Petrovic: "Beitritt muss das Ziel sein"
Die Vizechefin der Grünen im STANDARD-Interview: Um die gemäßigten Kräfte in den islamischen Ländern zu unterstützen
Zur Person:
Madeleine Petrovic (48) ist seit 2003 Landtagsabgeordnete und Klubobfrau der Grünen in Niederösterreich. Dreizehn Jahre war sie im Parlament, drei Jahre Bundessprecherin der Grünen.
Das Gespräch führte Michael Völker.
Standard: Die Grünen sind sich auch nicht ganz einig. Soll die Türkei der EU beitreten dürfen?
Petrovic: Ich bin froh, dass bei den Grünen die Position eine Mehrheit gefunden hat, Beitrittsverhandlungen mit der Türkei zu beginnen. Ich sehe die Argumente von Johannes Voggenhuber, dass das eine gewaltige Aufgabe ist, und ich teile die Meinung, dass der Balkan mindestens gleichzeitig drankommen sollte.
Standard: Wäre die EU damit nicht überfordert?
Petrovic: Wenn der Balkan mit seinen nicht gerade kleinen Problemen zur EU kommt und die Türkei, dann wird die EU, wenn sie sich dieser Aufgabe stellt, durch diesen Prozess verändert werden. Die Strukturfonds und auch die Förderungszahlungen werden nicht in der gleichen Art und Weise fortgesetzt werden können, wenn sich die EU nicht völlig übernehmen will.
Standard: Gehen Sie über Wolfgang Schüssels Position hinaus, der sagt, Beitrittsverhandlungen ja, aber mit offenem Ausgang?
Petrovic: Wenn man schon verhandelt, so muss der Beitritt der Türkei auch das Ziel sein. Verhandlungen mit gekreuzten Fingern hinter dem Rücken zu führen, das sollte man nicht tun. Wenn sich nicht ein unüberbrückbares Hindernis auftut, dann sollte das Ergebnis zu einem Beitritt führen. Natürlich muss man bei der Türkei darauf achten, dass Beschlüsse in Sachen Menschenrechte, Minderheitenrechte, Frauenrechte auch wirklich vollzogen werden, das stimmt schon. Aber man soll bei der Türkei nicht andere oder noch strengere Kriterien als bei den anderen europäischen Ländern anlegen.
Standard: In Österreich herrscht aber eine Stimmung vor, die eindeutig gegen einen EU-Beitritt der Türkei ist.
Petrovic: Stimmungen können sich auch ändern. Hätte man vor dem Beitritt Tschechiens oder Polens an den Stammtischen nachgefragt, ich weiß nicht, was da herausgekommen wäre. Es war auch hier so, dass die österreichische Politik mit gutem Beispiel vorangegangen ist und versucht hat, das Klima zu verbessern. Wir müssen uns auch unsere demografische Situation vor Augen halten.
Standard: Die Österreich haben laut einer Umfrage gegenüber Türken die größten Vorbehalte. Es heißt, türkische Bürger seien am wenigsten bereit, sich unserer Lebensweise anzupassen.
Petrovic: Es ist die Frage, welche türkischen Bürger wir kennen. Durch das diskriminierende Gastarbeiterrecht haben wir überwiegend Leute in Jobs, die hier kein Mensch mehr machen will. Es kennt kaum jemand türkische Ärzte oder Rechtsanwälte. Man lernt nur Leute in Berufsbildern kennen, die wenig geachtet sind. Dass es in der islamischen Welt Fundamentalismen gibt, ist überhaupt keine Frage. Es ist aber auch die Frage, ob es nicht ein wesentliches Signal an die gemäßigten Teile der islamischen Gesellschaft wäre, sehr bewusst eine politische Union anzustreben. Wo soll sich die Türkei hinorientieren, wenn Europa die Tür zuschlägt? Dann kann es nur Richtung Osten gehen, und ob wir das wollen . . .
Standard: Sie meinen, es ist möglich, den Fundamentalismus durch Einbindung zu besänftigen?
Petrovic: Der Verhandlungsprozess wäre eine Stärkung der gemäßigten Teile. Die Palette von Angehörigen der islamischen Religion reicht von der iranischen Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi bis hin zu Leuten, die anderen den Kopf abschneiden. Wir müssen die modernen Kräfte stärken und unterstützen.
Standard: Ist das nicht ein bisschen blauäugig?
Petrovic: Konflikte gibt es, und die kann man nicht wegleugnen. Aber sie sind militärisch nicht mehr lösbar. Wir müssen andere Methoden finden, um uns mit der islamischen Welt und mit den unterschiedlichen Auffassungen auseinander zu setzen. Da fallen mir nur politische Verhandlungsprozesse ein. Zu sagen, Halt, Grenze, und jetzt kommen die Panzer, das schafft auf Dauer keinen Frieden, das sehen wir jeden Tag. (DER STANDARD, Printausgabe, 28.9.2004)