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Ethnogenese der BiH-Völker

Parker

Rovignese
Es gab bereits die Diskussion, ob denn nun BiH-Kroaten Kroaten seien. Nun fragt einer nach der Definition von Bosniaken und die Lieblingserklärung vieler ist einfach, dass die Bosniaken islamisierte Kroaten und Serben seien. Das schreit nach Aufklärung.

Wenn einer sagt, die Bosniaken seien nichts weiter als islamisierte Kroaten/Serben, regt sich der Bosniake auf, und das nicht einmal ganz zu unrecht. Tatsache ist, dass die Ethnogesene ein klein wenig komplizierter ist, und Tatsache ist, dass die Ethnie der Bosniaken existiert.
Wenn einer sagt, ein BiH-Kroate sei doch kein Kroate, sondern ein katholischer Bosnier, ist der BiH-Kroate beleidgt, und das nicht einmal zu unrecht.

Vorweg: woher kommt die Behauptung, dass Bosniaken islamisierte Serben/Kroaten sind? Die Bezeichnungen Serben und Kroaten sind sehr alt. Sie tauchten bereits kurz nach der Landnahme der Slawen auf dem Balkan auf. Das reicht den alleswissenden Geschichtsschreibern des Balkans, zumindest auf serbischer und kroatischer Seite, als Beweis, dass die Bosniaken nichts weiter als islamisierte Seben und/oder Kroaten sind, aus. Tja, und ich sage: das ist Quatsch! Andererseits ist es auch nicht Quatsch!
Grundlegend für diese Thematik ist, dass Kroaten wie auch Serben zu akzeptieren lernen, dass sie mit den damaligen Völkern, oder, was es eher trifft, slawischen Stämmen, nicht mehr gemein haben, als die Bezeichnung. Denn nicht nur die heutigen Bosniaken sind ein junges Volk, auch die heutigen Kroaten und Serben sind es. Genau deshalb verwende ich in meinen Erläuterungen nicht die Bezeichnungen Serben und Kroaten sondern Variabeln.

Was veranlasst mich nun zu glauben, dass ausgerechnet ich die nötigen Antworten liefern könnte? Nun, einige wissen es bereits, ich habe einst GW studiert und mein Fachgebiet ist die Zeit der Völkerwanderungen. Ich bin in diesem Sinne also kein Spezialist für die Balkanvölker an sich, aber während der Völkerwanderungen wurde im Prinzip der Grundstein für die heutigen Ethnien auf dem Balkan gelegt. Reichen diese Kenntnisse aus?
Nein, tun sie nicht. Wer ein bisschen Ahnung von GW hat, der weiss, dass es hiebei in erster Linie um konkrete und mehr oder weniger klar definierbare Ereignisse hauptsächlich politischen Charakters geht. Ethnogenesen sind jedoch alles andere als klar definierbar. Sie geschehen über einen längeren Zeitraum fliessend. Also benötigt man noch fundiertes Wissen im Bereich der Ethnologie. Das habe ich nicht studiert, aber mich intensiv damit befasst, und zwar in Zusammenarbeit mit einem österreichischen Ethnologen. Gut, so weit also zu meiner Qualifikation. Selbstverständlich bin ich mir dessen bewusst, dass das Folgende nicht allen gefallen wird und man deshalb versuchen wird, mich als Person zu diskreditieren und meine Glaubwürdigkeit in Frage stellen. Ich werde darauf selbstverständlich nicht eingehen. Es interessiert mich nicht.

Zuerst einmal muss man sich im Klaren darüber sein, was eine Ethnie ist bzw. wie sich eine Ethnie definiert. Man muss sich hierfür dessen bewusst sein, dass die Ethnologie als solches eine ziemlich neue Wissenschaft ist. Sie ist allerdings genug alt, als dass sie sich bereits wieder grundlegend verändert hat, denn mittlerweile befassen sich Ethnologen kaum mehr damit, wie die einzelnen Völker entstanden sind. Wir definieren Ethnien also rückwirkend aus der heutigen Sicht der Dinge bzw. vom heutigen wissenschaftlichen Standpunkt aus. Zur Zeit der Völkerwanderung wurden keine Ethnien im heutigen Sinn definiert. Gerade die einfachen Leute dachten nicht in diesen Dimensionen. Im Normalfall, gerade in Europa, war man einfach seinem Herrn Untertan. Welcher Ethnie dieser "Herr" angehörte, war nicht relevant. Relevanter war z.B. dessen Religion. Deshalb bringt die Geschichtsschreibung allein wenige bis gar keine Hinweise auf Ethnien. Bsp. Irgendein kroatischer König. Der König selbst wird als Kroate wahrgenommen. Allenfalls betitelte ihn der Papst als regnum croatorum oder dux croatorum. Nun, das bedeutet nicht, dass seine Untertanen alle ethnische Kroaten waren. Des Weiteren grenzten sich die Menschen in zweierlei Hinsicht voneinander ab. Einerseits durch die regionale Herkunft, andererseits durch gravierende kulturelle, religiöse und/oder sprachliche Unterschiede. Der erste Fall hat zur Folge, dass in dieser Zeit regionale Bezeichnungen einen viel höheren Stellenwert hatten, als nationale. Deshalb lässt sich aufgrund schriftlicher Zeugnisse aus jener Zeit schwer auf die Ethnie schliessen, wenn z.B. irgendwo die Rede von Bosniern ist. Ethnische Bezeichnungen von Völkern wurden hauptsächlich von der politischen und religiösen Elite verwendet und selbst da sind sie mit Vorsicht zu geniessen.
Ich habe die Religionszugehörigkeit der Herrscher erwähnt. Oft wird folgende Argumentation verwendet (bsp. BiH-Kroaten): "Das sind doch keine Kroaten, dass sind einfach nur bosnische Katholiken. Wie können das Kroaten sein? Die sind ja nicht in Kroatien!" Jene, welche den letzten Satz als Argument verwenden (nicht nur im Bezug auf Kroaten), sollten spätestens ab hier nicht weiterlesen, denn sie werden die weiteren Ausführungen kaum verstehen. Geht mit der PS spielen oder etwas in der Richtung. Der erste Teil dieser "Argumentation" blendet aus, dass gerade die Religion wesentliches Kriterium für eine Ethnogenese sein kann. Die Bestimmung einer Ethnie hat nicht, wie viele fälschlicherweise glauben, etwas mit Genetik zu tun. Nehmen wir als Beispiel die übergeordneten Gruppierungen der Germanen, Slawen und Romanen. Das sind nichts anderes als Sprachgruppen. Deshalb ist auch die Behauptung, die Kroaten seien in Wirklichkeit keine Slawen ziemlicher Blödsinn. Sie sprechen eine slawische Sprache, also sind sie Slawen. So einfach ist das. Man könnte höchstens einwenden, dass sie nicht immer Slawen waren. Aber das ist, wenn überhaupt, nur von geringfügigem Interesse.
Wie vollzieht sich also eine Ethnogenese? Wenn eine Gruppe von Menschen innerhalb einer Region eine Interessengemeinschaft bildet, deren Grundlagen dieselbe Sprache und dieselben alltäglichen Gepflogenheiten bilden, dann vollzieht sich eine Ethnogenese. Hierfür muss sich die Region, in der diese Menschen leben, in einem Ruhezustand befinden. D.h., eine Ethnogenese kann sich nicht vollziehen, wenn auf diesem Gebiet Wanderungen verschiedenster Völker und Stämme stattfinden. Die Sprache ist hierbei wohl der wesentlichste Faktor, weil sie sich am besten für eine Abgrenzung eignet, aber auch die Religion ist hier ein wesentlicher Faktor, weil gerade in frühreren Zeiten die Religion massiv auf das Alltagsleben eingewirkt hat. Besonders relevant ist hierbei nicht nur, dass man sich untereinander als zugehörig emfpindet, sondern dass man sich gegenüber anderen bewusst oder unbewusst abgrenzt. Heute ebenfalls wesentlich ist das eigene Zugehörigkeitsgefühl zu einer Ethnie. Ob nun eine Menschengruppe ausreichend Unterscheidungsmerkamle zu den benachbarten Menschengruppen aufweist, so dass von einer eigenen Ethnie gesprochen werden kann, ist ein Streitpunkt.

Gut, schauen wir uns nun die historischen Ereignisse an und lassen die Wissenschaft der Ethnologie miteinfliessen. Ein wesentliches Problem ist, dass in frühen Quellen tatsächlich die Stammesnamen Kroaten und Serben auftauchen. Für viele ist das Hinweis genug, dass es die beiden Völker derselben Namen seit damals auf dem Balkan gibt und dass andere Völker aus ihnen entstanden sind. Wer das denkt, hat keine Ahnung von der Materie, kann das nun aber, sofern des Willens dafür, gleich ändern. Damit nun keine Missverständnisse entstehen und damit ich den eben gerade Genannten kein Futter liefere, verwende ich in einem zweiten Schritt statt der Volks- oder Stammesbezeichnungen Variablen.

Bereits im 6. Jahrhundert also wanderten Slawen auf den Balkan und trafen dort auf verschiedene Völker. Gemäss Aufzeichnungen, die einiges später verfasst worden sind, welche sich aber auf zeitgenössische Werke stützen sollen, kamen in einer zweiten Welle unter anderem die Stämme X und Y. Zu dieser Zeit herrschte auf dem Balkan ein politsches Chaos bzw. ein Vakuum. Mit der Zeit kehrte Ruhe ein, die Bewegungen reduzierten sich, die Christianisierung war vollzogen. Das schuf die Voraussetzungen für eine erste Ethnogenese. Aus ethnologischer Sicht entstand in der darauffolgenden Zeit auf einem Grossteil des Gebiets des ehemaligen Jugoslawien EINE Ethnie, deren Bestandteil die Stämme X und Y, sowie noch viele weitere "Stämme" waren. Nochmal zur Erinnerung: wenn ich von Ethnie schreibe, dann meine ich das immer aus wissenschaftlicher Sicht aufgrund von Unterscheidungsmerkmalen. Wir müssten diese Ethnie also XYZ nennen, was allerdings implizieren würde, dass X und Y eine dominierende Rolle gespielt haben. Dem war nicht so, bzw. wir wissen nicht, ob das so war. Deshalb nennen wir diese Ethnie nicht XYZ sondern einfach A. Die Bezeichnungen X und Y blieben erhalten und bezeichneten Völker, aber diese Völker wiesen keine ausreichenden Unterscheidungsmerkmale auf, als das aus ethnogischer Sicht von verschiedenen Völkern die Rede sein könnte. Deshalb heissen sie für uns jetzt nicht mehr X und Y, sondern A1 und A2. Relevant ist hierbei das A. Grundsätzlich gab es noch weitere A, nur wurden diese kaum benannt, also belassen wir es vorerst bei A1 und A2. Ein Teil von A1 sowie ein Teil von A2 nannten sich gleich wie die zwei Stämme X und Y, deren Bezeichnungen die Jahre überdauert hatten. Einige dieser Menschen waren tatsächlich Nachfahren von X bzw. von Y, aber bei weitem nicht alle. Um es nochmals zu verdeutlichen: Aus X, Y und anderen Variabeln wurde A, wovon sich ein Teil als A1 und A2 sah, was sich vorallem auf politsche Gebilde und nicht auf ethnische Unterschiede äusserte. Vielleicht gab es auch A3 und A4, im Sinne von Regionen, über welche die Herrscher von A1 und A2 keine wirkliche Kontrolle hatten, aber darüber gibt es zu diesem Zeitpunkt keine Aufzeichnungen. Relevant ist, dass in der ganzen Gruppe A aus ethnologischer Sicht und vom heutigen Wissenstand beurteilt nicht genügend Unterschiede auszumachen sind, als dass innerhalb von A von verschiedenen Ethnien gesprochen werden kann. Dass es trotzdem unterschiedliche Bezeichnungen gab, wie eben A1 und A2, ist aus ethnologischer Sicht völlig irrelevant und hat nur für Historiker Bedeutung.
Innerhalb dieser Gruppe A begannen sich Unterschiede herauszukristallisieren, aber wir sind noch nicht so weit, um behaupten zu können, dass diese Unterschiede ausreichen, als das von verschiedenen Ethnien gesprochen werden kann. Der A südlich der Save und westlich der Drina empfand den A nördlich der Save und den A östlich der Drina nicht als so fremd, obwohl sie alle zeitweise verschiedenen Herrschern Untertan waren, denn sie waren alle Christen und sprachen die gleiche Sprache mit geringen Unterschieden. Der erste grosse Schnitt kam mit der Teilung der christlichen Welt. Zuerst ein rein kirchenpolitischer Akt, legte es den ersten Grundstein, dass sich die Anghörigen der beiden daraus hervorgehenden Kirchen voneinander entfremdeten. Mit der Zeit entstand also aus A1 und A2 B und C. Hinweise auf weitere Aufsplittung in dieser Zeit gibt es nicht. B sind Katholiken und C sind Orthodoxe. Das heisst: während A1 und A2 sich nicht gleich nannten, waren sie aus ethnolgischer Sicht dasselbe. B und C, welche aus A1 und A2 hervorgegangen sind, sind jedoch nicht mehr ganz dasselbe und entfernen sich im Laufe der Geschichte immer mehr voneinander.
Ein wenig später steigt so ziemlich im Zentrum des Ganzen eine Region in der "Hierarchie" auf. Dort entstehen zeitweise mächtige Staaten. Ein Teil dieser Menschen hat auch ihre eigene Bezeichung, aber ethnologisch gesehen handelt es sich auch hier um die Ethnie A und/oder B. Denn die Unterschiede sind zu gering. Sie sind Christen und hauptsächlich Katholiken und sie sprechen mehr oder weniger dieselbe Sprache wie die Menschen B. Deshalb nennen wir diese nun Bc. Grosses B, weil sie hauptsächlich Katholiken waren (wie B), kleines C, weil es auch Orthodoxe gab (wie C).
In einem Teil dieser Region kam es zu religiösen Abspaltungen. Wie gross der Anteil an Katholiken bzw. Orthodoxen in dieser Region zu dieser Zeit war, wissen wir nicht. Theoretisch könnte das nun als Grundlage für eine weitere Ethnogenese herangezogen werden, wird es aber nicht, denn offensichtlich war diese Religion (Bosnische Kirche) nicht gefestigt genug. Das bedeutet nun nicht, dass etwa die katholische Kirche gefestigt war. Wenn sie es gewesen wäre, wäre es zu dieser Bewegung gar nicht erst gekommen. Grundsätzlich geht die Geschichtsschreibung davon aus, dass zum Zeitpunkt des Einfalls der Osmanen die Bosnische Kirche kaum noch existent war und dass die Herrscher von Bc Katholiken waren.
Der nächste Schnitt, der noch viel gravierender war, als das Schisma, folgte dann bald mit dem Einfall der Osmanen. Während der Osmanenherrschaft entstand eine vollends neue Kultur, was zur Ethnogenese des Volks D führte, d.h., aus einem Teil von Bc wurde D. Ein anderer Teil von Bc blieb aber bestehen.

Wer nun gleich schreiben will, B sind die Kroaten und Bc soll einfach einmal mehr darstellen, dass Bosniaken islamisierte Kroaten sind, soll bitte weiterlesen. Nicht ohne Grund verwende ich die Buchstaben und nicht die Bezeichnungen.

Im Laufe der nächsten Jahrhunderte verlief die Geschichte von B, Bc, C und D teilweise geeint, zu einem grossen Teil aber auch gesondert. Sie konnten sich unabhängig voneinander weiterentwickeln. Irgendwann deklarierten sich Menschen auch ausserhalb ihres "Stammgebiets" aufgrund der nähestiftenden Kriterien (allen voran der Religionszugehörigkeit) als Angehörige von einer der Nationen, weshalb aus einem Teil von Bc Angehörige von B und aus dem anderen Teil Angehörige von C wurde. Das ist nicht falsch, weil die Religion gewichtiges Merkmal für eine Ethnogenese ist. Das Ganze war laufenden Veränderungen unterworfen. Vielleicht wurden West-Hercegoviner nur aufgrund ihrer Religion zu Kroaten, aber das ist nicht falsch. Im Laufe der Jahrhunderte wurden auf jeden Fall aus den Völkern B, C und D die Völker E, F und G. Damit möchte ich verdeutlichen, dass sie sich noch weiter von ihrem Ursprung entfernt hatten. E hiess halt einfach gleich wie X und F hiess gleich wie Y, aber das war es dann schon mit den Gemeinsamkeiten.

Wenn das nun für jemanden zu kompliziert war, hier noch ein graphisches Schema.

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