Boom am Bosporus
Auf der Hannover-Messe vertritt Ministerpräsident Tayyip Erdogan ein Agrarland auf dem Weg zum modernen Industriestaat. Der größte Handelspartner: Deutschland
TÜRKEI IM WANDELIstanbul. Mehr als 200 Aussteller aus der Türkei wollen auf der diesjährigen Hannover-Messe ihre Produkte zeigen. Ministerpräsident Tayyip Erdogan wird zur Eröffnung der Industrieschau am Sonntagabend sprechen, denn die Türkei ist 2007 Partnerland der Hannover-Messe.
Erdogan und die türkischen Aussteller können in Hannover selbstbewusst auftreten: Das einstige Agrarland ist auf dem Weg zum modernen Industriestaat. Am deutlichsten zeigt sich das in der rasanten Entwicklung der türkischen Exporte. In den vergangenen vier Jahren sind die Ausfuhrerlöse von 36 auf 85 Milliarden Dollar gewachsen. Größter Handelspartner der Türkei ist traditionell Deutschland. Das Volumen des bilateralen Warenverkehrs erreichte 2006 mit 23,5 Milliarden Euro einen neuen Rekord. Die Bundesrepublik ist der wichtigste Markt für die türkischen Exporteure, hier setzen sie rund 13 Prozent ihrer Waren ab. In der Rangliste der Lieferanten liegt Deutschland nur knapp hinter Russland.
Auch in den kommenden Jahren dürften die Exporte eine wichtige Stütze des türkischen Wirtschaftswachstums bleiben. In den ersten drei Monaten 2007 legten die Ausfuhren bereits um weitere 20 Prozent zu. Damit dürften die Ausfuhrerlöse in diesem Jahr erstmals die Marke von 100 Milliarden Dollar übersteigen.
Der Exportboom spiegelt einen tief greifenden Strukturwandel der türkischen Wirtschaft. Denn nur mit T-Shirts und Teppichen, Zitronen und Pistazien wären diese Steigerungsraten nicht zu erzielen. Zwar machen Textilien in der Ausfuhrstatistik mit einem Drittel immer noch den größten Posten aus. Aber ein wachsender Anteil der Exporte entfällt auf Industrie- und Hightech-Güter. Eine immer größere Rolle spielt zum Beispiel die schnell wachsende Automobil- und Kfz-Zulieferindustrie. Von rund einer Million produzierten Fahrzeugen gingen 2006 fast 700 000 in den Export. Wer in Deutschland einen Omnibus der Marke Mercedes oder MAN besteigt, wer einen Fiat Doblo, Ford Transit oder Renault Mégane steuert, sitzt wahrscheinlich in einem Fahrzeug "Made in Turkey". Auch in deutschen Wohnzimmern und Küchen gibt es längst viele türkische Produkte, oft ohne dass die Besitzer es wissen.
Rund die Hälfte der in Westeuropa verkauften Fernseher stammen aus türkischer Produktion. Auch die Produkte der deutschen Traditionsmarken Telefunken und Grundig kommen aus Anatolien. Für die deutsche BSH Bosch und Siemens Hausgeräte GmbH hat sich die Türkei sogar zum größten Fertigungsstandort überhaupt entwickelt. In dem eine Autostunde nördlich von Istanbul gelegenen Werk der BSH-Türkei produzieren 3000 Mitarbeiter pro Jahr rund 2,5 Millionen Waschmaschinen, Trockner, Geschirrspüler, Herde und Kühlschränke.
Neben dem großen Binnenmarkt, der zunehmend auch deutsche Einzelhandelsketten anzieht, lockt das Land mit beträchtlichen Lohnkostenvorteilen. In der Automobilindustrie zum Beispiel rechnet man in Deutschland mit Lohngesamtkosten von über 30 Euro pro Stunde. In der Türkei sind es dagegen nur etwa 6,50 Euro. Zwar liegen in Ländern wie Bulgarien und Tschechien die Lohnkosten noch niedriger, aber für die Türkei spricht die deutlich höhere Produktivität sowie die Motivation und Qualifikation der meisten Mitarbeiter.
12.04.2007 Von Gerd Höhler