polizei. Auf der anderen Seite verstehe ich, daß nicht jene den Frieden sichern können, die heute Jugoslawien bombardieren. Aber es gibt andere Staaten, die zur Friedenssicherung geeignet wären.
Der Einsatz einer UNO-Friedenstruppe nach dem Rückzug Ihrer Truppen aus dem Kosovo bedeutete keine Besetzung, wäre zeitlich befristet und wegen der UNO-Hoheit ein völlig anderer Lösungsansatz als der der NATO.
Zu Beginn unseres Gespräches lehnten Sie diesen Vorschlag ab, gegen Ende sicherten Sie zu, neu darüber nachdenken zu wollen. Die Ergebnisse Ihres Gespräches mit dem Beauftragten des russischen Präsidenten, Viktor Tschernomyrdin, und die Äußerungen Ihres stellvertretenden Ministerpräsidenten, Vuk Draskovic, werte ich so, daß dieses Nachdenken weitergegangen ist. Ich appelliere noch einmal an Sie, diesen Weg zu eröffnen.
Die NATO würde vor die Alternative gestellt werden zu entscheiden, was ihr wichtiger ist, der Anspruch, alleiniger euro-atlantischer Ordnungsfaktor zu sein, oder der Frieden. Ein solcher Frieden wäre schwer genug durchzusetzen, aber er hätte eine Chance, gegen die Hegemonialbestrebungen insbesondere der USA.
In unserem Gespräch ging es wie in anderen Gesprächen in Belgrad auch darüber hinaus um das Schicksal der Kosovo-Albaner. Sie bestritten Vertreibungen und andere Verbrechen gegen die Menschlichkeit an den Kosovo-Albanern. Sie erklärten, vor der Bombardierung des Kosovo durch die NATO hätte es - was unstrittig ist - sehr viel weniger Flüchtlinge aus dem Kosovo gegeben. Als Fluchtursache für den Zeitraum vor der Bombardierung benannten Sie Übergriffe der UCK und die Angst der Zivilbevölkerung, Opfer der Kämpfe zwischen Ihrer Armee und Polizei und der UCK zu werden. Der dramatische Anstieg der Flüchtlinge seit Ende März 1999 sei Ihrer Meinung nach allein auf die NATO-Bombardements zurückzuführen. Auf meine Gegenargumente erwiderten Sie, die Berichterstattung in Deutschland sei einseitig, die Flüchtlinge von Clan-Chefs instruiert, und außerdem hätten die Flüchtlinge nur die Chance der Aufnahme in einem westlichen Land, wenn sie sich gegen die jugoslawische Armee und Polizei äußerten.
Ich erklärte Ihnen, nach Albanien reisen und mit Flüchtlingen sprechen zu wollen, und Sie meinten, daß sich dort Ihre Angaben bestätigen würden. Davon kann allerdings keine Rede sein.
Zunächst habe ich den Rat eines leitenden Mitarbeiters Ihres Außenministeriums befolgt und mir die Lageberichte des deutschen Auswärtigen Amtes und die Urteile deutscher Verwaltungsgerichte zu Abschiebungen von Kosovo-Albanern aus Deutschland in diesem Jahr angesehen. Ich muß bestätigen, daß in diesen Lageberichten und in den Urteilen der Verwaltungsgerichte bis in den März 1999 hinein Vertreibungen und "ethnische Säuberungen" in Bezug auf die Kosovo-Albaner ausdrücklich bestritten werden. Die Kämpfe zwischen Ihrer Armee und Polizei gegen die UCK und damit verbundene Fluchtursachen wurden bestätigt, aber ausdrücklich verneint, daß Kosovo-Albaner wegen der Zugehörigkeit zur "albanischen Volksgruppe" verfolgt würden. Mit dieser Begründung und gestützt auf die entsprechenden Lageberichte des Auswärtigen Amtes wurden von den deutschen Verwaltungsgerichten Abschiebungen nach Jugoslawien und speziell in den Kosovo bestätigt. Es ist zutreffend, daß die jetzigen Behauptungen der Bundesregierung, wonach die Vertreibungen und "ethnischen Säuberungen" im Kosovo seit langem liefen, insbesondere seit Dezember 1998/Januar 1999, und während der Verhandlungen von Rambouillet, in krassem Widerspruch dazu stehen.
Während meiner Reise nach Albanien habe ich das Flüchtlingslager Spitalle besucht und mit mehreren Flüchtlingen bzw. Vertriebenen aus dem Kosovo gesprochen. Die Bedingungen habe ich selbst bestimmt, das heißt, ich traf die Auswahl selbst und zufällig. Ich war mit ihrem Familien allein, ich habe eine eigene Dolmetscherin mitgenommen, Medienvertreter waren nicht zugegen und alles blieb anonym. Ich fragte weder nach Namen noch nach anderen Personalangaben. Es kann also für keinen Flüchtling oder Vertriebenen einen nachvollziehbaren Grund gegeben haben, mir nicht die Wahrheit zu sagen. Ich habe am Wahrheitsgehalt der Aussagen auch keine Zweifel, zumal die Betroffenen deutlich zwischen Selbsterlebtem und Informationen durch Hörensagen unterschieden, und nachdem sie Vertrauen gefaßt hatten, auch nicht mit Kritik an der UCK sparten.
So erzählten sie von Übergriffen und dem Vorwurf der Kollaboration seitens der UCK, wenn ein Kosovo-Albaner mit irgendeiner jugoslawischen Behörde zusammenarbeitete, vom Verstecken junger Männer wegen rigoroser Rekrutierungen etc. Sie leugneten auch keinesfalls eine bestimmte Angst, von Bomben der NATO getroffen zu werden. Dies war für sie aber nicht der Grund, den Kosovo zu verlassen, ebensowenig wie die meisten Serben und anderen Jugoslawen wegen der Bombardierung Jugoslawien verlassen.
Der mir gegenüber angegebene Grund war in allen Schilderungen die Vertreibung seitens der jugoslawischen Armee und Polizei, die offenkundig massiv nach Beginn des Bombardements der NATO einsetzte. Vertreibungen verletzen Menschenrechte schwerwiegend. Ich will Ihnen nur beispielhaft zwei Schilderungen wiedergeben:
Ein aus einer Stadt Vertriebener begann seine Schilderung mit einer Kritik an Deutschland. Dort lebte er im Bundesland Schleswig-Holstein von 1995 bis 1998. 1998 wurde sein Asylantrag endgültig abgelehnt und er in den Kosovo abgeschoben. Unmittelbar nach seiner Ankunft begannen die schweren Kämpfe zwischen der UCK und Ihrer Armee und Polizei. Trotzdem blieb er. Nach Beginn des NATO-Bombardements wurde er durch die jugoslawische Polizei aufgesucht. Man warf ihm Zusammenarbeit mit der UCK und mit OSZE-Beobachtern vor. Er bestritt beide Vorwürfe. Den Vorwurf der Zusammenarbeit mit OSZE-Beobachtern finde ich besonders verwerflich, da sich diese mit Ihrer Zustimmung im Kosovo aufhielten. Er und seine Familie wurden unmißverständlich aufgefordert, unverzüglich das Land zu verlassen, weil sie anderenfalls erschossen werden würden. So begann ihr Leidensweg als Vertriebene. Er berichtete mir auch, daß Intellektuelle, insbesondere Ärzte in seiner Stadt, erschossen worden sein sollen, wobei er davon nur gehört, es selbst nicht beobachtet habe.
Ein anderer Vertriebener kam aus einem Dorf. In diesem Dorf lebten nur Kosovo-Albaner. In den beiden Nachbardörfern leben Serben. Es gab ein friedliches Zusammenleben.
Nach Beginn das Bombardements kamen nach seiner Schilderung jugoslawische Soldaten und Polizeiangehörige und trieben die Dorfbewohner zusammen. Ihnen wurde eine Frist von einer Stunde gesetzt, das Dorf und den Kosovo für immer zu verlassen. Irgendwelche Beschuldigungen wurden ihnen gegenüber nicht geäußert. Die serbischen Bewohner der Nachbardörfer waren an der Aktion nicht beteiligt. Der Vertriebene erklärte mir, daß die Bewohner seines Dorfes in ihre Häuser zurückkehrten und einfach da blieben. Daraufhin wurden eine Woche lang nachts die Häuser, vor allem die Dächer beschossen. Niemand wagte sich aus seinem Haus. Nach einer Woche wurden sie mit Gewalt aus ihren Häusern zusammengetrieben. Diesmal waren die Gesichter der Soldaten und Polizisten angemalt, so daß sie nicht zu erkennen waren. Wegen der Androhung, daß sie ansonsten erschossen werden würden, verließen die Bewohner das Dorf. Auf der Landstraße wurden sie wieder mit dem Hinweis zurückgeschickt, sie könnten ihre Traktoren, Autos etc. mitnehmen, dürften aber nie wieder zurückkehren. Sie holten dann ihre Fahrzeuge und andere Sachen. Dann begann auch ihr Leidensweg als Vertriebene.
Diese Bespiele mögen genügen.
Danach ergibt sich für mich folgender zwingender Eindruck: Bis zu Beginn des Krieges seitens der NATO gegen Jugoslawien gab es Flüchtlinge wegen der bewaffneten Kämpfe zwischen Ihrer Armee und Polizei einerseits und der UCK andererseits, wobei die Zivilbevölkerung in Mitleidenschaft gezogen wurde. Es gab Zuspitzungen und Provokationen gegen die Zivilbevölkerung durch beide Seiten. Erinnert sei auch an den keinesfalls ausgeräumten Vorwurf des Massakers in Racak, zu dem ich Ihnen damals bereits einen scharfen Protestbrief geschrieben hatte. Aber zu dieser Zeit gab es offenkundig noch keine "ethnischen Säuberungen" oder systematischen Vertreibungen im Kosovo. Dafür sprechen nicht nur die wesentlich niedrigeren Zahlen der Flüchtlinge, sondern auch die Lageberichte des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland und die Urteile deutscher Verwaltungsgerichte.
Der Kampf gegen die UCK ist staatsrechtlich und völkerrechtlich sicherlich legitim. Aber eine solche bewaffnete Truppe entsteht nicht, wenn eine Bevölkerung nicht seit langem und erheblich benachteiligt wird, was mit der Aufhebung der Autonomie für Kosovo 1989 begann. Das gilt trotz erheblicher Unterstützung der UCK von außen.
Hier entscheidend ist jedoch, daß das Ende der Verhandlungen von Rambouillet und der Beginn der Bombardierung seitens der NATO offenkundig genutzt wurde, um massenhaft und systematisch Kosovo-Albaner zu vertreiben. Dafür sprechen auch die Züge, die voll mit Kosovo-Albanern nach Mazedonien geschickt wurden. Diese massenhaften Vertreibungen verletzen die Menschenrechte der Betroffenen erheblich, und Ihre Auskunft mir gegenüber war offensichtlich falsch. Gerade der generelle Bruch im Verhalten der jugoslawischen Armee und Polizei nach Beginn der Bombardierung schließt aus, daß es sich um einzelne Übergriffe handeln könnte. Hier muß es eine zentrale Weisung gegeben haben. Es verdichten sich auch die Hinweise auf Massaker. Diese Vorgänge machen aus meiner Sicht die Bombardierung durch die NATO noch sinnloser und schädlicher. Die Bombardierung rechtfertigt das Handeln der jugoslawischen Armee und Polizei gegen die Kosovo-Albaner aber in keiner Weise.
Als Präsident haben Sie eine Fürsorge- und Obhutspflicht für alle jugoslawischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, einschließlich der kosovo-albanischen Bevölkerung.
Ich kann nur an Sie appellieren, jegliche Vertreibung und Schlimmeres in Kosovo unverzüglich zu unterbinden. Gleichzeitig müssen Sie glaubwürdige Zeichen für eine friedliche und sichere Rückkehr der Flüchtlinge und Vertriebenen setzen. Ich erinnere an den Beginn dieses Briefes. In dem Maße, in dem Sie diesen Forderungen entsprechen, wird in Europa auch die Ablehnung des völkerrechtswidrigen Kriegs der USA und der NATO gegen Jugoslawien wachsen.
Für eine Antwort wäre ich Ihnen dankbar.
Hochachtungsvoll
Dr. Gregor Gysi |