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Ein Interview mit Neta Lohja (Medica mondiale) über Albanien

PabloEscobar

Gesperrt
Frage: Neta, Albanien mit seinen 4 Millionen Einwohnern gilt als eines der ärmsten Länder der Welt. Wie sieht der Alltag für die albanische Bevölkerung aus?

Neta Lohja: Die Albaner sind bekannt für ihre Großzügigkeit und Gastfreundschaft. Sie arbeiten hart und sehnen sich nach Frieden. Allerdings ist Albanien in der Tat ein sehr armes Land. 70 Prozent der Bevölkerung leben unterhalb der Armutsgrenze. Die Infrastruktur und die Wirtschaft sind sehr rückständig. Die hohe Arbeitslosigkeit im Land führt dazu, dass viele Albaner ins Ausland auswandern.

Ein großes Problem in Albanien ist zudem der Mangel an elektrischem Strom. Dies führt dazu, dass das Land täglich mehrere Stunden ohne Elektrizität auskommen muss. Dieser Mangel lähmt den gesamten Alltag im Land.


Frage: Die wirtschaftliche Rückständigkeit stellt sicherlich eine große Belastung für die gesamte Bevölkerung und insbesondere die Frauen dar. Aber auch die politischen und gesellschaftlichen Umstände führen zu einer starken Benachteilung der Frauen. Können Sie uns darüber etwas erzählen?

Neta Lohja: Wie so oft sind es die Frauen, die am meisten leiden. Unter dem diktatorischen Hoxha-Regime wurde jeder, der das Regime kritisierte oder sich für Menschenrechte einsetze, rigoros verfolgt. Diese Menschen sind auch heute noch traumatisiert und hier sind es die Frauen, die am meisten gelitten haben. Sie erlebten physische und psychische Gewalt, hinzu kam ihre Sorge und die Verantwortung für die Familie.

Insbesondere im Norden Albaniens, wo der Einfluss des Kanuns, ein womöglich schon vorchristliches, im 15. Jahrhundert erstmals niedergeschriebenes Gewohnheitsrecht der Albaner, besonders zu spüren ist, werden Frauen wie Tiere behandelt. Frauen werden gekauft, verkauft, bei Blutfehden als „Pfand“ ausgetauscht, wenn sie nicht gehorchen, gefügig gemacht, misshandelt oder sogar von ihren Ehemännern oder eigenen Vätern aus Gründen der „Ehre“ getötet. In der Mehrzahl der Fälle werden Frauen verheiratet, ohne vorher ihren Ehemann zu kennen. Aufgrund dieser patriarchalischen Strukturen werden Frauen häufig Opfer von häuslicher Gewalt. Ein weiteres Problem in Albanien sind Prostitution und Menschenhandel; man geht davon aus, dass 30.000 albanische Mädchen und Frauen Opfer von Menschenhandel geworden sind.



Frage: Seit dem Jahr 1999 engagiert sich medica mondiale in Albanien. Wie sieht das Engagement derzeit aus und an welche Frauen richtet es sich?

Neta Lohja: Unsere Projekte richten sich in erster Linie an ehemals politisch verfolgte Frauen, arme Frauen aus den Elendsgebieten Tiranas und alleinerziehende Frauen.

Die Frauen erhalten bei uns psycho-soziale Hilfe als auch gynäkologische Betreuung. Unsere Angebote sind kostenlos und wir bieten diese Dienste in unserem Zentrum in der Myslym Shyri Straße 8/1 als auch bei den Frauen zuhause an.

Zudem versorgen wir derzeit 200 der Frauen, die unsere Angebote in Anspruch nehmen mit Lebensmitteln – dank der Unterstützung des "World Food Programms" der UN. Denn in vielen albanischen Familien fehlt es schlichtweg an Geld für das tägliche Essen. Dies führt dazu, dass insbesondere die Frauen hungern und mangelernährt sind, da sie ihr Essen lieber ihren Kindern überlassen. Die bedürftigen Frauen erhalten von uns eine monatliche Ration von einer Tüte Mehl, vier Liter Öl, Fisch- oder Fleischdosen und fünf Kilo Hülsenfrüchte.


Frage: Wie werden die Projekte von den Frauen angenommen?

Neta Lohja: Unsere Arbeit zeigt bereits gute Erfolge. Die oben genannten Zielgruppen kommen mittlerweile gerne zu Medica Tirana, da sie wissen, dass sie hier ein entspanntes Umfeld erwartet. Durch die psychologische Unterstützung lernen sie, ihre Gefühle wieder zuzulassen und selbstbestimmt Entscheidungen zu treffen. Auf diese Weise haben wir es geschafft, das Selbstbewusstsein der Frauen zu steigern und darauf sind wir sehr stolz.

Frage: Neta, wie beurteilen Sie die Zukunft für Medica Tirana?

Neta Lohja: Wir bei Medica Tirana sind der Meinung, dass eine bürgerliche Gesellschaft sich nur dann entwickeln kann, wenn unser Land lernt, die langjährigen Traumatisierungen der Menschen zu verstehen und mit ihnen umzugehen. Außerdem ist eines ganz klar: Unsere Gesellschaft wird keinen Schritt vorankommen, wenn in die Gestaltung ihrer Strukturen und Demokratieprozesse die Frauen nicht mit einbezogen werden.

Dank medica mondiale in Köln und des über medica mondiale vermittelten und finanzierten Trainings durch Gabriele Müller der Organisation SEKA wurden auch wir in psychosozialer Arbeit, Traumaberatung und Psychodrama geschult und haben gelernt, wie wir den Frauen helfen können mit ihren Traumatisierungen umzugehen. Mit unserer Unterstützung können sie ihren eigenen Alltag besser bewältigen – und, wenn sie wollen, auch einen größeren Beitrag für die albanische Gesellschaft leisten.

Unser Team wird weiterhin mit den betroffenen Frauen zusammenarbeiten, sie sowohl im psychologischen als auch gynäkologischen Bereich betreuen, mit dem Ziel, diese Frauen zu stärken, die Gesellschaft auf ihr Schicksal aufmerksam zu machen uns sie wieder in diese Gesellschaft zu integrieren.

Was uns allerdings Sorgen macht, ist die weitere Finanzierung des Zentrums. Für Albanien stehen wenig internationale Gelder zur Verfügung – und für Frauenprojekte natürlich erst recht nicht. Auch in Albanien selbst können wir dafür kaum an Gelder kommen. So sind wir stark auf Spenden angewiesen, und dass Europa dieses Land in seinem Zentrum nicht vergisst.
 
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