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Flucht und Vertreibung der Türken-1814/1926 + 1923/1991

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Popeye

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Flucht und Vertreibung der Türken-1814/1926 + 1923/1991

[SIZE=+2]Flucht und Vertreibung[/SIZE]

Osmanisch muslimische Flüchtlingsbewegungen in und aus den Balkanprovinzen zwischen 1814 - 1926 und in die türkische Republik zwischen 1923 - 1991.


Artikelbeitrag in: Istanbul Post 20.04.2002
[SIZE=+1]1. Vorwort[/SIZE]
Wenn es auch wahr ist, daß diejenigen, die ihre Vergangenheit vergessen, keine Zukunft haben, so zeigt gerade das menschliche Drama der vergangenen 200 Jahre auf dem Balkan, welche ver- heerende Folgen der ideologische Umgang mit Geschichte haben kann. Alte Wunden heilen langsam - für das Verständnis der heutigen Türkei scheint darum insbesondere die Kenntnis des historischen Traumas, das die Vertreibung und Zwangsumsiedlung muslimischer Bevölkerungsteile vom Balkan hinterlassen hat, von großer Bedeutung. Türkischer Nationalismus, die Doktrin von der Unteilbarkeit des türkischen Staates und die spezifisch türkische Interpretation muslimischer Solidarität gewinnen vor dem Hintergrund dieser Erfahrung an Kontur. Dieser Artikel geht darum den im 19 Jh. beginnenden Vertreibungen, Umsiedlungen und Deportationen osmanischer Muslime aus den Balkanprovinzen nach.

2. Die historische Ausgangslage
Anfang des 19 Jh. waren große Teile der Balkanprovinzen nicht mehr in der unmittelbaren Ver- waltung der Reichsregierung, sondern zergliederten sich in sogenannte (derebeys) bzw. Talfürsten- tümer. Diese quasi autonomen Stadthalterschaften oder Provinznotablen (ayan-i vilayet) entstanden zum Großteil aus Familienverbünden ehemaliger Provinzgouverneure insbesondere auf dem Balkan (1). Diese Kleinstaaten unterhielten eigene Verwaltungen und eigenes irreguläres Militär. Sie fühlten sich nur zum Teil an die zentralen Gesetze gebunden und zogen selbständig ihre Steuern ein. Da die Zentralregierung zum Anfang des 19 Jh. militärisch zu schwach war, diese Staaten im Staat zu be- kämpfen, kooperierte man mehr oder weniger oder spielte die unterschiedlichen Familien gegen- einander aus. Tatsächlich entstand somit eine despotische Willkürherrschaft in den Balkanprovinzen, deren Abgabendruck sich mehr und mehr in sozialen Unruhen Luft machte. Aus historischer Sicht erscheint das 19 Jh. als das Jahrhundert der Nationalen Unabhängigkeitsbewegungen auf dem Balkan, ja es scheint, als hätten innerhalb kürzester Zeit die eigentlich unterdrückten christlichen Bewohner sich aus dem „Türkenjoch" befreit und eine neue „Freiheit" erzwungen. Die ersten Un- ruhen im 19 Jh. waren aber in erster Linie soziale Aufstände gegen die willkürliche Besteuerung durch die halbautonomen Staathalter (2). Die Unruhen hatten ihren militärischen Rückhalt in traditionellen Banden in Serbien und in der Morea (Peloponnes). Diese Aufstände wurden von Rußland ausgenutzt, um territoriale Ansprüche gegen das Osmanische Reich durchzusetzen. Durch die Idee der Nation und die Entdeckung der historischen bzw. nationalen Geschichtsschreibung entstanden aus den bisherigen unkoordinierten Unruhen vor allem durch Rußland unterstützte nationale Bewegungen, die sich an der Sprache als einzigem Merkmal der Zusammengehörigkeit orientierten (3).

3.Sprachnationalismus und ethnische Säuberung
Dieser Sprachnationalismus, zum Teil gepaart mit dem christlichen Glauben führte zum Kampf gegen all diejenigen, die nicht christlich waren oder die richtige Sprache sprachen. Anders aus- gedrückt implizierten die sogenannten Nationalen Befreiungskriege gleichzeitig die gezielte Vertreibung sogenannter nicht nationaler Bevölkerungsgruppen außerhalb ihres (gedachten) Wohnsitz- staates. Dies geschah meist durch mili- tärischen Druck oder durch Zerstörung der Lebensgrundlagen der Betroffenen, durch Staatsterror oder durch einen ausgehandelten Bevölkerungsaustausch.

Dabei stellten die nationalen Kerngebiete, also die Gebiete, die am Anfang eines Unabhängigkeits- krieges halbwegs homogen in ihrer Bevölkerungssiedlung waren, nur sehr kleine meist unzusammen- hängende Gebiete dar. Durch das islamisch-osmanische „millet-System" war es möglich, die jewei- lige Kultur und Sprache über Jahrhunderte osmanischer Herrschaft aufrechtzuhalten. Diese Tatsache mußte mit Beginn der militärischen Auseinandersetzung sofort im Sinne einer homogen Besiedelung aus der Welt geschafft werden (‚ethnische Säuberung'). Dadurch waren die Unabhängigkeitskriege auf dem Balkan nicht einfach ein Kampf zwischen einer nach Befreiung strebenden Bevölkerung, sondern ein politischer und sozialer Bürgerkrieg mit all seinen brutalen und grausamen Erscheinun- gen. Wichtig erscheint hier die Tatsache, das erstens keine staatliche Unabhängigkeit allein durch die betroffene Bevölkerung erreicht wurde. Die Unabhängigkeit von Serbien, Rumänien, Bulgarien, Albanien, Griechenland und Montenegro wurde immer erst durch militärisches oder diplomatisches Eingreifen der Großmächte Rußland, Frankreich, Großbritannien, Österreich-Ungarn oder Preußen möglich. Das bedeutet zweitens, daß der Beginn und die Methoden der Durchführung dieser "Be- freiungskriege" immer mit einem territorialen Erfolg belohnt wurden - unabhängig davon, wie sich die Reichsregierung in Konstantinopel verhielt.(4) Dabei spielte es keine Rolle mehr ob das zu befreiende Gebiet überhaupt von einer Mehrheit der zu Befreienden bevölkert wurde oder nicht. Die Erfahrung der siegreichen territorialen Ausdehnung veranlaßte die neu entstehen Staaten zu immer weiterreichenden Gebietsforderungen, was zwangsläufig zu immer neuen Unruhen, Vertreibungen, Kriegen und neuen Forderungen führte. Je weiter sich die territoriale Ausdehnung von den anfäng- lichen Siedlungsgebieten des Nationalstaates ausdehnte, desto absurder wurden die Argumentationen und Rechtfertigungen für tausendfachen Mord, Vertreibung und Deportation der Bevölker- ungsgruppen. Die gerade auf dem Südbalkan geschichtlichen Vermischungen unterschiedlicher Völker, Religionen und Sprachen wurde von den neuen Nationalstaaten als Tatsache nicht anerkannt.​
 
4. Nationalismus am Beispiel Mazedoniens
Betrachten wir z.B. die unterschiedlichen bevölkerungsspezifischen Argumentationen in Mazedonien. Mazedonien gehörte bis 1912 zum Osmanischen Reich. Dort lebten dem osmanischen Bevölker- ungsregister (Die osmanische Zählung erfolgte weder nach Rasse oder Sprache , sondern nach der Religionszugehörigkeit) zufolge ca. 1,1 Mio. Muslime (Türken, Aromunen, Armenier, Tataren, Albaner, Pomaken, Sinti und Roma etc.), 0,5 Mio. griechisch Orthodoxe ( Slawisch oder griechisch sprechende Einwohner die sich dem griechischen orthodoxen Patriarchat in Athen zurechneten), 0,7 Mio. bulgarisch Orthodoxe (Slawisch oder griechisch sprechende Einwohner die sich dem bulgarisch-orthodoxen Exarchats in Sofia zurechneten) und 0,08 Mio. Andersgläubige christlicher und vor allem jüdischer Religion. Nach bulgarischer Sichtweise lebten zur gleicher Zeit in Make- donien 1,1 Mio. Bulgaren, 0,5 Mio. Muslime, 0,23 Mio. Griechen und 1000 Serben. Makedonien war nach bulgarischer Geschichtsschreibung unter Bezugnahme auf das Groß-Bulgarische Reich im 13. Jh. ehemals bulgarisches Gebiet. Nach serbischer Sichtweise lebten zu gleicher Zeit in Make- donien 2 Mio. Serben, 0,23 Mio. Muslime, 0,2 Mio. Griechen und 57,000 Tsd. Bulgaren. Nach serbisch-nationaler Geschichtsschreibung war Makedonien ehemals Bestandteil des Groß- Serbischen Reiches im 14 Jh.. Die griechische Geschichtsschreibung nennt 0,65 Mio. Griechen, 0,63 Mio. Muslime und 0,33 Mio. Bulgaren. Makedonien ist Bestandteil Griechenlands, weil dies schon zu Zeiten Alexander des Großen, also seit dem 4 Jh. vor Christus griechisch war (5). Die Erwähnung bzw. Konstruktion einer eigenen makedonischen Nation erfolgt erst durch die Kom- munistische Partei in Jugoslawien 1949.
Diese auf der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibung beruhenden Positionen sind in den jüngsten Unabhängigkeitskriegen im ehemaligen Jugoslawien als Rechtfertigung seitens der Serben oder bei der Ausrufung der Unabhängigkeit Makedonien von Seiten Griechenlands immer noch fester Bestanteil der jeweiligen Regierungsargumentationen. Die Zerstückelung von Makedonien erfolgte im 1. und 2. Balkankrieg seitens Serbien, Griechenland und Bulgariens. Doch wurden schon Jahr- zehnte davor terroristische Vereinigungen zur „Befreiung" Makedoniens gegründet. Serbien orga- nisierte sogenannte „Befreiungskomitees", die später unter dem Namen ‚Komitadschi' oder auch ‚Cetnici' bekannt wurden. Diese Guerillaverbände bekämpften vor allem osmanische Einrichtungen und Armeeangehörige, aber auch muslimische Einwohner, insbesondere Albaner. Gleichzeitig wurden bulgarische kirchliche Einrichtungen und Funktionäre sowie bulgarisch sprechende Ein- wohner Ziel von Anschlägen. Bulgarien gründete die sogenannten IMRO-Einheiten (Innere Maze- donische Revolutionsorganisation). Sie richteten sich in erster Linie gegen osmanische Einrichtungen und Armeeangehörige sowie muslimische Einwohner. Daneben verteidigten sie Einrichtungen und Angehörige der bulgarisch-orthodoxen Kirche gegen Anschläge der serbischen Komitadschi und unternahmen Anschläge auf serbische Bewohner. Griechenland unterstützte insbesondere die ser- bischen Guerillaverbände in ihrem Kampf und förderte außerdem Anschläge auf osmanische Ein- richtungen und Armeeangehörige.(6) Diese Konstellation blieb auch nach dem Zusammenbruch der osmanischen Herrschaft in Makedonien bestehen und funktionierte in teils veränderten Guerilla- taktiken und politischen Konstitutionen bis 1949.
 
5. Flüchtlinge und Vertriebene zwischen 1814 -1926 (7)
Um die Tragweite der Flucht und Vertreibung muslimischer Bevölkerungsgruppen darzu- stellen möchte ich einige Zahlen nennen, um das ganze Ausmaß dieser vor allem für die Bewohner der türkischen Republik trauma- tischen Erlebnisse und Flüchtlingsproblematiken zu verstehen.
1814 - 1826 Serbischer- und griechischer Unabhängigkeitskrieg ca. 20-40.000 Tsd. Flüchtlinge.
1854 bis 1865 Russische Vertreibungen muslimischer Krimtataren in die Balkanprovinzen ca. 300.000 Tsd.

1875 - 1878 Vertreibungen und Flucht aus Bosnien, Serbien, Rumänien, Bulgarien und Griechen- land ca. 500.000 bis 600.000 Tsd.
1908 Umsiedlung von Muslime aus Kreta ca. 90.000 Tsd.
1912 - 1914 1. und 2. Balkankrieg Vertreibung, Flucht, Deportation und Umsiedlung ca. 450.000 Tsd.
1919 - 1926 Inneranatolische Flüchtlinge und ausgesiedelte Flüchtlinge aus Griechenland ca. 1,2 Mio.
Flüchtlinge und Umsiedler bzw. Aussiedler zwischen 1923 und 1991 aus den ehemaligen Balkanprovinzen.
1923 bis 1991 Aussiedlung und Flüchtlinge aus Bulgarien ca. 700.000 Tsd.
1929 - 1936 Umsiedlung aus Rumänien ca. 120.000 Tsd.
1949 - 1960 Umsiedlung und Flüchtlinge aus Jugoslawien ca. 300.000 Tsd.
1930 -1960 Flüchtlinge aus Griechenland ca. 60.0000 Tsd.

Zusammenfassend ergibt sich eine Zahl von cirka 1,3 Mio. Flüchtlinge auf dem Balkan, die mehr oder weniger vollständig in Anatolien angesiedelt werden mußten. Während des türkischen Unab- hängigkeitskrieges wurden neue Flüchtlingsströme in Anatolien hervorgerufen, die ungefähr 1,2 Mio. Menschen umfaßten, darunter natürlich auch Flüchtlinge, die schon einmal oder mehrmals Vertrei- bung erlebt hatten. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches erfuhr die türkische Republik noch einmal eine kontinuierliche Einwanderung von Flüchtlingen aus den ehemals euro- päischen Besitzungen des Osmanischen Reiches in einer Größenordnung von ca. 1,2 Mio. Mensch- en. Zählt man zu dieser Zahl noch die 450.000 Menschen hinzu, die nach dem türkischen Unab- hängigkeitskrieg durch einen Bevölkerungsaustausch mit Griechenland aufgenommen werden mußten, so ergibt sich eine Übereinstimmung zu den türkischen amtlichen Übersiedler und Immi- grationszahlen von 1,65 Mio. muslimischen zwischen 1923 und 1991.
Alle diese Zahlen beziehen sich nur auf die Balkanprovinzen nicht auch auf die Flüchtlingszahlen im Kaukasus und Ostanatolischen Gebiet. Ebenso handelt es sich ausschließlich um Zahlen der mus- limischen Bevölkerung, wenngleich ebenfalls große Flüchtlingsbewegungen christlicher Bevölker- ungsanteile (insbesondere griechische und bulgarischer Abstammung) oder jüdische (9) Bevölker- ungsgruppen nicht vergessen werden dürfen.​
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Anmerkungen und Literatur
1. Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Darmstadt 1985 S.210 ff.
2. Edgar Hösch: Geschichte der Balkan-Länder. München 1999 S.140 ff.
3. Justin McCarthy: The ottoman Peoples and The End of Empire. New York 2001 S. 40ff.
4. McCarthy, Op. cit., S. 51 und Suraiya Faroqhi: Geschichte des Osmanischen Reiches. München 2000 S. 92
5. Hierzu siehe die Statistiken bei McCarthy, Op. cit., S.58 ff. sowie Karin Boeckh: Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. München 1996 S.232 ff. und S. 329 ff.
6. McCarthy, Op. cit., S.87 ff, sowie Boeckh, Op. cit., S. 184 ff.
7. Das Zahlenmaterial über Vertriebene und Flüchtlinge wurde über drei Quellen verglichen und zusammengefaßt. Die umfaßtesten Bevölkerungsanalytischen arbeiten entstanden durch den amerikanischen Professor Justin McCarthy. Ebenso sehr Aufschlußreich und Reihhaltig sind die Bevölkerungszahlen bei Karin Boeckh, Op. cit. S. 257 ff. insbesondere für die Balkankriege. Desgleichen interessant sind die Forschungen des Zentrum für Türkeistudien unter Leitung von Professor Faruk Sen. (Hrsg.) Zentrum für Türkeistudien. Das ethnische religiöse Mosaik der Türkei und seine Reflexionen auf Deutschland. Münster 1998 S.17 ff.
8. ZfT, Op. cit. S. 19ff
9. Boeckh, Op. cit., S. 356 ff.​
 
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Türkische Gefangene werden in Skoplje in die Eisenbahn verladen. Quelle: Vischer, Adolf: An der serbischen Front, Basel 1913
 
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