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Garri Kasparow
GEWINNEN
BEIM SCHACH
in 24 Lektionen
RAU
Walter Rau Verlag
Düsseldorf
scanned by Heide1
Aus dem Russischen übersetzt von W. Lomow
Redaktionell bearbeitet von Bernd Feustel
© 1984/85 Sport in der UdSSR Foto:
Michael Kupferschmidt, Basel
Titel der 1987 beim Walter Rau Verlag erschienenen Erstauflage:
Garri Kasparow lehrt Schach - in 24 Lektionen
3. Auflage 1992
© 1987 by Walter Rau Verlag, Düsseldorf
Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache, auch durch Film, Funk,
Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art
und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Dieses Buch wurde aus Gründen des Umweltschutzes auf
sauerstoffgebleichtem Papier gedruckt!
Umschlaggestaltung: Miguel Carulla, Düsseldorf Satz:
Schach-Spezialsatz Bernd Feustel, Bamberg Druck:
Beyer-Druck, 8607 Hollfeld Printed in Germany ISBN 3-
7919-0265-2
Inhaltsverzeichnis
Lektion 1: Wozu lernt man Schach? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Lektion 2: Vielfalt an Ideen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Lektion 3: Bewertung und Zusammenspiel der Figuren . . . . . . . . . . . . 18
Lektion 4: Kampf um das Übergewicht im Zentrum . . . . . . . . . . . . . . 24
Lektion 5: Wie erobert man Raum?-Raumvorteile . . . . . . . . . . . . . . 31
Lektion 6: Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . 38
Lektion 7: Aktivität und Koordination der Figuren . . . . . . . . . . . . . . . 44
Lektion 8: Grundlegende Prinzipien der Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . 50
Lektion 9: Vernachlässigte Eröffnungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 56
Lektion 10: Das Ziel des Schachkampfes in der Eröffnung . . . . . . . . . . . 62
Lektion 11: Offene, Halboffene und Geschlossene Spiele . . . . . . . . . . . 67
Lektion 12: Die Kunst der Planung-Strategien im Mittel-und Endspiel . . . . 73
Lektion 13: Was geht einem Damenopfer voraus? . . . . . . . . . . . . . . . 79
Lektion 14: Wenn man keine Auswahl an Zügen hat - Opferpartien . . . . . . 83
Lektion 15: Einige prägnante taktische Motive und ihre exemplarische Anwendung . 88
Lektion 16: Das Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Lektion 17: Methoden der Angriffsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Lektion 18: Angriff und Verteidigungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Lektion 19: Zum Thema Gegenangriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Lektion 20: Die Könige in der Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Lektion 21: Der Angriff im Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Lektion 22: Festungen auf dem Schachbrett . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Lektion 23: Schachkompositionen und-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Lektion 24: Sparen Sie nicht mit der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Partienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Biographische Angaben - Garri Kasparow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Vorwort
Die Zeitschrift: »Sport in der UdSSR« veröffentlichte über einen Zeitraum von 24
Monaten in den Jahren 1984 und 1985 eine Serie von 24 Schachlektionen, die Garri
Kasparow in leicht verständlichem Stil für Durchschnittsschachspieler abgefaßt hat.
Alle wichtigen Elementarkenntnisse aus den Bereichen »Eröffnung«, »Mittelspiel«
und »Endspiel« werden hierin in übersichtlicher und einprägsamer Form vermittelt;
die wichtigsten Grundlagen zum Verständnis des Positions- und Kombinationsspiels
werden gelegt; die relevanten theoretischen Begriffe werden sämtlich durch
praktische Anschauungsbeispiele verdeutlicht und erklärt.
Viele wichtige Fragen, die sich ein Schachfreund bei der Analyse von Partien oder
beim Lösen von Schachaufgaben stellt, hat der Autor aufgegriffen und in
kompetenter Weise beantwortet. Garri Kasparow versteht es vorzüglich,
anschauliches Beispiel- und Lehrmaterial (sowohl aus seiner eigenen Turnier- und
Wettkampfpraxis als auch aus älteren Quellen) auszuwählen und pädagogisch
geschickt aufzubereiten.
Der Leser wird nicht überfordert; die Lektüre wird aber auch nie langweilig, denn
stets wird ein einfühlsamer, nie ein schulmeisterlich-dozierender Stil verwendet.
Mittlerweile hat Garri Kasparow den Weltmeistertitel errungen, und damit einmal
mehr unter Beweis gestellt, daß sein persönliches Herangehen an das Schachspiel
richtig und erfolgversprechend ist. Wer sich also ernsthaft und tiefgründig mit allen
Aspekten des Schachs beschäftigen möchte, der wird keine bessere Einstiegslektüre
finden können als dieses Werk des Weltmeisters.
Da diese Artikelserie aber nur einem Teil der deutschen Schachfreunde bislang
zugänglich war, hat sich der Walter Rau Verlag dazu entschlossen, das gesamte
Lehrmaterial in der Form eines Buches erscheinen zu lassen. Dabei wurde auf eine
übersichtliche Darbietung des Materials ebenso geachtet, wie auf die Beseitigung
von Flüchtigkeitsfehlern, die sich in die Artikelserie eingeschlichen hatten.
Jedem Leser, der sich durch dieses Buch tiefer in die Geheimnisse des Schachs
einführen läßt, wünschen wir vergnügliche Stunden in dem Zauberreich der
Schachgöttin Caissa.
Walter Rau Verlag September 1992
Wozu lernt man Schach?
1. Lektion
Wozu lernt man Schach?
Die Bitte der Redaktion der Zeitschrift »Sport in der UdSSR«, eine Reihe von
Fernvorlesungen für die Leser zu halten, kam für mich etwas unerwartet, weil
ich selbst nach wie vor bemüht bin, in die Geheimnisse der Schachkunst
einzudringen. Nach reiflicher Überlegung wurde mir jedoch klar, daß eine
derartige Zusammenfassung über mein Verständnis und meine Interpretation
der Grundlagen des Schachspiels auch für mich selbst von Nutzen sein würde.
Ich liebe das Schachspiel sehr, ich liebe es seit langem und offenbar wird
diese Liebe mein ganzes Leben lang bestehen bleiben. Ich studiere dieses
Spiel ständig und sorgfältig, dennoch, wenn ich von Zeit zu Zeit meine Leistungen
einschätze und festlege, was in nächster Zukunft zu tun ist, bin ich
jedesmal von der Unergründlichkeit des Schachspiels überzeugt. Urteilen Sie
selbst. Es sind Millionen von Schachpartien gespielt und Tausende von
Büchern geschrieben worden, die verschiedene Aspekte des Schachspiels
analysieren, doch bis heute gibt es weder eine allgemeingültige Formel des
Schachspiels oder Methode für einen garantierten Sieg, noch mathematisch
strenge Kriterien für die Einschätzung auch nur eines einzigen Zuges, geschweige
denn der Figurenstellungen. Die Schachkenner wissen, daß es in
den meisten Spielsituationen nicht nur eine, sondern gleich mehrere etwa
gleichstarke Fortsetzungen gibt. Jeder Spieler wählt seinen wirksamsten Zug
aus, indem er von seinen eigenen Erfahrungen, Neigungen, Berechnungsfähigkeiten
und schließlich auch von seinem Charakter ausgeht. Die
Absicht, einen Computer als Berater heranzuziehen, ist vorläufig als unseriös zu
bezeichnen, weil der Algorithmus des Schachspiels noch nicht gefunden
wurde. Es gibt kein Programm, das einen sicheren Ausweg aus den entstandenen
Schwierigkeiten zeigt. Was soll man da über die Einzelheiten, Spielsituationen
und Phasen einer Partie sagen, wenn es bis heute noch keine Antwort
auf die Frage gibt: Was ist denn nur das Schachspiel? Eine Sportart, eine
Wissenschaft oder eine Kunst?
»Die Schachspieler nehmen an Turnieren und Wettkämpfen teil. Sie kämpfen
um den Sieg; für sie kommt es auf das Resultat an, also ist Schach eine
Sportart. Es stählt den Willen und festigt das Selbstvertrauen«, sagen die einen.
Wie aber soll man diejenigen von der Richtigkeit dieser Meinung überzeugen,
die über glanzvolle Kombinationen und die Logik der Schachideen in
Wozu lernt man Schach?
Begeisterung geraten und die an einem Damenopfer selbst in einer von ihnen
verlorenen Partie Freude empfinden, während ein langweiliger, mit Müh und
Not erreichter Sieg sie gleichgültig läßt. Für diese Spieler ist Schach eine
Kunst, die Freude bereitet und die Mußestunden erst schön macht.
Indessen gibt es noch viele Schachfreunde, die bereit sind, einige Abende
hintereinander nach der Antwort auf die Frage zu suchen: »Warum hat
Schwarz hier seinen Turm nach d8 und nicht seinen Springer nach c6 gezogen?
Und warum ist die gegebene Stellung des Schwarzen besser?« Für sie ist
Schach in erster Linie eine Wissenschaft, und zwar eine Wissenschaft vom
logischen Denken.
Wegen seiner Vielfalt und Vielgestaltigkeit liebe ich das Schachspiel noch
mehr. Es hat mich in meiner frühen Kindheit gerade durch seine Schönheit und
den Glanz taktischer Kombinationen verzaubert. Zunächst war da die
Bewunderung für die Schönheit, dann die Suche nach der Schönheit im Verlauf
des Spiels und später das Bestreben, eine schöne Partie, ja viele schöne Partien
zu spielen. Das sind die Etappen meiner Entwicklung im Banne der
Schachkunst. Dann aber kam die Zeit, wo ich mich mit anderen Spielern zu
messen und an Turnieren teilzunehmen begann. Das war der Anfang meiner
schachsportlichen Laufbahn. Es macht mir nach wie vor viel Spaß, schöne
Partien zu spielen. Dabei ist es mir aber durchaus nicht gleichgültig, ob ich in
der Turniertabelle vor meinen Rivalen liege oder dahinter.
Ich möchte siegen, möchte alle bezwingen. Das aber muß schön und in fairem
sportlichen Kampf geschehen. Ex-Weltmeister Michail Botwinnik, den ich als
meinen Schachlehrer betrachte, ist ein Schachprofessor. Seine Arbeiten trugen
dazu bei, daß man von der wissenschaftlichen Seite des Schachs zu reden
begann. Er war es, der mich lehrte, die Analysearbeit am Brett und die Suche
nach Antworten auf die zahlreichen offenen Fragen zu genießen.
Meine Eltern erklärten mir im Alter von fünf Jahren, wie die Schachfiguren
ziehen. Die verschiedenartige Gangart der Figuren gefiel mir sehr. Ein Jahr
später meldete man mich im Schachzirkel des Pionierpalastes in meiner Vaterstadt
Baku an. Ich glaubte ein Zauberreich, das Zauberreich der Schachfiguren,
betreten zu haben. Während einer der ersten Unterrichtsstunden stellte
der Lehrer, der die Neulinge durch die Vielgestaltigkeit des Schachs verblüffen
wollte, die Figuren folgendermaßen auf das Brett:
(Diagramm nächste Seite)
Diese Stellung, in der die kleinen Bauern das furchtgebietende gegnerische
Heer besiegt hatten, beeindruckte meine Phantasie wie ein wundervolles,
zauberhaftes Märchen. Seitdem konnte ich es keinen Tag mehr ohne
Schach aushalten. Auch jetzt noch läßt mich diese Figurenstellung in Entzükken
geraten.
Von Kindheit an bevorzugte ich den Angriff. Um jedoch den Großmeistertitel
zu erwerben und internationale Turniere zu gewinnen, mußte ich viel Zeit für
das Studium der Grundlagen des Schachspiels aufwenden, die mit dem Angriff
scheinbar in keiner direkten Beziehung standen. Ich bin sicher, daß diese
Arbeit für den Großmeister ebenso notwendig ist wie für den einfachen
Schachliebhaber, der seine Spielstärke steigern und an Schachturnieren teilnehmen
möchte. Großmeister verwenden viele tausend Stunden darauf,
hunderte von Partienanalysen anzufertigen. So erreichen sie ihre hohe Spielklasse.
Ohne diese umfangreiche Arbeit wäre es ihnen nie gelungen, ihr
Schachtalent zur Entfaltung zu bringen.
Wenn Sie nun gerne Schach spielen, jedoch keine Zeit für die ernsthafte
ständige Beschäftigung mit dem Schach haben, aber wenigstens im Freundeskreis
Siege erringen möchten, so sollten Sie auch in diesem Falle einige
Dutzend Stunden für das Erlernen der Grundlagen des Schachspiels aufwenden.
Im Rahmen dieses Buches will ich meine Auffassung von den Grundlagen
des Schachspiels in einer Weise darlegen, die einem breiten Publikum verständlich
ist, aber auch Feinheiten erörtern, die wahre Schachfreunde unbedingt
kennen müssen. Ich würde meine Aufgabe als erfüllt und meine - wie
auch ihre - Zeit als nicht unnütz vertan betrachten, wenn Sie nach Abschluß
des 24-Lektionen-Zyklus hinter den eigenwilligen Zügen der Schachfiguren
wesentlich mehr Sinn und Logik erblicken und auch lernen, ihre eigenen Partien
inhaltsreicher zu gestalten. Ich möchte aber auch, daß Sie dieses wahrhaft
königliche Spiel noch mehr liebgewinnen.
Wozu lernt man Schach?
Vielfalt an Ideen und Methoden
2. Lektion
Vielfalt an Ideen und Methoden
Bevor ich zur Untersuchung der Grundlagen des Schachkampfes übergehe,
möchte ich Sie mit einer verhältnismäßig einfachen Partie bekannt machen, die
ich mit Kommentaren versehen habe, die für den Durchschnittsspieler gedacht
sind. Sie werden sich nach der Einsichtnahme in die vorliegende Analyse noch
einmal davon überzeugen können, daß derjenige, der schöne und inhaltsreiche
Züge auf dem Schachbrett ausführen möchte, umfassende Schachkenntnisse
benötigt.
Kasparow (UdSSR) - Gheorghiu (Rumänien)
Moskau 1982
1. d2-d4
Erfahrene Schachspieler wissen, daß dieser Zug, sowie der Zug mit dem
Königsbauern (1. e2-e4) am Anfang einer Partie die logischen und besten
Züge sind, die den schachlichen Prinzipien am meisten entsprechen. Zu einer
solchen Schlußfolgerung werden auch Sie gelangen, wenn Sie zwei bis drei
Stunden für das Studium der allgemeinen Grundsätze, von denen man in der
Anfangsphase einer Schachpartie ausgehen sollte, verwendet haben. Die
Grundsätze lassen sich auf einen kurzen Nenner bringen: Die Eröffnungstheorie
handelt von der Notwendigkeit, die eigenen Figuren schnellstmöglich ins Spiel
zu bringen und die Zentralfelder zu beherrschen.
1. ... Sg8-f6
Das ist eine der besten Erwiderungen auf den Zug von Weiß. Schwarz hindert
den Gegner daran, auch noch den Königsbauern zwei Felder weit ins Zentrum
vorzurücken, was die Zentrumsfelder noch mehr unter Kontrolle nehmen
würde.
2. c2-c4
Dadurch legt Weiß dem Vormarsch des schwarzen d-Bauern mittels
2.... d5 ein Hindernis in den Weg, denn in diesem Falle müßte Schwarz nach
3. cd5: die Wahl treffen zwischen 3.... Dd5:4. Sc3, womit Weiß seinen Springer
einsetzt und der Nachziehende gezwungen wird, zum zweiten Mal hintereinander
mit der Dame zu ziehen und somit den Einsatz seiner Figuren zu
verlangsamen oder, wie man zu sagen pflegt, in der Entwicklung zurückzubleiben,
und der Alternative 3.... Sd5:, womit Schwarz den Zug 4. e4 zulassen
würde. Danach erhält Weiß in der Brettmitte ein starkes Bauernpaar, das die
wichtigen Vorpostenfelder c5, d5, e5 und f5 unter Kontrolle nimmt.
Nun kommen wir auf die ersten Zeilen unserer Untersuchung des Zuges c2-
c4 zurück - »dadurch legt Weiß dem Vormarsch des schwarzen d-BauVielfalt
an Ideen und Methoden
ern mittels 2. ... d5 ein Hindernis in den Weg«. Diese Situation ist der Beginn
eines sinnvollen Konfliktes in dieser Schachpartie. Es kommt zu einem Kampf
der Ideen - das eigentliche Schachspiel beginnt. Je größer die Fähigkeiten und
die Kenntnisse eines Spielers sind, desto genauer erkennt er das Entstehen
solcher Kleinkonflikte im Spielverlauf, zu denen es während einer Partie häufig
kommt, desto richtiger schätzt er ihre Auswirkungen ein und desto bessere
Entscheidungen trifft er.
2. ... e7-e6
Schwarz macht dem Läufer f8 den Weg frei und ist - gleichsam um das
Versäumte nachzuholen - im Begriffe, dem Damenbauern den Vorzug auf das
Feld d5 vorzubereiten.
3. Sg1-f3
Weiß hat eine große Auswahl an guten Zügen. Alternative Fortsetzungen,
die nicht schlechter sind, als der Partiezug, wären etwa 3. Sc3 oder auch 3.
Lg5 bzw. 3. Lf4. In der Eröffnung kommt es sehr darauf an, dem Grundsatz der
raschesten Entfaltung der eigenen Figuren zu folgen und ihn nach Möglichkeit in
die Tat umzusetzen.
3. ... b7-b6
Schwarz sorgt sich um den Läufer auf c8 und trifft Vorkehrungen, damit
dieser seine Hauptkampfstellung auf b7 bzw. auch ein alternatives Einsatzziel
auf a6 erreichen kann.
4. a2-a3
Um diesen auf den ersten Blick passiven Zug zu tun, muß man die Rolle, die
Vorbeugungsmaßnahmen im Schachkampf spielen, klar erkannt haben. Der
bescheiden wirkende Zug des weißen Randbauern hat eine prophylaktische
Funktion: Er hindert den schwarzen Läufer daran, eine aktive Stellung auf b4
zu beziehen, und er sichert zugleich dem weißen Springer die Möglichkeit, das
Feld c3 zu besetzen, von wo aus er im Kampf um das Zentrum eine aktive
Rolle spielen wird, ohne vom schwarzen Läufer belästigt zu werden.
4. ... Lc8-b7
5. Sb1-c3
Beide Spieler beeilen sich, ihre Figuren ins Spiel zu bringen, und sind bestrebt,
dies so zu tun, daß ihr Einfluß auf den Verlauf des sich abzeichnenden
Kampfes in der Brettmitte maximal verstärkt wird.
5. ... d7-d5
Schwarz verstärkt seine Position im Zentrum. Allerdings hat das Vorrücken
des Bauern nach d5 in dieser Stellung auch einen gewissen Nachteil, denn
dadurch wird für den Läufer b7 die Diagonale (zumindest vorübergehend)
versperrt.
6. c4xd5 Sf6xd5
Nach 6. ... ed5: würde der Läufer auf b7 von seinem eigenen Bauern d5
Vielfalt an Ideen und Methoden
eingesperrt und dann Gefahr laufen, einige Zeit zur Untätigkeit verurteilt zu
sein. Zwar kann diese nachteilige Eigenschaft der schwarzen Stellung allein
einen weißen Erfolg noch nicht vorherbestimmen, doch ist es gerade die Anhäufung
solch kleiner Vorteile, die es einem Großmeister ermöglicht, den
Kampfverlauf eindeutig zu seinen Gunsten zu gestalten.
7. Dd1-c2
Auf dem Brett ist ein neuer Minikonflikt entstanden, der sich um die Durchsetzung
des Zuges e2-e4 dreht. Weiß möchte mit diesem Zug das Zentrum
besetzen. Bei der Wahl seines Partiezuges mußte Weiß in Betracht ziehen,
daß nach dem übereilten Vorstoß 7. e4?? ein Bauer verloren gehen würde: 7. ...
Sc3: 8. bc3: Le4:.
7. ... c7-c5
Schwarz hätte durch den Zug 7. ... f5 das Vorhaben von Weiß vereiteln
können, dafür aber einen hohen Preis bezahlen müssen, denn in seinem La
ger wäre dann ein rückständiger Bauer auf e6 und ein schwaches Feld auf e5
entstanden. 8. e2-e4 Sd5xc3
9. b2xc3 Lf8-e7
Das ist ein neuer Erfolg für Weiß. Jetzt verfügt er über eine starke Bauernformation
im Zentrum und kämpft erfolgreich um die Beherrschung der Felder
der fünften Reihe, das heißt um wichtige Felder, die schon im gegnerischen
Territorium liegen. Im schachlichen Sprachgebrauch wird dieser Zustand mit
dem Fachbegriff: »Raumvorteil« bezeichnet.
10. Lf1-b5+ Lb7-c6
11. Lb5-d3
Nicht immer ist im Schachspiel eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen
zwei Punkten. Daß Weiß seinen Läufer in zwei Zügen nach d3 überführte,
brachte ihm mehr Vorteile ein, als wenn er den Läufer gleich nach d3 gezogen
hätte. Den König nach dem Läuferschachgebot auf die natürliche Weise durch
das Dazwischenziehen des Springers zu schützen, mißlingt, weil Weiß über
eine Zugfolge wie etwa 10. Lb5+ Sc6? 11. Se5 Tc8 12. Da4 Dc7 13. Da7: Ta8?
14. Lc6:+ verfügen würde mit weißer Gewinnstellung. Der Läufer aber nimmt auf
c6 einen ungünstigen Platz ein und steht nur den eigenen Figuren im Wege. Die
Schachsprache bezeichnet dies als eine schlechte Figurenstellung bzw. als eine
schlechte Koordination des Figurenspiels.
1 1 . ... Sb8-d7
Wegen des plumpen Läufers mußte der Springer auf die Inbesitznahme
seines Idealfeldes c6 verzichten, wo er eine viel aktivere Position eingenommen
hätte, weil er das weiße Heer im Zentrum von dort aus angreifen könnte. Jetzt
jedoch nimmt er eine passive Stellung ein. Vielleicht wollte Schwarz nicht, daß
der Gegner nach 11.... 0-012. Se5 das Läuferpaar erhält und dadurch ihm
gegenüber einen Vorteil besitzt, doch wäre dies in der gegebenen Situation
immer noch das kleinere Übel gewesen. Nun jedoch bleibt der schwarze König
in der Mitte.
Vielfalt an Ideen und Methoden
Gerade für Anfänger und weniger routinierte Schachfreunde wäre es stets
vernünftiger, in erster Linie an die Sicherheit des eigenen Königs zu denken,
d.h. bestrebt zu sein, ihn möglichst schnell aus der Mitte wegzuziehen.
12. 0-0
Da der schwarze König offenbar nicht dazu kommt, sich an einen sicheren
Ort zu verstecken, muß Weiß um jeden Preis versuchen, das Zentrum zu öffnen,
d.h. die Mittellinien »d« und »e« von Bauern freizuräumen. Daher verläßt der
weiße König das Feld e1, das später in den Gefahrenbereich geraten könnte,
und macht gleichzeitig Platz für den Einsatz des Turms.
12. ... h7-h6
Das ist, ähnlich wie 4. a3, ein vorbeugender Zug.
Die genaue Wahl des richtigen Zeitpunktes für die jeweilige Aktion auf dem
Schachbrett ist eine wichtige Komponente der Spielführung. Großmeister
Florin Gheorghiu hat für seine Vorbeugungsmaßnahmen einen denkbar ungünstigen
Zeitpunkt gewählt.
13. Tf1-d1
In der Voraussicht, daß die d-Linie geöffnet wird, zieht Weiß seinen Turm
hierher.
13. ... Dd8-c7
Nun hat Schwarz den richtigen Zeitpunkt für seine Rochade verpaßt. Nach
13.... 0-0 folgt jetzt 14. d5 (ein Bauernopfer) ed5: (schlecht wäre 14.... Lb7?
15. de6: fe6:16. Lb5!, und der gefesselte Springer auf d7 bringt Schwarz ins
Verderben) 15. ed5: Lb7 16. c4 Lf6 17. Lb2, und Weiß bekommt einen deutlichen
Vorteil in Form eines starken gedeckten Freibauern in der Brettmitte.
14. d4-d5!
Vielfalt an Ideen und Methoden
»Wer im Vorteil ist, muß energisch handeln« - so lautet ein Gebot des großen
Schachdenkers und ersten Schachweltmeisters Wilhelm Steinitz (1836 - 1900),
der die Grundgesetze der Schachstrategie formuliert hat. Das Studium des von
den großen Schachmeistern der Vergangenheit hinterlassenen Erbes ist für alle
Schachfreunde nützlich und für diejenigen ganz unerläßlich, die sich ernsthaft
mit Schach befassen und bestrebt sind, ihre Spielweise zu steigern.
In der hier angeführten und analysierten Partie opfert Weiß nur einen Bauern,
erreicht jedoch alles, wonach er strebt: Er öffnet die Mittellinien, fesselt die
schwarzen Figuren auf der d-Linie und läßt den gegnerischen König nicht aus
der Mitte entkommen. Weiß hat die erste Phase des Schachkampfes, die
Eröffnung, durch die größere Konsequenz seiner Aktionen klar gewonnen.
Nunmehr muß er energisch und präzise handeln, um seinen Vorteil auszubauen.
Die folgenden Geschehnisse des Mittelspiels gehören von der Thematik
her schon einer der nächsten Lektionen zugeordnet. Die Schlußphase
der Partie soll Ihnen aber dennoch nicht vorenthalten werden:
14. ... e6xd5
15. e4xd5 Lc6xd5
16. Ld3-b5
Jetzt sieht die Erwiderung 16.... Lc6 bedeutend natürlicher aus, aber nach
17. Lf4! Db7 18. Lc6: Dc6:19. Te1! steht Schwarz eine schwere Verteidigung
bevor. Obwohl Schwarz einen Mehrbauern hat, spielt er in der Tat ohne einen
ganzen Turm. In diesem Falle könnte sich das Spiel etwa folgendermaßen
entwickeln: 19. ... Kf8 20. Tad1 Te8 21. Df5 Sf6 22. Se5 Dc8 23. Sd7+! Sd7: 24.
Dd7: Dd7:25. Td7: g5 26. Tde7:! Te7:27. Ld6 mit Gewinn. Diese Variante ist
nicht obligatorisch, aber sie illustriert die aktiven Möglichkeiten von Weiß sehr
gut.
16. ... a7-a6
Mit diesem Zug verbindet Schwarz seine Hoffnung auf Gegenchancen etwa
in der Variante: 17. Ld7:+ Dd7:18. c4 Le4!, was Schwarz aus seinen Kalamitäten
befreit.
17. Lc1-f4!
Damit wird Schwarz gezwungen, aufs Äußerste zu gehen und mit dem König
in das Brettzentrum zu ziehen, weil die Variante 17.... Db718. Ld7:+ Dd7: 19.
c4 Dg4 20. Td5: Df4: 21. Te1 ihm noch weniger angenehm ist (zum Beispiel
21.... Ta7 22. Se5 Tc7 23. Sg6! fg6: 24. Dg6:+ Df7 25. Td8+!).
17. ... Dc7xf4
18. Lb5xd7+ Ke8xd7
19. Td1xd5+ Kd7-c7?
Wohl nur dieser Zug verdient mit voller Bestimmtheit ein Fragezeichen. Die
Realisierung der weißen Überlegenheit ließe sich maximal erschweren durch
19.... Kc8, wobei man die Verteidigung Ta8-a7-c7 im Auge hat.
Vielfalt an Ideen und Methoden
20. Ta1-e1! Le7-d6
20. ... The8 21. Tde5 Df6 22. De4 führte zum Verlust einer Figur und 20....
Lf6 21. Te4 führte zu einer pikanten Situation - die Dame ist im Brettzentrum
gefangen!
21. Td5-f5 Df4-c4
22. Te1-e4!
Sogar in dieser Position ist es noch immer möglich, einen Fehler zu
begehen-22. Sd2?The8!.
22. ... Dc4-b5
23. Tf5xf7+ Kc7-b8
24. Te4-e6 Th8-d8
25. c3-c4 Db5-c6
Im Falle von 25.... Da5 entschied alles 26. De4 Ta7 27. Td6:!.
26. Sf3-e5 Dc6-c8
27. Dc2-b1!
Das ist nicht der einzige, aber der besonders feine Weg zum Gewinn. (27.
...b528.cb5. Schwarz gab auf.
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
3. Lektion
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Um das Kräfteverhältnis auf dem Schachbrett richtig einschätzen zu können,
muß man vor allen Dingen den relativen Wert jeder Figur kennen. Einen
außerordentlich wichtigen Platz nimmt in dieser Skala der König ein. Sein Wert
ist gar nicht abzuschätzen. Man darf den König gegen keine andere Figur
tauschen, und jede Gefahr für seine Existenz ist unbedingt zu beseitigen, sonst
nimmt die Partie sofort ihr Ende. Die kampfstärkste Schachfigur ist die Dame,
die im Durchschnitt um einen Läufer und anderthalb Bauern stärker ist als der
Turm. Der Turm ist ebenfalls um anderthalb Bauern stärker als der Läufer
beziehungsweise der Springer. Der Läufer bzw. der Springer ist jeweils etwa
soviel wert wie drei Bauern.
Um die Ungleichheit der Kräfte zu charakterisieren, wird im Schach der
Begriff »materielles Übergewicht« verwendet. Hat eine der beiden Seiten ein
materielles Übergewicht erreicht, so ist sie dann bestrebt, dieses noch zu
vergrößern, um den Widerstand des Gegners zu brechen oder unter Beibehaltung
dieses Übergewichtes möglichst viele Figuren abzutauschen und zum
Endspiel überzugehen. Oft kommt es aber vor, daß einer der beiden
Kontrahenten absichtlich materielle Verluste in Kauf nimmt. Ich zum Beispiel
greife gern die Stellung des gegnerischen Königs an und schrecke, um seine
Festung zu zerstören, auch nicht davor zurück, Figuren zu opfern. Dabei geht es
mitunter auch nur darum, Bauern zu schlagen, die den König unmittelbar
decken. So habe ich beispielsweise vor kurzem eine Partie gegen den ungarischen
Großmeister Lajos Portisch gespielt. Nach 16 Zügen entstand folgende
Stellung:
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Würde man im Gedanken den Bauern d4 vom Brett nehmen, so könnte man
feststellen, daß die beiden weißen Läufer die zwei schwarzen Bauern, die den
König schützen, aufs Korn genommen haben. Die schwarze Majestät hat
einstweilen keine anderen Beschützer. Diese Umstände lassen die Möglichkeit
zu einem Angriff erkennen, dessen Zweck, dem gegnerischen König die
letzten Verteidiger wegzunehmen, die Mittel - den Verlust eines weißen Bauern
und die Aufopferung der beiden Läufer - heiligt. Zunächst soll dem Läufer b2
der Weg geebnet werden.
17. d4-d5! e6xd5
18. c4xd5 Lb7xd5
Jetzt wird die Zahl der Schutzsteine des schwarzen Königs verringert.
19. Ld3xh7+ Kg8xh7
20. Td1xd5 Und da sich der
König jetzt durch den Rückzug:
20. ... Kh7-g8
erneut hinter einem Bauern verbirgt, vernichtet der weiße Läufer um den Preis
der eigenen Selbstaufopferung das letzte schützende Bollwerk im Vorfeld des
gegnerischen Königs.
21. Lb2xg7! Kg8xg7
Ein Sturm von Kombinationen ist über das Brett gefegt. Schließlich bleibt der
schwarze König angesichts eines drohenden Angriffs von Weiß allein auf sich
gestellt.
22. Sf3-e5! Tf8-d8
23. De2-g4+ Kg7-f8
24. Dg4-f5 f7-f6
25. Se5-d7+ Td8xd7
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Ein sofortiger weißer Sieg würde nach 2. ... Kf7 26. Dh7+! Ke6 27. Te1+! Kd5:
28. De4+ Kd6 29. De6 matt zu verzeichnen sein.
26. Td5xd7 Dc7-c5
27. Df5-h7 Tc8-c7
Auf dem Brett ist ein ungefähres materielles Gleichgewicht entstanden. Ein
Turm und ein Bauer von Weiß stehen einem Läufer und einem Springer von
Schwarz gegenüber. Die schwarzen Figuren, insbesondere der König, stehen
jedoch ungünstig. Zudem sind die beiden stärksten weißen Figuren gefährlich
in die siebente Reihe eingedrungen, sodaß sich der Kampf nunmehr seinem
Ende nähert. Alles hängt davon ab, wie schnell Weiß einen seiner Türme auf das
Feld g3 führen kann. Der letzte Zug von Schwarz birgt aber eine fein ersonnene
Falle in sich.
28. Dh7-h8+
Hätte Weiß, aus der Erwägung heraus, Td3-g3-g8matt spielen zu wollen,
gleich 28. Td3 gezogen, wäre er nach dem frappierenden Damenopfer 28. ...
Df2:+! 29. Kf2: Lc5+ nebst 30. ... Th7: überraschenderweise leer ausgegangen.
Noch schlimmer hätte es für ihn bei 29. Tf2:? Tc+ 30.Tf1 Lc5+!
31. Kh1 Tf1: matt! ausgesehen.
28. ... Kf8-f7
29. Td7-d3 Sa5-c4
30. Tf1-d1
Es zahlt sich immer aus, eine solche Reserve in der Entscheidungsschlacht
zum Einsatz zu bringen.
30. ... Sc4-e5
31. Dh8-h7+ Kf7-e6
Wegen des neuerlichen Opfermotivs 32. Td8+! Ld8: 33. Td8:matt! darf man
den Rückzug 31. ... Kf8 nicht vornehmen. Nun muß der König sich in das
Zentrum des Brettes begeben. Dies ist aber in einem figurenreichen Mittelspiel
fast in 99 von 100 Fällen mit einer Niederlage gleichbedeutend.
32. Dh7-g8+ Ke6-f5
33. g2-g4+ Kf5-f4
34. Td3-d4+ Kf4-f3
35. Dg8-b3+
Schwarz gab auf.
Selbstverständlich müssen alle Schachspieler die Hauptprinizipien des
Schachkampfes, unter anderem auch die Skala des relativen Wertes der einzelnen
Figuren, kennen und beachten. Zu den Reizen des Schachspiels gehört
es aber vor allem, daß es eine Menge von Ausnahmen aufweist, d.h. Situationen
und Verhältnisse, die nicht nach den üblichen Mustern bewertet werden
können, in denen der richtige Weg oft nicht durch Regeln genormt ist, sondern
durch die Intuition und die bisher gewonnenen Erfahrungen dikBewertung
und Zusammenspiel der Figuren
tiert wird. Als ein Beispiel solcher Erfahrungen habe ich ein Partiefragment im
Gedächtnis, das einer Partie zwischen Michail Tal (Weiß) und Oscar Panno
(Schwarz) aus dem Jahre 1958 entstammt.
Noch bevor die Entwicklung aller Figuren abgeschlossen ist, beginnen hier
die Kontrahenten einen erbitterten taktischen Kampf, in dem die materiellen
Kräfteverhältnisse in den Hintergrund treten und dazu auch noch von den gewöhnlichen
Gegebenheiten ganz gewaltig abweichen. Das Wichtigste ist es
dabei, die Aktivität der am Kampf unmittelbar beteiligten Figuren richtig einzuschätzen.
18. ... Sa5xb3
19. Se5-c6!
Diesem Zug liegt die Absicht zugrunde, die schwarze Dame zu schlagen.
Weiß muß jedoch mit einen rein rechnerisch viel zu hohen Gegenwert dafür
bezahlen.
19. . . . Sb3xa1
20. Sc6xd8 Lc8-f5!
21. Dd3-f3 Ta8xd8
22. Te1xe7 Lf5xb1
23. Ld2xf4 Td8xd4
Nach lediglich fünf Zügen ist die Stellung nicht mehr wiederzuerkennen.
Zwei Springer und ein Turm wiegen nicht weniger schwer als eine Dame. Dazu
kommt noch, daß der weiße Läufer bedroht wird. Offenbar hängt der Ausgang
des Kampfes von der Aktivität der weißen Dame ab.
24. Df3-g4 Lb1-g6
25. Dg4-e6+ Lg6-f7
26. De6-f5 Sa1-c2
27. b2-b3 Lf7-g6
Am meisten hatte Michail Tal den schwarzen Gegenangriff nach 27. ...Td1+
28. Kh2 Sd2 gefürchtet. Schwarz macht einen Zug, der die Lage stabilisieren
soll. Weiß sieht sich jetzt gezwungen, die Stellung noch mehr zu verwickeln.
28. Te7xg7+ Kg8xg7
29. Lf4-h6+ Kg7xh6
30. Df5xf8+ Kh6-g5
31. b3xc4 b5xc4
Die Figurenstellung hat sich wieder einmal schlagartig verändert. Weiß greift
nur noch mit der Dame und einigen wenigen Bauern an.
32. g2-g3 Lg6-e4
33. h3-h4+ Kg5-g4
34. Kg1-h2 Le4-f5!
Schwarz verteidigt sich großartig. Durch die Preisgabe einer Figur (35. f3+
Kf3: 36. Df5:+ Ke3!) würde er seinen König auf den Damenflügel und somit in
Sicherheit bringen. Daher sucht Weiß nach einer Möglichkeit, den feindlichen
König auf dem Königsflügel festzuhalten, wo er sich in Wirkungsbereich der
weißen Bauern befindet.
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
35. Df8-f6 h7-h6
36. Df6-e5 Td4-e4
37. De5-g7+ Kg4-f3
38. Dg7-c3+ Sc2-e3
Zu einem einfacheren Remis hätte 38. ... Kf2: 39. Dc2:+ Kf3 geführt.
39. Kh2-g1 Lf5-g4
40. f2xe3 h6-h5
41. Dc3-e1 Te4xe3
Zu einem Unentschieden hätte 41. ... Te6 42. e4 c3 geführt, wonach sich die
schwarzen Figuren gegenseitig schützen würden, während der weiße König in
seinem Käfig eingeschlossen worden wäre.
42. De1-f1+ Kf3-e4
43. Df1xc4+ Ke4-f3
44. Dc4-f1+ Kf3-e4
45. Df1xa6
Nunmehr hat die weiße Dame einen Mitkämpfer, den Freibauern a2. Letzten
Endes entschied dieser auch den Ausgang des Kampfes zugunsten von Weiß,
doch das wäre bereits das Thema einer anderen Lektion, die dem Themenbereich
Endspiel zugehört.
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
4. Lektion
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
Die Zentralfelder e4, d4, e5 und d5 sind sehr wichtig. Sie sind wie eine Anhöhe,
von er man das Schlachtfeld überblicken und den entscheidenden
Schlag gegen ein beliebiges Objekt auf dem Schachbrett ausführen kann.
Solche Begriffe wie »Kampf ums Zentrum«, »Vorherrschaft im Zentrum« und
»Unterminierung des Zentrums« spiegeln ebenfalls die wichtigsten Momente
des Zweikampfes wider und sind jedem erfahrenen Schachspieler gut bekannt.
Der Kampf ums Zentrum beginnt gleich mit den ersten Zügen. Die Partei, die
im Brettzentrum das materielle Übergewicht erreicht, oder, mit anderen
Worten, das Zentrum besetzt hat, erhält gewöhnlich die Möglichkeit, ihre Figuren
von einem Brettabschnitt zum anderen zu verlagern und dabei dort eine
Überlegenheit an Kräften zu schaffen, wo der Kampf stattfindet. Vor hundert
Jahren wurde der Kampf ums Zentrum sorgloser und zugleich offener und
geradliniger geführt. Weiß war bestrebt, das Zentrum sofort durch Bauern zu
besetzen, ohne vor Materialopfern zurückzuschrecken. Damals waren die
Gambits, das heißt die Spieleröffnungen, in denen ein Bauernopfer angeboten
wird, groß in Mode.
Vor allem das »Königsgambit«:
1. e2-e4 e7-e5
2. f2-f4! e5xf4
Heutzutage wendet man meist ein Gegengambit an (2. ... d5 3. ed5: e4!),
wodurch der Kampf ums Zentrum auf eine feinere Art geführt wird.
3. Sg1-f3
Der erste offizielle Weltmeister, Wilhelm Steinitz (1836 - 1900), spielte mit
Vorliebe 3. d4, wobei er auch das dann mögliche 3. ... Dh4+ 4. Ke2 in Kauf
nahm. Er meinte, daß die Beherrschung des Zentrums wichtiger sei als ein sicherer
Standplatz für den König.
3. ... g7-g5
4. Lf1-c4 g5-g4
5. 0-0! g4xf3
6. Dd1xf3 Dd8-f6
7. d2-d3 Lf8-h6
8. Sb1-c3 Sg8-e7
9. Lc1xf4 d7-d6
10. Lf4xh6 Df6xh6
1 1 . Df3xf7+ Ke8-d8
12. Tf1-f6 Dh6-g5
13. Ta1-f1
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
So ging eine Partie weiter, die der große russische Schachmeister Michail
Tschigorin 1878 spielte. Weiß opferte eine Figur, kam zu Angriff, wobei sein
Übergewicht im Zentrum von entscheidender Bedeutung war.
Noch anschaulicher wurde die Zentrumsstrategie von Weiß in einer Partie
des hervorragenden amerikanischen Schachmeisters Paul Morphy (1837 -
1884) demonstriert.
Paul Morphy - J. Arnous Riviere
Paris 1863
Diese sehr interessante Stellung war zu jener Zeit nicht weniger populär als
etwa die Spanische Partie heute. Um den Preis eines Bauern hat Weiß ein
deutliches Übergewicht im Zentrum erlangt: Dort hat er ein starkes Bauern-
1. e2-e4
2. Sg1-f3
3. Lf1-c4
4. b2-b4
5. c2-c3
6. 0-0
7. d2-d4
8. c3xd4
9. Sb1-c3
e7-e5
Sb8-c6
Lf8-c5
Lc5xb4
Lb4-c5
d7-d6
e5xd4
Lc5-b6
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
paar stehen, hinter dem - wie hinter einer Mauer - Weiß die Kräfte umgruppieren
kann. Auch über die schwarze Zentrumshälfte, d.h. über das Feld e5
(zweifach bedroht und zweifach von Schwarz verteidigt) und namentlich das
Feld d5 (dreifach bedroht und keine einzige schwarze Verteidigung) übt Weiß
eine wirksame Kontrolle aus. Jetzt darf man zum Beispiel 9. ... Sf6 wegen des
rasch eskalierenden Angriffs nach 10. e5! de5: 1 1 . La3! Ld4: 12. Db3! Le6
13. Le6: fe6:14. De6:+ Se7 15. Sd4: ed4:16. Tfe1 nicht spielen. Als die beste
Erwiderung von Schwarz gilt 9. ... Lg4, und nach 10. Lb5 kann man dann zwischen
10. ... Ld7 und 10. ... Kf8 wählen. Jules Arnous Riviere machte einen
natürlichen, aber unglücklichen Zug, der es dem Gegner ermöglichte, einen
weiteren Vorteil eines solchen Zentralbauernpaares, nämlich seine Beweglichkeit
und Dynamik, zur Geltung zu bringen.
In der Tat, solange die Bauern e4 und d4 im Zentrum unbeweglich bleiben,
gewährleisten sie nur eine gewisse lokale Dominanz, an die sich Schwarz anpassen,
und gegen die sich Schwarz möglicherweise behaupten kann. Jeder
der beiden Bauern kann jedoch auch vorrücken, und neue Situationen entstehen
dadurch, in denen Schwarz sich mit neuen Problemen konfrontiert
sieht. Schwarz muß dann dazu in der Lage sein, die entsprechenden Verteidigungsmaßnahmen
aufzufinden und zu ergreifen, was sich als eine wesentlich
schwierigere Aufgabe erweist.
Deshalb ist ein bewegliches Bauernzentrum stets ein gewichtiger Faktor bei
der Einschätzung der Stellungschancen im bevorstehenden Kampf.
9. ... Dd8-f6
10. Sc3-d5 Df6-g6
1 1 . Sd5-f4! Dg6-f6
12. e4-e5!
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
Der Mittelbauer stürmt vorwärts und schafft zugleich eine neue Lage auf
dem Brett, in der Schwarz, anstatt seine Figuren mit Ruhe entwickeln zu können,
den König vor konkreten Drohungen schützen muß. Dies jedoch erweist sich als
sehr schwierig, da sich die allermeisten schwarzen Figuren noch immer untätig
auf ihren Ausgangsfeldern befinden. Unter Ausnutzung seiner Überlegenheit
an den entscheidenden Stellen führt Weiß nun eine typische Operation durch:
Er öffnet das Zentrum, d. h. er räumt es frei von eigenen und fremden Bauern,
um seinen Figuren den nötigen Spielraum zu verschaffen. Bei einem offenen
Zentrum nimmt die Bedeutung der Aktivität der einzelnen Figuren stark zu, und
die besonders vorteilhafte oder unvorteilhafte Stellung der einen oder anderen
Figur auf dem Brett ist dann für die Einschätzung der Situation von immenser
Bedeutung. Es kommt zu einem Tempokampf der Figuren, wo
außerordentliche Genauigkeit beim Manövrieren und energisches Handeln
erforderlich sind.
12. ... d6xe5
13. d4xe5 Df6-f5
Natürlich darf der Bauer e5 nicht geschlagen werden, weil dann nach 13. ...
Se5:? 14. Se5: De5:15. Te1 die schwarze Dame verloren geht. Doch im
anderen Falle geht der e-Bauer eben weiter vorwärts.
14. e5-e6! f7-f6
Schlecht steht es für Schwarz auch im Falle von 14. ... fe6: 15. Se6: Le6:
16. Le6:! Df6 17. Dd7+ Kf8 18. Lb2! (jetzt wird die große Bedeutung der Diagonale
a1 -h8 sichtbar - eben deswegen mußte der Bauer das Feld e5 räumen)
18. ... Db2:19. Df7 matt.
Jetzt jedoch spaltet der Bauer e6 die Stellung von Schwarz in zwei Teile und
hat nun einen nicht geringeren Wert als ein Offizier. Weiß darf nur die Flucht des
schwarzen Königs an den anderen Flügel nicht zulassen.
15. Sf3-h4 Df5-c5
16. Lc1-e3! Dc5-g5
Würde Schwarz 16. ... Dc4: spielen, so entscheidet der Zug 17. Dh5+ die Partie
zugunsten von Weiß.
17. Sh4-f3 Dg5-a5
18. Le3xb6 Da5xb6
19. Sf4-d5 Db6-a5
20. Sf3-d2!
Jetzt sieht sich Schwarz sowohl der Gefahr gegenüber, nach 21. Sb3 nebst
22. Sc7+ den Turm zu verlieren, als auch der nicht weniger ernsthaften
Bedrohung 21. Dd1 -h5+. Allen diesen Drohungen kann Schwarz nicht mehr
wirkungsvoll gegenübertreten. Das weitere Schicksal der Partie ist schon
vorausbestimmt.
20. ... Sc6-d4
21. Sd2-b3 Sd4xb3
22. a2xb3 Da5-c5
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
23. Dd1-h5+ Ke8-d8
Nach 23. ... g6 24. Sf6:+ geht die schwarze Dame verloren.
24. Ta1 -d1
Jetzt gibt es keine Rettung mehr vor den furchtbaren Folgen des Abzugsschachs
(25. Sb6+, der Springer verläßt die d-Linie, und der weiße Turm bietet
dem schwarzen König Schach) und daher gab Schwarz auf.
Zweifellos muß sich jede Partei in irgendeiner Art um Weise um ihre Zentralbauern
kümmern, damit diese günstige Stellungen einnehmen und behaupten
können.
Manchmal bleibt im Zentrum nur jeweils ein Bauer. Dann entstehen neue
Probleme, insbesondere dann, wenn man eine vorgerückte Stellung im Zentrum
einnehmen will. Dies erlaubt es zumeist, die Figuren aktiver einzusetzen und
Überlegenheit gegenüber dem Gegner zu erreichen.
Tigran Petrosjan (UdSSR) - Julius Kozma (CSSR)
München 1958
Sg8-f6
e7-e6
c7-c5
b7-b6?!
1. Sg1-f3
2. d2-d4
3. Lc1-g5
4. e2-e3
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
Die einfache, wenig anspruchsvolle Eröffnung von Weiß hat die Aufmerksamkeit
von Schwarz eingeschläfert und durch einen anscheinend natürlichen
Zug ermöglicht letzterer seinem Gegner, eine vorgerückte Figurenstellung im
Zentrum einzunehmen.
5. d4-d5! e6xd5
6. Sb1-c3 Lc8-b7
7. Sc3xd5! Lb7xd5
8. Lg5xf6 Dd8xf6
9. Dd1xd5
Weiß beherrscht das Feld d5 unangefochten, denn Schwarz gelingt es in
nächster Zeit nicht, die weiße Dame von ihrer starken Position zu vertreiben.
Zugleich sind die Schwächen von Schwarz auf der d-Linie dauerhaft und besorgniserregend.
Der weiße Positionsvorteil wird im weiteren Partieverlauf
großes Gewicht haben.
Versierte Schachspieler starten nie ernsthafte Unternehmungen an den
Flügeln, bevor sie nicht ihre Stellung im Zentrum gesichert haben.
Ohne den notwendigen Zug Se2-c3 einzuschalten, unternimmt Weiß im
nachstehenden Diagramm einen übereilten Bauernsturm am Königsflügel.
An und für sich ist die Unterlassung dieses Zuges durch Weiß nicht einmal so
einfach als Fehler aufzuzeigen, doch wurde im Duell Hans Nogard (Dänemark) -
Wladimir Simagin (UdSSR) - eine Fernpartie aus dem Jahre 1958 -unter Beweis
gestellt, daß diese Unterlassungssünde sich bei präziser schwarzer Spielweise
schnell rächen kann.
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
1. ... b7-b5!!
2. c4xb5 d6-d5!!
3. e4xd5 e5-e4!
4. Dd3xe4
Nach 4. fe4: entscheidet 4. ... Se5 die Partie zugunsten des Nachziehenden,
doch auch jetzt ist es um die Aussichten von Weiß nicht gut bestellt.
4. ... Le6xg4
5. De3-f4 Lg4-h5
6. Ke1-f2 Sd7-e5
7. Lf1-g2 Lf8-d6
8. Df4-a4 Ta8-c8!
9. Td1-d2 Dd8-f6
Innerhalb weniger Züge, die durch einen gelungenen schwarzen Gegenschlag
im Zentrum eingeleitet wurden, sind die weißen Verteidigungsformationen,
die so fest erschienen, zusammengebrochen. Das Spiel ging
folgendermaßen zu Ende:
10. Le3-g5 Df6-f5
1 1 . Se2-f4 Lh5xf3
12. Lg2-h3
Im Falle von 12. Lf3: Sf3:13. Kf3: würde 13. ... Tc3+ 14. Kf2 Lc5+15. Kf1 Tf3+
16. Kg2 Dg4+ folgen.
12. .. Lf3-g4
13. Kf2-g2 Tc8-c2
und Weiß gab auf.
Also, liebe Schachfreunde, kämpft um die Zentralfelder und schützt und
behütet das Zentrum.
30
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
5. Lektion
Wie erobert man Raum? — Raumvorteile
Da der Schachkampf auf einem beschränkten Raum, nämlich auf 64 Feldern
des Schachbretts geführt wird, übt die Größe des Raums, das heißt die Anzahl
der Felder, auf denen jeder der beiden Spielpartner seine Figuren ungehindert
aufstellen und bewegen kann, für gewöhnlich einen starken Einfluß auf den
Verlauf des Kampfes aus. Vor Beginn einer Partie beherrschen Weiß und
Schwarz jeweils einen gleich großen Raum. Gewöhnlich verfolgt jeder Zug in
der Eröffnung den Zweck, eine möglichst große Zahl von Feldern, besonders
auf fremden Territorium, zu beherrschen. Die Hauptrolle bei der Eroberung von
Raum spielen die Bauern, die die Figuren des Gegners zurückdrängen und die
Aktionsfreiheit der eigenen Figuren sichern. Der Vormarsch der Bauern muß
jedoch auf jeden Fall von anderen Figuren unterstützt werden, sonst würde das
schutzlose Bauernheer dem Untergang geweiht sein.
Ein erfahrener Schachspieler ist bestrebt, vor allen Dingen den von der c-
Linie und der f-Linie begrenzten mittleren Bereich des Schachbretts zu beherrschen,
denn dort - auf den Zentralfeldern - befinden sich die besten
Stellungen für die Figuren.
Um diese Überlegungen in unserer Lektion anschaulich zu machen, wollen wir
zwei Partien einer gemeinsamen Analyse unterziehen.
Unsere erste Beispielpartie stammt aus dem vorigen Jahrhundert.
Siegbert Tarrasch - Rudolf Charousek
Nürnberg 1896
1. d2-d4 d7-d6
2. e2-e4 Sg8-f6
3. Sb1-c3 g7-g6
4. f2-f4 Lf8-g7
5. Sg1-f3 0-0
6. Lf1-e2
Es sind erst wenige Züge geschehen, doch die Erfolge von Weiß bei der
Eroberung des Zentrumsraums sind bereits groß: Drei seiner Bauern beherrschen
die wichtigsten Felder der fünften Reihe, die zum Territorium des
Gegners gehört. Mit Unterstützung der eigenen Figuren würden sie noch weiter
vorrücken können, wobei sie immer neue Abschnitte des gegnerischen
Territoriums kontrollieren und quasi wie durch einen Zaun abtrennen.
Als eine zuverlässige strategische Methode des Kampfes gegen solche
Bauernketten gilt im modernen Schach ein unverzüglicher und energischer
Gegenangriff der Bauern - meistens mit Unterstützung von Figuren -, der mit
dem Ziel vorgetragen wird, eine weitere Vorwärtsbewegung der Kette zu
verhindern. Danach folgt die Sprengung der stehengebliebenen Bauern, damit
die Kette in einzelne Glieder oder, wie die Schachspieler sagen, »Inseln«
auseinandergerissen werden könnte. Die Variante 6. ... c5! 7. d5 e6 8. 0-0 ed5:
9. ed5: charakterisiert eine derartige Methode am besten.
Charousek, der übrigens durchaus zu den stärksten Schachspielern jener
Zeit zählte, versucht ebenfalls, die weiße Bauernkette zum Stehen zu bringen,
allerdings erfolglos. Er schränkt mit seinem nächsten Zug, der sich als
fehlerhaft erweist, die Bewegungsfreiheit seiner eigenen Figuren ein und -was
die Hauptsache ist - macht die Sprengung des weißen Bauernzentrums
unmöglich.
Nach drei weiteren Zügen wird die Lage von Schwarz äußerst schwierig.
6. ... d6-d5?
7. e4-e5 Sf6-e8
8. Lc1-e3 e7-e6
32
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
Geschützt vom Bauerndreizack d4-e5-f4, verfügen die weißen Figuren über
viele Felder zum Manövrieren und können leicht an jeden Abschnitt des
Schachbretts verlegt werden. Der große deutsche Schachmeister Siegbert
Tarrasch löst das Problem der Realisierung des Vorteils auf eine sehr einfache
Art und Weise. Er startet einen raschen Bauernangriff gegen den Königsflügel.
Seine Bauern sollen für die schweren Figuren Linien öffnen, wobei die auf den
zwei letzten Reihen eingeschlossenen schwarzen Figuren einander nur
behindern und keine Verteidigung aufbauen können. 9. h2-h4!
Eine Grundregel des Schachkampfes lautet »Der Angriff an einem Flügel ist
am besten durch einen Gegenstoß im Zentrum abzuwenden«. Leider hat
Schwarz durch den Zug 6. ... d5 sich dieser Möglichkeit beraubt und sein Untergang
ist nicht mehr zu vermeiden.
9. ... Sb8-c6
10. h4-h5 Sc6-e7
1 1 . g2-g4 f7-f5
12. h5xg6 Se7xg6
13. Le2-d3 h7-h6
14. g4-g5 Kg8-h7
15. Dd1-e2 Tf8-h8
16. De2-g2 c7-c5
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
17. g5xh6
In Anbetracht der Unvermeidlichkeit großer materieller Verluste gab
Schwarz auf.
Die zweite Partie kann die modernen Methoden des Kampfes um die Eroberung
von Raum gut veranschaulichen. Mir ist diese Partie ganz besonders
in Erinnerung geblieben, als mein erster in einem reinen Positionsstil erkämpfter
Sieg, den ich in einem stark besetzten Turnier über einen starken Gegner
errungen habe.
Garri Kasparow - Tamas Georgadse
Minsk 1979
1. e2-e4 e7-e5
2. Sg1-f3 d7-d6
3. Lf1-c4 Lf8-e7
4. d2-d3
Das ist kein Zeichen von Zaghaftigkeit, sondern der Wunsch, die sich nach 4.
d4 ed4: 5. Sd4: ergebenden Eröffnungssysteme zu vermeiden, die mein
Gegner gründlich studiert hat.
4. ... Sg8-f6
5. c2-c3 0-0
6. 0-0 c7-c6
7. Lc4-b3 Lc8-e6
8. Lb3-c2 h7-h6
34
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
9. Tf1-e1 Sb8-d7
10. Sb1-d2 Dd8-c7
Beide Spielpartner manövrieren in aller Ruhe und sind, wie es scheint, damit
gut vorangekommen; doch der Schein trügt. Weiß beginnt als erster, Raum zu
erobern.
1 1 . d3-d4! Tf8-e8
12. h2-h3!
Die Einschränkung der Möglichkeiten des Gegners (jetzt kann der schwarze
Läufer das Feld g4 nicht betreten) ist gleichfalls als eine Eroberung von Raum
zu betrachten.
12. ... Sd7-f8
13. c3-c4! Sf8-g6
14. d4-d5
Schwarz wollte zuvor nicht mittels 13. ... ed4:14. Sd4: Db6 15. S2f3! Lc4: 16.
Sf5 das Zentrum öffnen und die weißen Figuren aktivieren. Nun sieht er sich
genötigt, für die zeitweilige Ruhe auf dem Kampfschauplatz einen Teil seines
Territoriums herzugeben, den der Bauerndreizack c4-d5-e4 ihm jetzt
weggenommen hat. Schwarz hätte lieber 14. ... cd5: spielen sollen, um durch
den Zug ... b5 Raum für Manöver am Damenflügel erobern zu können. Er hingegen
geht zu einer hartnäckigen Verteidigung über, wobei er auf die Stabilität
seiner Stellung und auf seine Verteidigungskunst vertraut.
14. ... Le6-d7
15. Sd2-b1! Le7-f8
16. Sb1-c3 c6-c5?
17. Lc2-a4
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
In einer solchen bedrängten Lage ist jeder Figurenabtausch für Schwarz von
Vorteil, nur nicht dieser. Sein weißfeldriger Läufer verteidigt wichtige Felder
und besitzt die größte Bewegungsfreiheit von allen schwarzen Figuren.
17. ... a7-a6
18. La4xd7 Sf6xd7
19. g2-g3 Lf8-e7
20. h3-h4!
Weiß hat beschlossen, am Königsflügel erst einmal die Strategie der
Einschränkung der Beweglichkeit der schwarzen Figuren zu verfolgen. Mit aller
Gelassenheit bereitet Weiß danach den Hauptangriff am Damenflügel vor.
20. ... Sd7-f6
21. Sf3-h2 Dc7-d7
22. a2-a4 Dd7-h3
23. Dd1-f3 Dh3-d7
24. a4-a5!
Jetzt hat Weiß die Vorhut im Marsch gesetzt, womit die weitere konsequente
Einschnürung des Gegners beginnt. Der weitere Verlauf ist für beide Spieler
offensichtlich, doch kann Schwarz beim besten Willen nichts Aktives mehr
unternehmen.
24. ...Sf8 25. Ld2 Tec8 26. Sf1 Sg4 27. Sa4 Ld8 28.Tec1 Tab8 29. b4!
cb4: 30.Lb4: h5 31.Sb6!
Zunächst könnte man meinen, daß dies eine unlogische Fortsetzung des
weißen Angriffsspiels ist; ohne diesen Zug könnte man doch Druckspiel auf der
b-Linie aufziehen. Die Absichten von Weiß gipfeln aber in der Öffnung der c-
Linie, und in diesen Fall ist es außerordentlich wichtig, über ein Einbruchsfeld
zu verfügen. Das Feld c7 wird sich als ein idealer Brückenkopf für den weißen
Angriff erweisen.
31. ... Lb6: 32. ab6: De7 33. Da3 Td8
Die letzte günstige Gelegenheit zum Widerstand gegen den Vormarsch des
weißen c-Bauern bestand in einen Qualitätsopfer: 33. ...Tc5! 34. Lc5: dc5:.
Weiß würde zwar auch dann einige Gewinnchancen besitzen, doch die
schwarze Verteidigung wäre nicht mehr völlig perspektivlos. Nach dem
Partiezug kann sich der weiße Angriff ungehindert und ganz nach Plan
weiterentwickeln.
34. f3 Sh6 35. c5 dc5:36. Lc5: Df6 37. Kg2 Te8 38. Le3 Sd7 39. Tab1 De7
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
Schwarz überschritt hier die Zeit (Zeitüberschreitung liegt vor, wenn die
geforderte Zügezahl [hier 40 Züge] nicht in der vorgesehenen Bedenkzeit [hier
2 1/2 Stunden] absolviert wird. Zeitüberschreitung wird bekanntlich als
Partieverlust gewertet). Aber auch nach 40. De7: Te7: 41.Tc7 wäre die
schwarze Stellung hoffnungslos.
Also legen Sie Wert auf Raum! Streben Sie danach, möglichst viel
Raum zu erobern, doch verlieren Sie dabei nicht den Kopf, sonst würde
Ihre weit vorgerückte Bauernkette zum Stehen gebracht und zerstört
werden. Durch die darin geschlagenen Breschen würden gegnerische
Figuren eindringen können: dann kann es zu jedem aber eher zu einem
negativen Partieergebnis kommen.
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
6. Lektion
Bauernstrukturen — Bauernaktivitäten
Obwohl die Bauern die kleinste Kampfeinheit sind und die durchschnittlich
geringste Kampfkraft haben, bestimmen sie oft das Tempo und den Ausgang
eines Schachkampfes. Wenn einer der beiden Spielpartner zwei oder drei
Bauern mehr hat, reicht das in den meisten Fällen für den Sieg. Komplizierter
ist die Situation, wenn die Zahl der Bauern auf beiden Seiten gleich ist. Dann
wird die Stellung in vielen Fällen durch die Anordnung der Bauern bestimmt.
Vor Beginn des Schachkampfes bilden die in Reihe angetretenen Bauern
der beiden Partner zwei Linien. Indem sie vorrücken und einander unterstützen,
begrenzen sie die Aktivität der gegnerischen Figuren. Um eine bewegliche,
flexible Kette von einander schützenden Bauern zu bekommen, nehmen
erfahrene Spieler oft sogar materielle Opfer auf sich.
Tigran Petrosjan (UdSSR) - Pfeiffer (BRD)
1960
In der Diagrammstellung folgte:
1. Sc3-d5!! e6xd5
2. c4xd5
Jetzt entscheiden die beiden verbundenen Bauern d5 und e5 den Ausgang
des Kampfes.
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
2. ... Dc7-c8
3. e5-e6! 0-0
4. Dc2-c3 f7-f6
5. d5-d6 Sc5-a4
Der Alternativzug 5. ... De6: geht nicht, weil dann 6. Lc4 folgen würde, wonach
Schwarz seine Dame einbüßt (aufgrund der Diagonalfesselung c4-g8).
6. Dc3xcS Tf8xc8
7. Lb2-a1 Tc8-c2
8. d6xe7 Tc2xe2
9. Td1-d8+ Kg8-g7
10. Tf1-c1
Es wäre ein Fehler, den Bauern e7 sofort in eine Dame umzuwandeln, denn es
könnte 10. ... Tg2:+!! 11. Kh1 Tg3 folgen, und Weiß wird überraschenderweise
matt gesetzt.
10. ... Te2xe6
1 1 . Tc1-c7
Jetzt droht 12. e8D+.
1 1 . ... Kg7-h6
12. La1xf6,
und Schwarz gab auf.
Wie kann man mit solch einer gefährlichen Bauernkette fertig werden? Das
radikale Gegenmittel liegt auf der Hand. Es ist die Vernichtung der Bauernkette
und wenn dies nicht gelingt, so doch wenigstens ihre Unterbrechung,
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
d.h. die Vernichtung ihres mittleren Gliedes. Mit anderen Worten: Man muß
darum bemüht sein, die Kette in einzelne Teile aufzulösen, d. h. es sollen Bauerninseln
entstehen, die sich dann nicht mehr gegenseitig zu schützen vermögen.
Die wirksamste Art der Bekämpfung einer beweglichen Bauernkette ist jedoch
oft auch die Einschränkung ihrer Beweglichkeit, d.h. ihre Blockade. Diese
Blockade bedeutet die Besetzung oder Beherrschung der Felder vor den
Bauern. So ist etwa ein weißer Läufer auf der Diagonale a1 -h8 imstande, die
Kette der Bauern c4, d5, e6 zurückzuhalten (keiner der schwarzen Bauern kann
vorziehen, ohne das Risiko einzugehen, geschlagen zu werden). Wenn aber
der Vorstoß dieser schwarzen Bauernkette etwa von einem Springer auf dem
Feld c6 unterstützt würde, so wäre der weiße Läufer allein schon nicht mehr in
der Lage, den Vormarsch der Bauern aufzuhalten.
Die beste Art der Blockade ist das Aufhalten der Bauern durch eigene Bauern.
Wenn man die schwarzen Bauern c4, d5 und e6 nicht durch einen Läufer
behindert, sondern drei weiße Bauern auf die Felder c3, d4 und e5 stellt, so
entsteht ein unüberwindliches Hindernis.
In den modernen Schachpartien sind die Spielpartner bestrebt, bereits zu
Beginn des Kampfes die Beweglichkeit der Bauernketten einzuschränken, wie
das beispielsweise bei folgender Eröffnungsart der Fall ist:
1. d2-d4 Sg8-f6
2. c2-c4 e7-e6
3. Sb1-c3 Lf8-b4
4. e2-e3 c7-c5
5- Lf1 -d3 Sb8-c6
6. Sg1-f3 Lb4xc3+
7. b2xc3 d7-d6
8. e3-e4 e6-e5
9. d4-d5 Sc6-e7
Wie man sieht, setzt Schwarz der Bauernkette c4, d4 und e4 den Zweizack c5
und e5 mit dem Bauern d6 als Basis entgegen. Das erweist sich als ausreichend,
um die Lage im Zentrum zu stabilisieren. Aber nicht alle Schachspieler streben
nach einer derartig gründlichen Einschränkung der Bauernaktivi-tät. Der Elan
einer Bauernkette bietet gute Möglichkeiten zur Führung eines
kombinationsreichen Kampfes, was in gleichem Maße gefährlich und attraktiv
ist, besonders wenn die Partner ein offenes Spiel bevorzugen. Eine unbewegliche
blockierte Bauernkette ist dagegen oft ein prädestinierender Faktor
für eine langsame und ruhige Abwicklung der Partie.
Dem Leser werden in der Schachliteratur und in Kommentaren zu Schachpartien
sicherlich die Begriffe »schwacher Bauer«, »isolierter Bauer« usw.
aufgefallen sein. Jeder dieser Begriffe bezeichnet eine Unzulänglichkeit in
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
der Bauernstruktur. Dadurch wird die Beweglichkeit der Bauern eingeschränkt
und ihre Verwundbarkeit erhöht.
Hier zunächst ein ganz einfaches Beispiel dafür:
Trotz der momentanen Blockade durch den schwarzen König auf der b-Linie
kann der Weiße, wenn er richtig spielt, den Bauern schützen und ihn
letztendlich sogar zur Umwandlung bringen (wie dies im einzelnen zu geschehen
hat, zeigt die elementare Endspiellehre, zu der wir in späteren Kapiteln
übergehen werden). Man braucht aber nur den weißen König zum Beispiel auf
das Feld h3 umzusetzen (oder auf ein anderes weit entferntes Feld), und schon
verwandelt sich der starke Bauer in einen schwachen, weil er vom schwarzen
König angegriffen und erobert werden kann.
Als eine andere häufige Unzulänglichkeit in der Bauernstruktur gelten ein
»Doppelbauer« oder ein »Tripelbauer« (zwei oder gar drei Bauern der gleichen
Farbe, die vor- bzw. hintereinander auf einer Linie stehen). Freiwillig läßt man sie
selten in Linie antreten. Sie sind nicht leicht zu verteidigen, insbesondere im
Endspiel, wo sie ernsthafte Schwierigkeiten bereiten können. Es gibt aber
bekanntlich im Schach keine Regel ohne Ausnahme. Ich möchte Sie hier mit
einem effektvollen Schluß einer Partie bekannt machen, die vor ca. 50 Jahren
von den spanischen Meistern Ortueta und Sanz gespielt wurde.
Zunächst die Hauptvariante - danach die näheren Erläuterungen zu den
tiefgründigen Spielzügen:
1. ... Td8-d2
2. Sc3-a4 Td2xb2
3. Sa4xb2 c4-c3
4. Tb7xb6 c5-c4!!
5. Tb6xb4 a7-a5!!
Nach den klaren Zügen 1. ... Td2 2. Sa4 geschehen wahre Wunder auf dem
Brett. 2. ... Tb2:. Es zeigt sich, daß die Schwächen des Bauernaufbaus (be-
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
trachten sie sich die schwarzen Bauern) durch ein besonders einfallsreiches
Spiel mitunter wettgemacht werden können. Ohne zwingenden Grund gibt
Schwarz einen ganzen Turm her. 3. Sb2: c3. Es stellt sich heraus, daß nach
4. Sd3 c4+ der schlafende schwarze Läufer plötzlich zum Einsatz kommt und die
Entscheidung herbeiführt: 5. Tb6: cd3:! 6. Kf2 c2 7. Tc6 d2, und der Freibauer
wird in eine Dame umgewandelt. 4. Tb6:!. Auf das natürliche 4. ... ab6: folgt 5.
Sd3 und Weiß behält seine Mehrfigur, die zum Sieg reicht.
Schwarz kommt nun aber zum eigentlichen Höhepunkt seines Kombinationsspiels
und führt den Stoß: 4. ... c4!! aus. Jetzt ist das Feld d3 für den
Springer tabu und nach 5. ... Sc4: wird der c-Bauer in eine Dame umgewandelt.
Können zwei Figuren mit den zwei Bauernkrüppeln, die die c-Linie entlanghinken
denn wirklich nicht fertig werden? 5. Tb4. Es sieht so aus, als ob
Weiß jetzt siegen würde, denn gegen das drohende 6. Tc4: scheint es keine
Verteidigung zu geben. 5. ... a5!!. Eine echte Hymne für die Bauern. Der fast
vergessene Bauer, der zuvor den Turm nicht geschlagen hat, entscheidet
durch seinen auf den ersten Blick unvorstellbaren Sprung den Kampf. Jetzt
folgt auf 6. Tc4: das entscheidende 6. ... cb2:, wonach das Feld b4 für den
Turm unzugänglich ist, sodaß der b2-Bauer zur Umwandlung gelangt. Auf 6.
Sc4: würde 6. ... c2 folgen, und der Bauer wird ebenfalls zur Dame umgewandelt.
Ein erstaunlich schöner Schluß!
Mit diesem Beispiel beenden wir unsere kurze Bekanntschaft mit den
Besonderheiten des Bauernaufbaus. In den weiterführenden Schachlehrbüchern
können Sie ausführlichere Erläuterungen zu den hier erwähnten Fachbegriffen
finden.
Den Anfängern und allen Schachfreunden mit wenig Spielerfahrung
möchte ich empfehlen, sich an die bekannten Prinzipien der Aufstellung
und Festlegung einer Bauernkette zu halten und unnötige Schwächen
weitmöglichst zu vermeiden. Routiniers und versierte Schachmeister
kennen die Ausnahmen von den Regeln. Gerade durch diese Ausnahmen
wird das Schachspiel erst so schön und abwechslungsreich.
Aktivität und Koordination der Figuren
7. Lektion
Aktivität und Koordination der Figuren
Die Gesetze des Schachkampfes sind ähnlich den Gesetzen des Kampfes in
jeder Sportart, aber auch nicht nur im Sport: Erfolg hat derjenige, der aktiver ist,
geschickter handelt und die Mittel, die er zur Hand hat, besser einzusetzen
versteht.
Was ist nun unter Aktivität im Schachkampf genau zu verstehen? Meines
Erachtens ist es das Bestreben, durch jeden Zug die Position der eigenen Figuren
zu verstärken und zugleich die gegnerischen Figuren zu bedrohen bzw.
zurückzudrängen. Damit aber die aktiven Handlungen, die sich in den
ausgeführten Schachzügen ausdrücken, den Erfolg sichern können, müssen sie
den allgemeinen Gesetzen des Schachspiels entsprechen und sich auf ein
festes strategisches Fundament gründen.
Der Schachmeister, der hinsichtlich seines Stils als ein »aktiver Spieler« gilt,
ist meist bestrebt, bereits durch die ersten Züge dem Gegner seine Art und
Weise der Kampfführung aufzuzwingen, um ihm dadurch sogleich schwierige
Probleme verschiedenster Art zu bereiten.
Damit der Leser die Grundsätze der Aktivierung und des Zusammenwirkens
der Figuren besser verstehen kann, wollen wir hier eine von Ex-Weltmeister
Anatoli Karpow* gespielte Partie analysieren, die in dieser Hinsicht beispielhaft
sein kann.
* Anatoli Karpow war von 1975 bis 1985 Schachweltmeister. Im Titelkampf im
Herbst 1985 wurde er bekanntlich von Garri Kasparow mit 13:11 besiegt und
mußte den Schachthron seinem Nachfolger überlassen.
Anatoli Karpow - Jossif Dorfman
Moskau 1976
1. e2-e4 c7-c5
2. Sg1-f3 d7-d6
3. d2-d4 c5xd4
4. Sf3xd4 Sg8-f6
5. Sb1-c3 e7-e6
6. g2-g4 Lf8-e7
7. g4-g5 Sf6-d7
8. h2-h4
Nun kann man die erste Zwischenbilanz der Eröffnung ziehen. Durch seine
Aktivitäten am Königsflügel hat Weiß die gegnerischen Figuren auf die zwei
letzten Reihen zurückgedrängt, wobei der Springer auf dem Feld 67 dem eigenen
Läufer auf c8 und in gewissem Grade auch der Dame den Weg verlegt.
Aktivität und Koordination der Figuren
8. ... Sb8-c6
9. Lc1-e3 a7-a6
10. Dd1-e2!
Ein sehr interessanter und aktiver Plan, der die harmonische Entfaltung der
Figuren erleichtern soll. Karpow setzt die Dame auf die e-Linie, wo sie dem
Turm, der nach d1 gebracht werden soll, nicht im Wege steht; zudem werden
zukünftige Kombinationsmotive damit bereits vorbereitet. Die Dame behindert
auch den Läufer f1 nicht, da dieser ohnehin die Absicht hat, das Feld h3 zu
betreten, mit der folgenden Opferdrohung Le6:. Wie man sieht, ist jeder Zug
von Weiß energisch und verstärkt das Angriffspotential.
10. ... Dd8-c7
1 1 . 0-0-0 b7-b5
Diese Gegenaktivität erfolgt notgedrungen. Schwarz ist bereits in vielen
Frontabschnitten zurückgedrängt worden und muß nun versuchen, ein Gegenspiel
am Damenflügel zu starten, um Weiß von der Vorbereitung der entscheidenden
Offensive abzuhalten. Schwarz bleibt in der Figurenentwicklung
aber offensichtlich zurück, so daß sein letzter Zug eher ein Zeichen der
Verzweiflung als ein Element einer begründeten Aktivität ist.
12. Sd4xc6 Dc7xc6
13. Le3-d4!
Dies ist ein für Schwarz sehr unangenehmer Zug, da das natürliche 13. ... 0-
0 wegen des Ansturms der weißen Bauern rasch verliert, während im Falle von
13. ... e5 im Lager von Schwarz eine äußerst empfindliche Schwachstelle -
das Feld d5 - entstehen würde.
14. ... b5-b4
Schwarz versucht zuerst, den Springer vom Feld c3 abzudrängen, um dann
e6-e5 zu ziehen. Er ist konsequent bei der Verwirklichung seines Gegenangriffsplanes,
doch dessen strategische Basis ist leider schwach - eine
schlechte Figurenentwicklung und zudem ungünstig stehende Figuren. Wie
kann man nun diesen Schwächen ausnutzen?
14. Sc3-d5!
Das ist der aktivste Zug. Jetzt erlangt der Läufer auf d4 eine gefährliche
Kraft und - für Schwarz unerwartet - tritt die weiße Dame in Aktion.
14. ... e6xd5
15. Ld4xg7 Th8-g8
16. e4xd5 Dc6-c7
17. Lg7-f6
Für einen Springer hat Weiß zwei Bauern bekommen und gute Perpektiven
für einen Angriff auf den im Zentrum steckengebliebenen schwarzen König.
17. ... Sd7-e5!
Das ist die einzige Möglichkeit, die Stellung zu halten. Da 18. ... Lg4 droht,
hat Weiß keine Zeit für 18. f4. Nun muß er es in Kauf nehmen, daß sein
Angriffspotential durch Abtausch reduziert wird.
18. Lf6xe5 d6xe5
19. f2-f4
An die Stelle eines Figurenangriffs tritt jetzt ein Bauernsturm. Schwarz hat
keine Möglichkeit, die Entstehung eines starken weißen Bauernpaares zu
verhindern, denn nach 17.... e4 gewinnt 18. d6 Ld6:19. De4:+ usw.
19. ... Lc8-f5
20. Lf1-h3
Das Bestreben, das Gegenspiel des Kontrahenten maximal einzuschränken,
ist für die Spielweise von Anatoli Karpow sehr typisch. Weiß hätte durch
20. fe5: auch gleich schlagen können, ohne 20. ... Tc8 zu befürchten, wegen
21. Th2 Da5 22. Da6: Da6: 23. La6:. Karpow läßt es auf den Abtausch seiner
letzten Leichtfigur ankommen, beseitigt aber die Gefahr für das Feld c2.
20. ... Lf5xh3
Aktivität und Koordination der Figuren
Aktivität und Koordination der Figuren
21. Th1xh3 Ta8-c8
22. f4xe5
Meiner Meinung nach war das von Karpow angegebene 22. b3 e4 23. De4:
Kf8 24. f5, wodurch man verhindern kann, daß die schwarze Dame zum Einsatz
kommt, noch stärker. 22. ... Dc6-c4!
Schwarz setzt die Dame in eine aktive Position, und die Waage der Spielchancen
beginnt sofort zu schwanken.
23. Td1-d3
Die Manöver der Türme auf der dritten Reihe gehören zu den strategischen
Lieblingsmotiven des Weltmeisters. Dieser Zug kommt hier nicht nur einem
Damentausch zuvor, sondern er dient auch der Verbesserung des Zusammenwirkens
der weißen Figuren. Das Zusammenspiel der Figuren ist ein
wichtiger Faktor, der die Spielstärke eines Schachspielers in besonderer Weise
ausmacht: die Fähigkeit, die Züge jeder Figur so zu koordinieren, daß sie alle
zusammen zur Realisierung eines einheitlichen Vorhabens wirksam werden
und sich dabei gleichzeitig auch noch schützen können. Diese Spielweise ist
eine große Kunst und ein Merkmal einer hohen Spielstärke.
Auch hier sind die beiden Türme, die auf der dritten Reihe stehen, bereit, den
Vormarsch des zentralen Bauernpaares zu unterstützen, während die Dame
das Feld c2 schützt und den Türmen zu Hilfe eilen kann. Die durch die eigenen
Figuren geschützte Bauernformation d5 und e5 stellt eine gefährliche Kraft dar.
In der Regel sind solche Ketten imstande, die gegnerischen Figuren auf die
hintersten Reihen zurückzudrängen und deren Handlungen völlig zu
desorganisieren.
23. ... Dc4-f4+
Dies ist die beste Erwiderung. Nach 23. ... Da2: würde 24. d6! folgen.
24. Kc1-b1 Tc8-c4!
25. d5-d6 Tc4-e4!
26. Th3-e3
Nun muß ein weiteres Figurenpaar a
GEWINNEN
BEIM SCHACH
in 24 Lektionen
RAU
Walter Rau Verlag
Düsseldorf
scanned by Heide1
Aus dem Russischen übersetzt von W. Lomow
Redaktionell bearbeitet von Bernd Feustel
© 1984/85 Sport in der UdSSR Foto:
Michael Kupferschmidt, Basel
Titel der 1987 beim Walter Rau Verlag erschienenen Erstauflage:
Garri Kasparow lehrt Schach - in 24 Lektionen
3. Auflage 1992
© 1987 by Walter Rau Verlag, Düsseldorf
Alle Rechte der Verbreitung in deutscher Sprache, auch durch Film, Funk,
Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art
und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Dieses Buch wurde aus Gründen des Umweltschutzes auf
sauerstoffgebleichtem Papier gedruckt!
Umschlaggestaltung: Miguel Carulla, Düsseldorf Satz:
Schach-Spezialsatz Bernd Feustel, Bamberg Druck:
Beyer-Druck, 8607 Hollfeld Printed in Germany ISBN 3-
7919-0265-2
Inhaltsverzeichnis
Lektion 1: Wozu lernt man Schach? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9
Lektion 2: Vielfalt an Ideen und Methoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12
Lektion 3: Bewertung und Zusammenspiel der Figuren . . . . . . . . . . . . 18
Lektion 4: Kampf um das Übergewicht im Zentrum . . . . . . . . . . . . . . 24
Lektion 5: Wie erobert man Raum?-Raumvorteile . . . . . . . . . . . . . . 31
Lektion 6: Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten . . . . . . . . . . . . . . . 38
Lektion 7: Aktivität und Koordination der Figuren . . . . . . . . . . . . . . . 44
Lektion 8: Grundlegende Prinzipien der Eröffnung . . . . . . . . . . . . . . 50
Lektion 9: Vernachlässigte Eröffnungsprinzipien . . . . . . . . . . . . . . . 56
Lektion 10: Das Ziel des Schachkampfes in der Eröffnung . . . . . . . . . . . 62
Lektion 11: Offene, Halboffene und Geschlossene Spiele . . . . . . . . . . . 67
Lektion 12: Die Kunst der Planung-Strategien im Mittel-und Endspiel . . . . 73
Lektion 13: Was geht einem Damenopfer voraus? . . . . . . . . . . . . . . . 79
Lektion 14: Wenn man keine Auswahl an Zügen hat - Opferpartien . . . . . . 83
Lektion 15: Einige prägnante taktische Motive und ihre exemplarische Anwendung . 88
Lektion 16: Das Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95
Lektion 17: Methoden der Angriffsführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
Lektion 18: Angriff und Verteidigungsstrategien . . . . . . . . . . . . . . . . 108
Lektion 19: Zum Thema Gegenangriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Lektion 20: Die Könige in der Opposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Lektion 21: Der Angriff im Endspiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Lektion 22: Festungen auf dem Schachbrett . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130
Lektion 23: Schachkompositionen und-Studien . . . . . . . . . . . . . . . . 138
Lektion 24: Sparen Sie nicht mit der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
Partienverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148
Biographische Angaben - Garri Kasparow . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Vorwort
Die Zeitschrift: »Sport in der UdSSR« veröffentlichte über einen Zeitraum von 24
Monaten in den Jahren 1984 und 1985 eine Serie von 24 Schachlektionen, die Garri
Kasparow in leicht verständlichem Stil für Durchschnittsschachspieler abgefaßt hat.
Alle wichtigen Elementarkenntnisse aus den Bereichen »Eröffnung«, »Mittelspiel«
und »Endspiel« werden hierin in übersichtlicher und einprägsamer Form vermittelt;
die wichtigsten Grundlagen zum Verständnis des Positions- und Kombinationsspiels
werden gelegt; die relevanten theoretischen Begriffe werden sämtlich durch
praktische Anschauungsbeispiele verdeutlicht und erklärt.
Viele wichtige Fragen, die sich ein Schachfreund bei der Analyse von Partien oder
beim Lösen von Schachaufgaben stellt, hat der Autor aufgegriffen und in
kompetenter Weise beantwortet. Garri Kasparow versteht es vorzüglich,
anschauliches Beispiel- und Lehrmaterial (sowohl aus seiner eigenen Turnier- und
Wettkampfpraxis als auch aus älteren Quellen) auszuwählen und pädagogisch
geschickt aufzubereiten.
Der Leser wird nicht überfordert; die Lektüre wird aber auch nie langweilig, denn
stets wird ein einfühlsamer, nie ein schulmeisterlich-dozierender Stil verwendet.
Mittlerweile hat Garri Kasparow den Weltmeistertitel errungen, und damit einmal
mehr unter Beweis gestellt, daß sein persönliches Herangehen an das Schachspiel
richtig und erfolgversprechend ist. Wer sich also ernsthaft und tiefgründig mit allen
Aspekten des Schachs beschäftigen möchte, der wird keine bessere Einstiegslektüre
finden können als dieses Werk des Weltmeisters.
Da diese Artikelserie aber nur einem Teil der deutschen Schachfreunde bislang
zugänglich war, hat sich der Walter Rau Verlag dazu entschlossen, das gesamte
Lehrmaterial in der Form eines Buches erscheinen zu lassen. Dabei wurde auf eine
übersichtliche Darbietung des Materials ebenso geachtet, wie auf die Beseitigung
von Flüchtigkeitsfehlern, die sich in die Artikelserie eingeschlichen hatten.
Jedem Leser, der sich durch dieses Buch tiefer in die Geheimnisse des Schachs
einführen läßt, wünschen wir vergnügliche Stunden in dem Zauberreich der
Schachgöttin Caissa.
Walter Rau Verlag September 1992
Wozu lernt man Schach?
1. Lektion
Wozu lernt man Schach?
Die Bitte der Redaktion der Zeitschrift »Sport in der UdSSR«, eine Reihe von
Fernvorlesungen für die Leser zu halten, kam für mich etwas unerwartet, weil
ich selbst nach wie vor bemüht bin, in die Geheimnisse der Schachkunst
einzudringen. Nach reiflicher Überlegung wurde mir jedoch klar, daß eine
derartige Zusammenfassung über mein Verständnis und meine Interpretation
der Grundlagen des Schachspiels auch für mich selbst von Nutzen sein würde.
Ich liebe das Schachspiel sehr, ich liebe es seit langem und offenbar wird
diese Liebe mein ganzes Leben lang bestehen bleiben. Ich studiere dieses
Spiel ständig und sorgfältig, dennoch, wenn ich von Zeit zu Zeit meine Leistungen
einschätze und festlege, was in nächster Zukunft zu tun ist, bin ich
jedesmal von der Unergründlichkeit des Schachspiels überzeugt. Urteilen Sie
selbst. Es sind Millionen von Schachpartien gespielt und Tausende von
Büchern geschrieben worden, die verschiedene Aspekte des Schachspiels
analysieren, doch bis heute gibt es weder eine allgemeingültige Formel des
Schachspiels oder Methode für einen garantierten Sieg, noch mathematisch
strenge Kriterien für die Einschätzung auch nur eines einzigen Zuges, geschweige
denn der Figurenstellungen. Die Schachkenner wissen, daß es in
den meisten Spielsituationen nicht nur eine, sondern gleich mehrere etwa
gleichstarke Fortsetzungen gibt. Jeder Spieler wählt seinen wirksamsten Zug
aus, indem er von seinen eigenen Erfahrungen, Neigungen, Berechnungsfähigkeiten
und schließlich auch von seinem Charakter ausgeht. Die
Absicht, einen Computer als Berater heranzuziehen, ist vorläufig als unseriös zu
bezeichnen, weil der Algorithmus des Schachspiels noch nicht gefunden
wurde. Es gibt kein Programm, das einen sicheren Ausweg aus den entstandenen
Schwierigkeiten zeigt. Was soll man da über die Einzelheiten, Spielsituationen
und Phasen einer Partie sagen, wenn es bis heute noch keine Antwort
auf die Frage gibt: Was ist denn nur das Schachspiel? Eine Sportart, eine
Wissenschaft oder eine Kunst?
»Die Schachspieler nehmen an Turnieren und Wettkämpfen teil. Sie kämpfen
um den Sieg; für sie kommt es auf das Resultat an, also ist Schach eine
Sportart. Es stählt den Willen und festigt das Selbstvertrauen«, sagen die einen.
Wie aber soll man diejenigen von der Richtigkeit dieser Meinung überzeugen,
die über glanzvolle Kombinationen und die Logik der Schachideen in
Wozu lernt man Schach?
Begeisterung geraten und die an einem Damenopfer selbst in einer von ihnen
verlorenen Partie Freude empfinden, während ein langweiliger, mit Müh und
Not erreichter Sieg sie gleichgültig läßt. Für diese Spieler ist Schach eine
Kunst, die Freude bereitet und die Mußestunden erst schön macht.
Indessen gibt es noch viele Schachfreunde, die bereit sind, einige Abende
hintereinander nach der Antwort auf die Frage zu suchen: »Warum hat
Schwarz hier seinen Turm nach d8 und nicht seinen Springer nach c6 gezogen?
Und warum ist die gegebene Stellung des Schwarzen besser?« Für sie ist
Schach in erster Linie eine Wissenschaft, und zwar eine Wissenschaft vom
logischen Denken.
Wegen seiner Vielfalt und Vielgestaltigkeit liebe ich das Schachspiel noch
mehr. Es hat mich in meiner frühen Kindheit gerade durch seine Schönheit und
den Glanz taktischer Kombinationen verzaubert. Zunächst war da die
Bewunderung für die Schönheit, dann die Suche nach der Schönheit im Verlauf
des Spiels und später das Bestreben, eine schöne Partie, ja viele schöne Partien
zu spielen. Das sind die Etappen meiner Entwicklung im Banne der
Schachkunst. Dann aber kam die Zeit, wo ich mich mit anderen Spielern zu
messen und an Turnieren teilzunehmen begann. Das war der Anfang meiner
schachsportlichen Laufbahn. Es macht mir nach wie vor viel Spaß, schöne
Partien zu spielen. Dabei ist es mir aber durchaus nicht gleichgültig, ob ich in
der Turniertabelle vor meinen Rivalen liege oder dahinter.
Ich möchte siegen, möchte alle bezwingen. Das aber muß schön und in fairem
sportlichen Kampf geschehen. Ex-Weltmeister Michail Botwinnik, den ich als
meinen Schachlehrer betrachte, ist ein Schachprofessor. Seine Arbeiten trugen
dazu bei, daß man von der wissenschaftlichen Seite des Schachs zu reden
begann. Er war es, der mich lehrte, die Analysearbeit am Brett und die Suche
nach Antworten auf die zahlreichen offenen Fragen zu genießen.
Meine Eltern erklärten mir im Alter von fünf Jahren, wie die Schachfiguren
ziehen. Die verschiedenartige Gangart der Figuren gefiel mir sehr. Ein Jahr
später meldete man mich im Schachzirkel des Pionierpalastes in meiner Vaterstadt
Baku an. Ich glaubte ein Zauberreich, das Zauberreich der Schachfiguren,
betreten zu haben. Während einer der ersten Unterrichtsstunden stellte
der Lehrer, der die Neulinge durch die Vielgestaltigkeit des Schachs verblüffen
wollte, die Figuren folgendermaßen auf das Brett:
(Diagramm nächste Seite)
Diese Stellung, in der die kleinen Bauern das furchtgebietende gegnerische
Heer besiegt hatten, beeindruckte meine Phantasie wie ein wundervolles,
zauberhaftes Märchen. Seitdem konnte ich es keinen Tag mehr ohne
Schach aushalten. Auch jetzt noch läßt mich diese Figurenstellung in Entzükken
geraten.
Von Kindheit an bevorzugte ich den Angriff. Um jedoch den Großmeistertitel
zu erwerben und internationale Turniere zu gewinnen, mußte ich viel Zeit für
das Studium der Grundlagen des Schachspiels aufwenden, die mit dem Angriff
scheinbar in keiner direkten Beziehung standen. Ich bin sicher, daß diese
Arbeit für den Großmeister ebenso notwendig ist wie für den einfachen
Schachliebhaber, der seine Spielstärke steigern und an Schachturnieren teilnehmen
möchte. Großmeister verwenden viele tausend Stunden darauf,
hunderte von Partienanalysen anzufertigen. So erreichen sie ihre hohe Spielklasse.
Ohne diese umfangreiche Arbeit wäre es ihnen nie gelungen, ihr
Schachtalent zur Entfaltung zu bringen.
Wenn Sie nun gerne Schach spielen, jedoch keine Zeit für die ernsthafte
ständige Beschäftigung mit dem Schach haben, aber wenigstens im Freundeskreis
Siege erringen möchten, so sollten Sie auch in diesem Falle einige
Dutzend Stunden für das Erlernen der Grundlagen des Schachspiels aufwenden.
Im Rahmen dieses Buches will ich meine Auffassung von den Grundlagen
des Schachspiels in einer Weise darlegen, die einem breiten Publikum verständlich
ist, aber auch Feinheiten erörtern, die wahre Schachfreunde unbedingt
kennen müssen. Ich würde meine Aufgabe als erfüllt und meine - wie
auch ihre - Zeit als nicht unnütz vertan betrachten, wenn Sie nach Abschluß
des 24-Lektionen-Zyklus hinter den eigenwilligen Zügen der Schachfiguren
wesentlich mehr Sinn und Logik erblicken und auch lernen, ihre eigenen Partien
inhaltsreicher zu gestalten. Ich möchte aber auch, daß Sie dieses wahrhaft
königliche Spiel noch mehr liebgewinnen.
Wozu lernt man Schach?
Vielfalt an Ideen und Methoden
2. Lektion
Vielfalt an Ideen und Methoden
Bevor ich zur Untersuchung der Grundlagen des Schachkampfes übergehe,
möchte ich Sie mit einer verhältnismäßig einfachen Partie bekannt machen, die
ich mit Kommentaren versehen habe, die für den Durchschnittsspieler gedacht
sind. Sie werden sich nach der Einsichtnahme in die vorliegende Analyse noch
einmal davon überzeugen können, daß derjenige, der schöne und inhaltsreiche
Züge auf dem Schachbrett ausführen möchte, umfassende Schachkenntnisse
benötigt.
Kasparow (UdSSR) - Gheorghiu (Rumänien)
Moskau 1982
1. d2-d4
Erfahrene Schachspieler wissen, daß dieser Zug, sowie der Zug mit dem
Königsbauern (1. e2-e4) am Anfang einer Partie die logischen und besten
Züge sind, die den schachlichen Prinzipien am meisten entsprechen. Zu einer
solchen Schlußfolgerung werden auch Sie gelangen, wenn Sie zwei bis drei
Stunden für das Studium der allgemeinen Grundsätze, von denen man in der
Anfangsphase einer Schachpartie ausgehen sollte, verwendet haben. Die
Grundsätze lassen sich auf einen kurzen Nenner bringen: Die Eröffnungstheorie
handelt von der Notwendigkeit, die eigenen Figuren schnellstmöglich ins Spiel
zu bringen und die Zentralfelder zu beherrschen.
1. ... Sg8-f6
Das ist eine der besten Erwiderungen auf den Zug von Weiß. Schwarz hindert
den Gegner daran, auch noch den Königsbauern zwei Felder weit ins Zentrum
vorzurücken, was die Zentrumsfelder noch mehr unter Kontrolle nehmen
würde.
2. c2-c4
Dadurch legt Weiß dem Vormarsch des schwarzen d-Bauern mittels
2.... d5 ein Hindernis in den Weg, denn in diesem Falle müßte Schwarz nach
3. cd5: die Wahl treffen zwischen 3.... Dd5:4. Sc3, womit Weiß seinen Springer
einsetzt und der Nachziehende gezwungen wird, zum zweiten Mal hintereinander
mit der Dame zu ziehen und somit den Einsatz seiner Figuren zu
verlangsamen oder, wie man zu sagen pflegt, in der Entwicklung zurückzubleiben,
und der Alternative 3.... Sd5:, womit Schwarz den Zug 4. e4 zulassen
würde. Danach erhält Weiß in der Brettmitte ein starkes Bauernpaar, das die
wichtigen Vorpostenfelder c5, d5, e5 und f5 unter Kontrolle nimmt.
Nun kommen wir auf die ersten Zeilen unserer Untersuchung des Zuges c2-
c4 zurück - »dadurch legt Weiß dem Vormarsch des schwarzen d-BauVielfalt
an Ideen und Methoden
ern mittels 2. ... d5 ein Hindernis in den Weg«. Diese Situation ist der Beginn
eines sinnvollen Konfliktes in dieser Schachpartie. Es kommt zu einem Kampf
der Ideen - das eigentliche Schachspiel beginnt. Je größer die Fähigkeiten und
die Kenntnisse eines Spielers sind, desto genauer erkennt er das Entstehen
solcher Kleinkonflikte im Spielverlauf, zu denen es während einer Partie häufig
kommt, desto richtiger schätzt er ihre Auswirkungen ein und desto bessere
Entscheidungen trifft er.
2. ... e7-e6
Schwarz macht dem Läufer f8 den Weg frei und ist - gleichsam um das
Versäumte nachzuholen - im Begriffe, dem Damenbauern den Vorzug auf das
Feld d5 vorzubereiten.
3. Sg1-f3
Weiß hat eine große Auswahl an guten Zügen. Alternative Fortsetzungen,
die nicht schlechter sind, als der Partiezug, wären etwa 3. Sc3 oder auch 3.
Lg5 bzw. 3. Lf4. In der Eröffnung kommt es sehr darauf an, dem Grundsatz der
raschesten Entfaltung der eigenen Figuren zu folgen und ihn nach Möglichkeit in
die Tat umzusetzen.
3. ... b7-b6
Schwarz sorgt sich um den Läufer auf c8 und trifft Vorkehrungen, damit
dieser seine Hauptkampfstellung auf b7 bzw. auch ein alternatives Einsatzziel
auf a6 erreichen kann.
4. a2-a3
Um diesen auf den ersten Blick passiven Zug zu tun, muß man die Rolle, die
Vorbeugungsmaßnahmen im Schachkampf spielen, klar erkannt haben. Der
bescheiden wirkende Zug des weißen Randbauern hat eine prophylaktische
Funktion: Er hindert den schwarzen Läufer daran, eine aktive Stellung auf b4
zu beziehen, und er sichert zugleich dem weißen Springer die Möglichkeit, das
Feld c3 zu besetzen, von wo aus er im Kampf um das Zentrum eine aktive
Rolle spielen wird, ohne vom schwarzen Läufer belästigt zu werden.
4. ... Lc8-b7
5. Sb1-c3
Beide Spieler beeilen sich, ihre Figuren ins Spiel zu bringen, und sind bestrebt,
dies so zu tun, daß ihr Einfluß auf den Verlauf des sich abzeichnenden
Kampfes in der Brettmitte maximal verstärkt wird.
5. ... d7-d5
Schwarz verstärkt seine Position im Zentrum. Allerdings hat das Vorrücken
des Bauern nach d5 in dieser Stellung auch einen gewissen Nachteil, denn
dadurch wird für den Läufer b7 die Diagonale (zumindest vorübergehend)
versperrt.
6. c4xd5 Sf6xd5
Nach 6. ... ed5: würde der Läufer auf b7 von seinem eigenen Bauern d5
Vielfalt an Ideen und Methoden
eingesperrt und dann Gefahr laufen, einige Zeit zur Untätigkeit verurteilt zu
sein. Zwar kann diese nachteilige Eigenschaft der schwarzen Stellung allein
einen weißen Erfolg noch nicht vorherbestimmen, doch ist es gerade die Anhäufung
solch kleiner Vorteile, die es einem Großmeister ermöglicht, den
Kampfverlauf eindeutig zu seinen Gunsten zu gestalten.
7. Dd1-c2
Auf dem Brett ist ein neuer Minikonflikt entstanden, der sich um die Durchsetzung
des Zuges e2-e4 dreht. Weiß möchte mit diesem Zug das Zentrum
besetzen. Bei der Wahl seines Partiezuges mußte Weiß in Betracht ziehen,
daß nach dem übereilten Vorstoß 7. e4?? ein Bauer verloren gehen würde: 7. ...
Sc3: 8. bc3: Le4:.
7. ... c7-c5
Schwarz hätte durch den Zug 7. ... f5 das Vorhaben von Weiß vereiteln
können, dafür aber einen hohen Preis bezahlen müssen, denn in seinem La
ger wäre dann ein rückständiger Bauer auf e6 und ein schwaches Feld auf e5
entstanden. 8. e2-e4 Sd5xc3
9. b2xc3 Lf8-e7
Das ist ein neuer Erfolg für Weiß. Jetzt verfügt er über eine starke Bauernformation
im Zentrum und kämpft erfolgreich um die Beherrschung der Felder
der fünften Reihe, das heißt um wichtige Felder, die schon im gegnerischen
Territorium liegen. Im schachlichen Sprachgebrauch wird dieser Zustand mit
dem Fachbegriff: »Raumvorteil« bezeichnet.
10. Lf1-b5+ Lb7-c6
11. Lb5-d3
Nicht immer ist im Schachspiel eine Gerade die kürzeste Verbindung zwischen
zwei Punkten. Daß Weiß seinen Läufer in zwei Zügen nach d3 überführte,
brachte ihm mehr Vorteile ein, als wenn er den Läufer gleich nach d3 gezogen
hätte. Den König nach dem Läuferschachgebot auf die natürliche Weise durch
das Dazwischenziehen des Springers zu schützen, mißlingt, weil Weiß über
eine Zugfolge wie etwa 10. Lb5+ Sc6? 11. Se5 Tc8 12. Da4 Dc7 13. Da7: Ta8?
14. Lc6:+ verfügen würde mit weißer Gewinnstellung. Der Läufer aber nimmt auf
c6 einen ungünstigen Platz ein und steht nur den eigenen Figuren im Wege. Die
Schachsprache bezeichnet dies als eine schlechte Figurenstellung bzw. als eine
schlechte Koordination des Figurenspiels.
1 1 . ... Sb8-d7
Wegen des plumpen Läufers mußte der Springer auf die Inbesitznahme
seines Idealfeldes c6 verzichten, wo er eine viel aktivere Position eingenommen
hätte, weil er das weiße Heer im Zentrum von dort aus angreifen könnte. Jetzt
jedoch nimmt er eine passive Stellung ein. Vielleicht wollte Schwarz nicht, daß
der Gegner nach 11.... 0-012. Se5 das Läuferpaar erhält und dadurch ihm
gegenüber einen Vorteil besitzt, doch wäre dies in der gegebenen Situation
immer noch das kleinere Übel gewesen. Nun jedoch bleibt der schwarze König
in der Mitte.
Vielfalt an Ideen und Methoden
Gerade für Anfänger und weniger routinierte Schachfreunde wäre es stets
vernünftiger, in erster Linie an die Sicherheit des eigenen Königs zu denken,
d.h. bestrebt zu sein, ihn möglichst schnell aus der Mitte wegzuziehen.
12. 0-0
Da der schwarze König offenbar nicht dazu kommt, sich an einen sicheren
Ort zu verstecken, muß Weiß um jeden Preis versuchen, das Zentrum zu öffnen,
d.h. die Mittellinien »d« und »e« von Bauern freizuräumen. Daher verläßt der
weiße König das Feld e1, das später in den Gefahrenbereich geraten könnte,
und macht gleichzeitig Platz für den Einsatz des Turms.
12. ... h7-h6
Das ist, ähnlich wie 4. a3, ein vorbeugender Zug.
Die genaue Wahl des richtigen Zeitpunktes für die jeweilige Aktion auf dem
Schachbrett ist eine wichtige Komponente der Spielführung. Großmeister
Florin Gheorghiu hat für seine Vorbeugungsmaßnahmen einen denkbar ungünstigen
Zeitpunkt gewählt.
13. Tf1-d1
In der Voraussicht, daß die d-Linie geöffnet wird, zieht Weiß seinen Turm
hierher.
13. ... Dd8-c7
Nun hat Schwarz den richtigen Zeitpunkt für seine Rochade verpaßt. Nach
13.... 0-0 folgt jetzt 14. d5 (ein Bauernopfer) ed5: (schlecht wäre 14.... Lb7?
15. de6: fe6:16. Lb5!, und der gefesselte Springer auf d7 bringt Schwarz ins
Verderben) 15. ed5: Lb7 16. c4 Lf6 17. Lb2, und Weiß bekommt einen deutlichen
Vorteil in Form eines starken gedeckten Freibauern in der Brettmitte.
14. d4-d5!
Vielfalt an Ideen und Methoden
»Wer im Vorteil ist, muß energisch handeln« - so lautet ein Gebot des großen
Schachdenkers und ersten Schachweltmeisters Wilhelm Steinitz (1836 - 1900),
der die Grundgesetze der Schachstrategie formuliert hat. Das Studium des von
den großen Schachmeistern der Vergangenheit hinterlassenen Erbes ist für alle
Schachfreunde nützlich und für diejenigen ganz unerläßlich, die sich ernsthaft
mit Schach befassen und bestrebt sind, ihre Spielweise zu steigern.
In der hier angeführten und analysierten Partie opfert Weiß nur einen Bauern,
erreicht jedoch alles, wonach er strebt: Er öffnet die Mittellinien, fesselt die
schwarzen Figuren auf der d-Linie und läßt den gegnerischen König nicht aus
der Mitte entkommen. Weiß hat die erste Phase des Schachkampfes, die
Eröffnung, durch die größere Konsequenz seiner Aktionen klar gewonnen.
Nunmehr muß er energisch und präzise handeln, um seinen Vorteil auszubauen.
Die folgenden Geschehnisse des Mittelspiels gehören von der Thematik
her schon einer der nächsten Lektionen zugeordnet. Die Schlußphase
der Partie soll Ihnen aber dennoch nicht vorenthalten werden:
14. ... e6xd5
15. e4xd5 Lc6xd5
16. Ld3-b5
Jetzt sieht die Erwiderung 16.... Lc6 bedeutend natürlicher aus, aber nach
17. Lf4! Db7 18. Lc6: Dc6:19. Te1! steht Schwarz eine schwere Verteidigung
bevor. Obwohl Schwarz einen Mehrbauern hat, spielt er in der Tat ohne einen
ganzen Turm. In diesem Falle könnte sich das Spiel etwa folgendermaßen
entwickeln: 19. ... Kf8 20. Tad1 Te8 21. Df5 Sf6 22. Se5 Dc8 23. Sd7+! Sd7: 24.
Dd7: Dd7:25. Td7: g5 26. Tde7:! Te7:27. Ld6 mit Gewinn. Diese Variante ist
nicht obligatorisch, aber sie illustriert die aktiven Möglichkeiten von Weiß sehr
gut.
16. ... a7-a6
Mit diesem Zug verbindet Schwarz seine Hoffnung auf Gegenchancen etwa
in der Variante: 17. Ld7:+ Dd7:18. c4 Le4!, was Schwarz aus seinen Kalamitäten
befreit.
17. Lc1-f4!
Damit wird Schwarz gezwungen, aufs Äußerste zu gehen und mit dem König
in das Brettzentrum zu ziehen, weil die Variante 17.... Db718. Ld7:+ Dd7: 19.
c4 Dg4 20. Td5: Df4: 21. Te1 ihm noch weniger angenehm ist (zum Beispiel
21.... Ta7 22. Se5 Tc7 23. Sg6! fg6: 24. Dg6:+ Df7 25. Td8+!).
17. ... Dc7xf4
18. Lb5xd7+ Ke8xd7
19. Td1xd5+ Kd7-c7?
Wohl nur dieser Zug verdient mit voller Bestimmtheit ein Fragezeichen. Die
Realisierung der weißen Überlegenheit ließe sich maximal erschweren durch
19.... Kc8, wobei man die Verteidigung Ta8-a7-c7 im Auge hat.
Vielfalt an Ideen und Methoden
20. Ta1-e1! Le7-d6
20. ... The8 21. Tde5 Df6 22. De4 führte zum Verlust einer Figur und 20....
Lf6 21. Te4 führte zu einer pikanten Situation - die Dame ist im Brettzentrum
gefangen!
21. Td5-f5 Df4-c4
22. Te1-e4!
Sogar in dieser Position ist es noch immer möglich, einen Fehler zu
begehen-22. Sd2?The8!.
22. ... Dc4-b5
23. Tf5xf7+ Kc7-b8
24. Te4-e6 Th8-d8
25. c3-c4 Db5-c6
Im Falle von 25.... Da5 entschied alles 26. De4 Ta7 27. Td6:!.
26. Sf3-e5 Dc6-c8
27. Dc2-b1!
Das ist nicht der einzige, aber der besonders feine Weg zum Gewinn. (27.
...b528.cb5. Schwarz gab auf.
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
3. Lektion
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Um das Kräfteverhältnis auf dem Schachbrett richtig einschätzen zu können,
muß man vor allen Dingen den relativen Wert jeder Figur kennen. Einen
außerordentlich wichtigen Platz nimmt in dieser Skala der König ein. Sein Wert
ist gar nicht abzuschätzen. Man darf den König gegen keine andere Figur
tauschen, und jede Gefahr für seine Existenz ist unbedingt zu beseitigen, sonst
nimmt die Partie sofort ihr Ende. Die kampfstärkste Schachfigur ist die Dame,
die im Durchschnitt um einen Läufer und anderthalb Bauern stärker ist als der
Turm. Der Turm ist ebenfalls um anderthalb Bauern stärker als der Läufer
beziehungsweise der Springer. Der Läufer bzw. der Springer ist jeweils etwa
soviel wert wie drei Bauern.
Um die Ungleichheit der Kräfte zu charakterisieren, wird im Schach der
Begriff »materielles Übergewicht« verwendet. Hat eine der beiden Seiten ein
materielles Übergewicht erreicht, so ist sie dann bestrebt, dieses noch zu
vergrößern, um den Widerstand des Gegners zu brechen oder unter Beibehaltung
dieses Übergewichtes möglichst viele Figuren abzutauschen und zum
Endspiel überzugehen. Oft kommt es aber vor, daß einer der beiden
Kontrahenten absichtlich materielle Verluste in Kauf nimmt. Ich zum Beispiel
greife gern die Stellung des gegnerischen Königs an und schrecke, um seine
Festung zu zerstören, auch nicht davor zurück, Figuren zu opfern. Dabei geht es
mitunter auch nur darum, Bauern zu schlagen, die den König unmittelbar
decken. So habe ich beispielsweise vor kurzem eine Partie gegen den ungarischen
Großmeister Lajos Portisch gespielt. Nach 16 Zügen entstand folgende
Stellung:
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Würde man im Gedanken den Bauern d4 vom Brett nehmen, so könnte man
feststellen, daß die beiden weißen Läufer die zwei schwarzen Bauern, die den
König schützen, aufs Korn genommen haben. Die schwarze Majestät hat
einstweilen keine anderen Beschützer. Diese Umstände lassen die Möglichkeit
zu einem Angriff erkennen, dessen Zweck, dem gegnerischen König die
letzten Verteidiger wegzunehmen, die Mittel - den Verlust eines weißen Bauern
und die Aufopferung der beiden Läufer - heiligt. Zunächst soll dem Läufer b2
der Weg geebnet werden.
17. d4-d5! e6xd5
18. c4xd5 Lb7xd5
Jetzt wird die Zahl der Schutzsteine des schwarzen Königs verringert.
19. Ld3xh7+ Kg8xh7
20. Td1xd5 Und da sich der
König jetzt durch den Rückzug:
20. ... Kh7-g8
erneut hinter einem Bauern verbirgt, vernichtet der weiße Läufer um den Preis
der eigenen Selbstaufopferung das letzte schützende Bollwerk im Vorfeld des
gegnerischen Königs.
21. Lb2xg7! Kg8xg7
Ein Sturm von Kombinationen ist über das Brett gefegt. Schließlich bleibt der
schwarze König angesichts eines drohenden Angriffs von Weiß allein auf sich
gestellt.
22. Sf3-e5! Tf8-d8
23. De2-g4+ Kg7-f8
24. Dg4-f5 f7-f6
25. Se5-d7+ Td8xd7
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Ein sofortiger weißer Sieg würde nach 2. ... Kf7 26. Dh7+! Ke6 27. Te1+! Kd5:
28. De4+ Kd6 29. De6 matt zu verzeichnen sein.
26. Td5xd7 Dc7-c5
27. Df5-h7 Tc8-c7
Auf dem Brett ist ein ungefähres materielles Gleichgewicht entstanden. Ein
Turm und ein Bauer von Weiß stehen einem Läufer und einem Springer von
Schwarz gegenüber. Die schwarzen Figuren, insbesondere der König, stehen
jedoch ungünstig. Zudem sind die beiden stärksten weißen Figuren gefährlich
in die siebente Reihe eingedrungen, sodaß sich der Kampf nunmehr seinem
Ende nähert. Alles hängt davon ab, wie schnell Weiß einen seiner Türme auf das
Feld g3 führen kann. Der letzte Zug von Schwarz birgt aber eine fein ersonnene
Falle in sich.
28. Dh7-h8+
Hätte Weiß, aus der Erwägung heraus, Td3-g3-g8matt spielen zu wollen,
gleich 28. Td3 gezogen, wäre er nach dem frappierenden Damenopfer 28. ...
Df2:+! 29. Kf2: Lc5+ nebst 30. ... Th7: überraschenderweise leer ausgegangen.
Noch schlimmer hätte es für ihn bei 29. Tf2:? Tc+ 30.Tf1 Lc5+!
31. Kh1 Tf1: matt! ausgesehen.
28. ... Kf8-f7
29. Td7-d3 Sa5-c4
30. Tf1-d1
Es zahlt sich immer aus, eine solche Reserve in der Entscheidungsschlacht
zum Einsatz zu bringen.
30. ... Sc4-e5
31. Dh8-h7+ Kf7-e6
Wegen des neuerlichen Opfermotivs 32. Td8+! Ld8: 33. Td8:matt! darf man
den Rückzug 31. ... Kf8 nicht vornehmen. Nun muß der König sich in das
Zentrum des Brettes begeben. Dies ist aber in einem figurenreichen Mittelspiel
fast in 99 von 100 Fällen mit einer Niederlage gleichbedeutend.
32. Dh7-g8+ Ke6-f5
33. g2-g4+ Kf5-f4
34. Td3-d4+ Kf4-f3
35. Dg8-b3+
Schwarz gab auf.
Selbstverständlich müssen alle Schachspieler die Hauptprinizipien des
Schachkampfes, unter anderem auch die Skala des relativen Wertes der einzelnen
Figuren, kennen und beachten. Zu den Reizen des Schachspiels gehört
es aber vor allem, daß es eine Menge von Ausnahmen aufweist, d.h. Situationen
und Verhältnisse, die nicht nach den üblichen Mustern bewertet werden
können, in denen der richtige Weg oft nicht durch Regeln genormt ist, sondern
durch die Intuition und die bisher gewonnenen Erfahrungen dikBewertung
und Zusammenspiel der Figuren
tiert wird. Als ein Beispiel solcher Erfahrungen habe ich ein Partiefragment im
Gedächtnis, das einer Partie zwischen Michail Tal (Weiß) und Oscar Panno
(Schwarz) aus dem Jahre 1958 entstammt.
Noch bevor die Entwicklung aller Figuren abgeschlossen ist, beginnen hier
die Kontrahenten einen erbitterten taktischen Kampf, in dem die materiellen
Kräfteverhältnisse in den Hintergrund treten und dazu auch noch von den gewöhnlichen
Gegebenheiten ganz gewaltig abweichen. Das Wichtigste ist es
dabei, die Aktivität der am Kampf unmittelbar beteiligten Figuren richtig einzuschätzen.
18. ... Sa5xb3
19. Se5-c6!
Diesem Zug liegt die Absicht zugrunde, die schwarze Dame zu schlagen.
Weiß muß jedoch mit einen rein rechnerisch viel zu hohen Gegenwert dafür
bezahlen.
19. . . . Sb3xa1
20. Sc6xd8 Lc8-f5!
21. Dd3-f3 Ta8xd8
22. Te1xe7 Lf5xb1
23. Ld2xf4 Td8xd4
Nach lediglich fünf Zügen ist die Stellung nicht mehr wiederzuerkennen.
Zwei Springer und ein Turm wiegen nicht weniger schwer als eine Dame. Dazu
kommt noch, daß der weiße Läufer bedroht wird. Offenbar hängt der Ausgang
des Kampfes von der Aktivität der weißen Dame ab.
24. Df3-g4 Lb1-g6
25. Dg4-e6+ Lg6-f7
26. De6-f5 Sa1-c2
27. b2-b3 Lf7-g6
Am meisten hatte Michail Tal den schwarzen Gegenangriff nach 27. ...Td1+
28. Kh2 Sd2 gefürchtet. Schwarz macht einen Zug, der die Lage stabilisieren
soll. Weiß sieht sich jetzt gezwungen, die Stellung noch mehr zu verwickeln.
28. Te7xg7+ Kg8xg7
29. Lf4-h6+ Kg7xh6
30. Df5xf8+ Kh6-g5
31. b3xc4 b5xc4
Die Figurenstellung hat sich wieder einmal schlagartig verändert. Weiß greift
nur noch mit der Dame und einigen wenigen Bauern an.
32. g2-g3 Lg6-e4
33. h3-h4+ Kg5-g4
34. Kg1-h2 Le4-f5!
Schwarz verteidigt sich großartig. Durch die Preisgabe einer Figur (35. f3+
Kf3: 36. Df5:+ Ke3!) würde er seinen König auf den Damenflügel und somit in
Sicherheit bringen. Daher sucht Weiß nach einer Möglichkeit, den feindlichen
König auf dem Königsflügel festzuhalten, wo er sich in Wirkungsbereich der
weißen Bauern befindet.
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
Bewertung und Zusammenspiel der Figuren
35. Df8-f6 h7-h6
36. Df6-e5 Td4-e4
37. De5-g7+ Kg4-f3
38. Dg7-c3+ Sc2-e3
Zu einem einfacheren Remis hätte 38. ... Kf2: 39. Dc2:+ Kf3 geführt.
39. Kh2-g1 Lf5-g4
40. f2xe3 h6-h5
41. Dc3-e1 Te4xe3
Zu einem Unentschieden hätte 41. ... Te6 42. e4 c3 geführt, wonach sich die
schwarzen Figuren gegenseitig schützen würden, während der weiße König in
seinem Käfig eingeschlossen worden wäre.
42. De1-f1+ Kf3-e4
43. Df1xc4+ Ke4-f3
44. Dc4-f1+ Kf3-e4
45. Df1xa6
Nunmehr hat die weiße Dame einen Mitkämpfer, den Freibauern a2. Letzten
Endes entschied dieser auch den Ausgang des Kampfes zugunsten von Weiß,
doch das wäre bereits das Thema einer anderen Lektion, die dem Themenbereich
Endspiel zugehört.
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
4. Lektion
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
Die Zentralfelder e4, d4, e5 und d5 sind sehr wichtig. Sie sind wie eine Anhöhe,
von er man das Schlachtfeld überblicken und den entscheidenden
Schlag gegen ein beliebiges Objekt auf dem Schachbrett ausführen kann.
Solche Begriffe wie »Kampf ums Zentrum«, »Vorherrschaft im Zentrum« und
»Unterminierung des Zentrums« spiegeln ebenfalls die wichtigsten Momente
des Zweikampfes wider und sind jedem erfahrenen Schachspieler gut bekannt.
Der Kampf ums Zentrum beginnt gleich mit den ersten Zügen. Die Partei, die
im Brettzentrum das materielle Übergewicht erreicht, oder, mit anderen
Worten, das Zentrum besetzt hat, erhält gewöhnlich die Möglichkeit, ihre Figuren
von einem Brettabschnitt zum anderen zu verlagern und dabei dort eine
Überlegenheit an Kräften zu schaffen, wo der Kampf stattfindet. Vor hundert
Jahren wurde der Kampf ums Zentrum sorgloser und zugleich offener und
geradliniger geführt. Weiß war bestrebt, das Zentrum sofort durch Bauern zu
besetzen, ohne vor Materialopfern zurückzuschrecken. Damals waren die
Gambits, das heißt die Spieleröffnungen, in denen ein Bauernopfer angeboten
wird, groß in Mode.
Vor allem das »Königsgambit«:
1. e2-e4 e7-e5
2. f2-f4! e5xf4
Heutzutage wendet man meist ein Gegengambit an (2. ... d5 3. ed5: e4!),
wodurch der Kampf ums Zentrum auf eine feinere Art geführt wird.
3. Sg1-f3
Der erste offizielle Weltmeister, Wilhelm Steinitz (1836 - 1900), spielte mit
Vorliebe 3. d4, wobei er auch das dann mögliche 3. ... Dh4+ 4. Ke2 in Kauf
nahm. Er meinte, daß die Beherrschung des Zentrums wichtiger sei als ein sicherer
Standplatz für den König.
3. ... g7-g5
4. Lf1-c4 g5-g4
5. 0-0! g4xf3
6. Dd1xf3 Dd8-f6
7. d2-d3 Lf8-h6
8. Sb1-c3 Sg8-e7
9. Lc1xf4 d7-d6
10. Lf4xh6 Df6xh6
1 1 . Df3xf7+ Ke8-d8
12. Tf1-f6 Dh6-g5
13. Ta1-f1
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
So ging eine Partie weiter, die der große russische Schachmeister Michail
Tschigorin 1878 spielte. Weiß opferte eine Figur, kam zu Angriff, wobei sein
Übergewicht im Zentrum von entscheidender Bedeutung war.
Noch anschaulicher wurde die Zentrumsstrategie von Weiß in einer Partie
des hervorragenden amerikanischen Schachmeisters Paul Morphy (1837 -
1884) demonstriert.
Paul Morphy - J. Arnous Riviere
Paris 1863
Diese sehr interessante Stellung war zu jener Zeit nicht weniger populär als
etwa die Spanische Partie heute. Um den Preis eines Bauern hat Weiß ein
deutliches Übergewicht im Zentrum erlangt: Dort hat er ein starkes Bauern-
1. e2-e4
2. Sg1-f3
3. Lf1-c4
4. b2-b4
5. c2-c3
6. 0-0
7. d2-d4
8. c3xd4
9. Sb1-c3
e7-e5
Sb8-c6
Lf8-c5
Lc5xb4
Lb4-c5
d7-d6
e5xd4
Lc5-b6
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
paar stehen, hinter dem - wie hinter einer Mauer - Weiß die Kräfte umgruppieren
kann. Auch über die schwarze Zentrumshälfte, d.h. über das Feld e5
(zweifach bedroht und zweifach von Schwarz verteidigt) und namentlich das
Feld d5 (dreifach bedroht und keine einzige schwarze Verteidigung) übt Weiß
eine wirksame Kontrolle aus. Jetzt darf man zum Beispiel 9. ... Sf6 wegen des
rasch eskalierenden Angriffs nach 10. e5! de5: 1 1 . La3! Ld4: 12. Db3! Le6
13. Le6: fe6:14. De6:+ Se7 15. Sd4: ed4:16. Tfe1 nicht spielen. Als die beste
Erwiderung von Schwarz gilt 9. ... Lg4, und nach 10. Lb5 kann man dann zwischen
10. ... Ld7 und 10. ... Kf8 wählen. Jules Arnous Riviere machte einen
natürlichen, aber unglücklichen Zug, der es dem Gegner ermöglichte, einen
weiteren Vorteil eines solchen Zentralbauernpaares, nämlich seine Beweglichkeit
und Dynamik, zur Geltung zu bringen.
In der Tat, solange die Bauern e4 und d4 im Zentrum unbeweglich bleiben,
gewährleisten sie nur eine gewisse lokale Dominanz, an die sich Schwarz anpassen,
und gegen die sich Schwarz möglicherweise behaupten kann. Jeder
der beiden Bauern kann jedoch auch vorrücken, und neue Situationen entstehen
dadurch, in denen Schwarz sich mit neuen Problemen konfrontiert
sieht. Schwarz muß dann dazu in der Lage sein, die entsprechenden Verteidigungsmaßnahmen
aufzufinden und zu ergreifen, was sich als eine wesentlich
schwierigere Aufgabe erweist.
Deshalb ist ein bewegliches Bauernzentrum stets ein gewichtiger Faktor bei
der Einschätzung der Stellungschancen im bevorstehenden Kampf.
9. ... Dd8-f6
10. Sc3-d5 Df6-g6
1 1 . Sd5-f4! Dg6-f6
12. e4-e5!
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
Der Mittelbauer stürmt vorwärts und schafft zugleich eine neue Lage auf
dem Brett, in der Schwarz, anstatt seine Figuren mit Ruhe entwickeln zu können,
den König vor konkreten Drohungen schützen muß. Dies jedoch erweist sich als
sehr schwierig, da sich die allermeisten schwarzen Figuren noch immer untätig
auf ihren Ausgangsfeldern befinden. Unter Ausnutzung seiner Überlegenheit
an den entscheidenden Stellen führt Weiß nun eine typische Operation durch:
Er öffnet das Zentrum, d. h. er räumt es frei von eigenen und fremden Bauern,
um seinen Figuren den nötigen Spielraum zu verschaffen. Bei einem offenen
Zentrum nimmt die Bedeutung der Aktivität der einzelnen Figuren stark zu, und
die besonders vorteilhafte oder unvorteilhafte Stellung der einen oder anderen
Figur auf dem Brett ist dann für die Einschätzung der Situation von immenser
Bedeutung. Es kommt zu einem Tempokampf der Figuren, wo
außerordentliche Genauigkeit beim Manövrieren und energisches Handeln
erforderlich sind.
12. ... d6xe5
13. d4xe5 Df6-f5
Natürlich darf der Bauer e5 nicht geschlagen werden, weil dann nach 13. ...
Se5:? 14. Se5: De5:15. Te1 die schwarze Dame verloren geht. Doch im
anderen Falle geht der e-Bauer eben weiter vorwärts.
14. e5-e6! f7-f6
Schlecht steht es für Schwarz auch im Falle von 14. ... fe6: 15. Se6: Le6:
16. Le6:! Df6 17. Dd7+ Kf8 18. Lb2! (jetzt wird die große Bedeutung der Diagonale
a1 -h8 sichtbar - eben deswegen mußte der Bauer das Feld e5 räumen)
18. ... Db2:19. Df7 matt.
Jetzt jedoch spaltet der Bauer e6 die Stellung von Schwarz in zwei Teile und
hat nun einen nicht geringeren Wert als ein Offizier. Weiß darf nur die Flucht des
schwarzen Königs an den anderen Flügel nicht zulassen.
15. Sf3-h4 Df5-c5
16. Lc1-e3! Dc5-g5
Würde Schwarz 16. ... Dc4: spielen, so entscheidet der Zug 17. Dh5+ die Partie
zugunsten von Weiß.
17. Sh4-f3 Dg5-a5
18. Le3xb6 Da5xb6
19. Sf4-d5 Db6-a5
20. Sf3-d2!
Jetzt sieht sich Schwarz sowohl der Gefahr gegenüber, nach 21. Sb3 nebst
22. Sc7+ den Turm zu verlieren, als auch der nicht weniger ernsthaften
Bedrohung 21. Dd1 -h5+. Allen diesen Drohungen kann Schwarz nicht mehr
wirkungsvoll gegenübertreten. Das weitere Schicksal der Partie ist schon
vorausbestimmt.
20. ... Sc6-d4
21. Sd2-b3 Sd4xb3
22. a2xb3 Da5-c5
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
23. Dd1-h5+ Ke8-d8
Nach 23. ... g6 24. Sf6:+ geht die schwarze Dame verloren.
24. Ta1 -d1
Jetzt gibt es keine Rettung mehr vor den furchtbaren Folgen des Abzugsschachs
(25. Sb6+, der Springer verläßt die d-Linie, und der weiße Turm bietet
dem schwarzen König Schach) und daher gab Schwarz auf.
Zweifellos muß sich jede Partei in irgendeiner Art um Weise um ihre Zentralbauern
kümmern, damit diese günstige Stellungen einnehmen und behaupten
können.
Manchmal bleibt im Zentrum nur jeweils ein Bauer. Dann entstehen neue
Probleme, insbesondere dann, wenn man eine vorgerückte Stellung im Zentrum
einnehmen will. Dies erlaubt es zumeist, die Figuren aktiver einzusetzen und
Überlegenheit gegenüber dem Gegner zu erreichen.
Tigran Petrosjan (UdSSR) - Julius Kozma (CSSR)
München 1958
Sg8-f6
e7-e6
c7-c5
b7-b6?!
1. Sg1-f3
2. d2-d4
3. Lc1-g5
4. e2-e3
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
Die einfache, wenig anspruchsvolle Eröffnung von Weiß hat die Aufmerksamkeit
von Schwarz eingeschläfert und durch einen anscheinend natürlichen
Zug ermöglicht letzterer seinem Gegner, eine vorgerückte Figurenstellung im
Zentrum einzunehmen.
5. d4-d5! e6xd5
6. Sb1-c3 Lc8-b7
7. Sc3xd5! Lb7xd5
8. Lg5xf6 Dd8xf6
9. Dd1xd5
Weiß beherrscht das Feld d5 unangefochten, denn Schwarz gelingt es in
nächster Zeit nicht, die weiße Dame von ihrer starken Position zu vertreiben.
Zugleich sind die Schwächen von Schwarz auf der d-Linie dauerhaft und besorgniserregend.
Der weiße Positionsvorteil wird im weiteren Partieverlauf
großes Gewicht haben.
Versierte Schachspieler starten nie ernsthafte Unternehmungen an den
Flügeln, bevor sie nicht ihre Stellung im Zentrum gesichert haben.
Ohne den notwendigen Zug Se2-c3 einzuschalten, unternimmt Weiß im
nachstehenden Diagramm einen übereilten Bauernsturm am Königsflügel.
An und für sich ist die Unterlassung dieses Zuges durch Weiß nicht einmal so
einfach als Fehler aufzuzeigen, doch wurde im Duell Hans Nogard (Dänemark) -
Wladimir Simagin (UdSSR) - eine Fernpartie aus dem Jahre 1958 -unter Beweis
gestellt, daß diese Unterlassungssünde sich bei präziser schwarzer Spielweise
schnell rächen kann.
Kampf um das Übergewicht im Zentrum
1. ... b7-b5!!
2. c4xb5 d6-d5!!
3. e4xd5 e5-e4!
4. Dd3xe4
Nach 4. fe4: entscheidet 4. ... Se5 die Partie zugunsten des Nachziehenden,
doch auch jetzt ist es um die Aussichten von Weiß nicht gut bestellt.
4. ... Le6xg4
5. De3-f4 Lg4-h5
6. Ke1-f2 Sd7-e5
7. Lf1-g2 Lf8-d6
8. Df4-a4 Ta8-c8!
9. Td1-d2 Dd8-f6
Innerhalb weniger Züge, die durch einen gelungenen schwarzen Gegenschlag
im Zentrum eingeleitet wurden, sind die weißen Verteidigungsformationen,
die so fest erschienen, zusammengebrochen. Das Spiel ging
folgendermaßen zu Ende:
10. Le3-g5 Df6-f5
1 1 . Se2-f4 Lh5xf3
12. Lg2-h3
Im Falle von 12. Lf3: Sf3:13. Kf3: würde 13. ... Tc3+ 14. Kf2 Lc5+15. Kf1 Tf3+
16. Kg2 Dg4+ folgen.
12. .. Lf3-g4
13. Kf2-g2 Tc8-c2
und Weiß gab auf.
Also, liebe Schachfreunde, kämpft um die Zentralfelder und schützt und
behütet das Zentrum.
30
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
5. Lektion
Wie erobert man Raum? — Raumvorteile
Da der Schachkampf auf einem beschränkten Raum, nämlich auf 64 Feldern
des Schachbretts geführt wird, übt die Größe des Raums, das heißt die Anzahl
der Felder, auf denen jeder der beiden Spielpartner seine Figuren ungehindert
aufstellen und bewegen kann, für gewöhnlich einen starken Einfluß auf den
Verlauf des Kampfes aus. Vor Beginn einer Partie beherrschen Weiß und
Schwarz jeweils einen gleich großen Raum. Gewöhnlich verfolgt jeder Zug in
der Eröffnung den Zweck, eine möglichst große Zahl von Feldern, besonders
auf fremden Territorium, zu beherrschen. Die Hauptrolle bei der Eroberung von
Raum spielen die Bauern, die die Figuren des Gegners zurückdrängen und die
Aktionsfreiheit der eigenen Figuren sichern. Der Vormarsch der Bauern muß
jedoch auf jeden Fall von anderen Figuren unterstützt werden, sonst würde das
schutzlose Bauernheer dem Untergang geweiht sein.
Ein erfahrener Schachspieler ist bestrebt, vor allen Dingen den von der c-
Linie und der f-Linie begrenzten mittleren Bereich des Schachbretts zu beherrschen,
denn dort - auf den Zentralfeldern - befinden sich die besten
Stellungen für die Figuren.
Um diese Überlegungen in unserer Lektion anschaulich zu machen, wollen wir
zwei Partien einer gemeinsamen Analyse unterziehen.
Unsere erste Beispielpartie stammt aus dem vorigen Jahrhundert.
Siegbert Tarrasch - Rudolf Charousek
Nürnberg 1896
1. d2-d4 d7-d6
2. e2-e4 Sg8-f6
3. Sb1-c3 g7-g6
4. f2-f4 Lf8-g7
5. Sg1-f3 0-0
6. Lf1-e2
Es sind erst wenige Züge geschehen, doch die Erfolge von Weiß bei der
Eroberung des Zentrumsraums sind bereits groß: Drei seiner Bauern beherrschen
die wichtigsten Felder der fünften Reihe, die zum Territorium des
Gegners gehört. Mit Unterstützung der eigenen Figuren würden sie noch weiter
vorrücken können, wobei sie immer neue Abschnitte des gegnerischen
Territoriums kontrollieren und quasi wie durch einen Zaun abtrennen.
Als eine zuverlässige strategische Methode des Kampfes gegen solche
Bauernketten gilt im modernen Schach ein unverzüglicher und energischer
Gegenangriff der Bauern - meistens mit Unterstützung von Figuren -, der mit
dem Ziel vorgetragen wird, eine weitere Vorwärtsbewegung der Kette zu
verhindern. Danach folgt die Sprengung der stehengebliebenen Bauern, damit
die Kette in einzelne Glieder oder, wie die Schachspieler sagen, »Inseln«
auseinandergerissen werden könnte. Die Variante 6. ... c5! 7. d5 e6 8. 0-0 ed5:
9. ed5: charakterisiert eine derartige Methode am besten.
Charousek, der übrigens durchaus zu den stärksten Schachspielern jener
Zeit zählte, versucht ebenfalls, die weiße Bauernkette zum Stehen zu bringen,
allerdings erfolglos. Er schränkt mit seinem nächsten Zug, der sich als
fehlerhaft erweist, die Bewegungsfreiheit seiner eigenen Figuren ein und -was
die Hauptsache ist - macht die Sprengung des weißen Bauernzentrums
unmöglich.
Nach drei weiteren Zügen wird die Lage von Schwarz äußerst schwierig.
6. ... d6-d5?
7. e4-e5 Sf6-e8
8. Lc1-e3 e7-e6
32
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
Geschützt vom Bauerndreizack d4-e5-f4, verfügen die weißen Figuren über
viele Felder zum Manövrieren und können leicht an jeden Abschnitt des
Schachbretts verlegt werden. Der große deutsche Schachmeister Siegbert
Tarrasch löst das Problem der Realisierung des Vorteils auf eine sehr einfache
Art und Weise. Er startet einen raschen Bauernangriff gegen den Königsflügel.
Seine Bauern sollen für die schweren Figuren Linien öffnen, wobei die auf den
zwei letzten Reihen eingeschlossenen schwarzen Figuren einander nur
behindern und keine Verteidigung aufbauen können. 9. h2-h4!
Eine Grundregel des Schachkampfes lautet »Der Angriff an einem Flügel ist
am besten durch einen Gegenstoß im Zentrum abzuwenden«. Leider hat
Schwarz durch den Zug 6. ... d5 sich dieser Möglichkeit beraubt und sein Untergang
ist nicht mehr zu vermeiden.
9. ... Sb8-c6
10. h4-h5 Sc6-e7
1 1 . g2-g4 f7-f5
12. h5xg6 Se7xg6
13. Le2-d3 h7-h6
14. g4-g5 Kg8-h7
15. Dd1-e2 Tf8-h8
16. De2-g2 c7-c5
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
17. g5xh6
In Anbetracht der Unvermeidlichkeit großer materieller Verluste gab
Schwarz auf.
Die zweite Partie kann die modernen Methoden des Kampfes um die Eroberung
von Raum gut veranschaulichen. Mir ist diese Partie ganz besonders
in Erinnerung geblieben, als mein erster in einem reinen Positionsstil erkämpfter
Sieg, den ich in einem stark besetzten Turnier über einen starken Gegner
errungen habe.
Garri Kasparow - Tamas Georgadse
Minsk 1979
1. e2-e4 e7-e5
2. Sg1-f3 d7-d6
3. Lf1-c4 Lf8-e7
4. d2-d3
Das ist kein Zeichen von Zaghaftigkeit, sondern der Wunsch, die sich nach 4.
d4 ed4: 5. Sd4: ergebenden Eröffnungssysteme zu vermeiden, die mein
Gegner gründlich studiert hat.
4. ... Sg8-f6
5. c2-c3 0-0
6. 0-0 c7-c6
7. Lc4-b3 Lc8-e6
8. Lb3-c2 h7-h6
34
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
9. Tf1-e1 Sb8-d7
10. Sb1-d2 Dd8-c7
Beide Spielpartner manövrieren in aller Ruhe und sind, wie es scheint, damit
gut vorangekommen; doch der Schein trügt. Weiß beginnt als erster, Raum zu
erobern.
1 1 . d3-d4! Tf8-e8
12. h2-h3!
Die Einschränkung der Möglichkeiten des Gegners (jetzt kann der schwarze
Läufer das Feld g4 nicht betreten) ist gleichfalls als eine Eroberung von Raum
zu betrachten.
12. ... Sd7-f8
13. c3-c4! Sf8-g6
14. d4-d5
Schwarz wollte zuvor nicht mittels 13. ... ed4:14. Sd4: Db6 15. S2f3! Lc4: 16.
Sf5 das Zentrum öffnen und die weißen Figuren aktivieren. Nun sieht er sich
genötigt, für die zeitweilige Ruhe auf dem Kampfschauplatz einen Teil seines
Territoriums herzugeben, den der Bauerndreizack c4-d5-e4 ihm jetzt
weggenommen hat. Schwarz hätte lieber 14. ... cd5: spielen sollen, um durch
den Zug ... b5 Raum für Manöver am Damenflügel erobern zu können. Er hingegen
geht zu einer hartnäckigen Verteidigung über, wobei er auf die Stabilität
seiner Stellung und auf seine Verteidigungskunst vertraut.
14. ... Le6-d7
15. Sd2-b1! Le7-f8
16. Sb1-c3 c6-c5?
17. Lc2-a4
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
In einer solchen bedrängten Lage ist jeder Figurenabtausch für Schwarz von
Vorteil, nur nicht dieser. Sein weißfeldriger Läufer verteidigt wichtige Felder
und besitzt die größte Bewegungsfreiheit von allen schwarzen Figuren.
17. ... a7-a6
18. La4xd7 Sf6xd7
19. g2-g3 Lf8-e7
20. h3-h4!
Weiß hat beschlossen, am Königsflügel erst einmal die Strategie der
Einschränkung der Beweglichkeit der schwarzen Figuren zu verfolgen. Mit aller
Gelassenheit bereitet Weiß danach den Hauptangriff am Damenflügel vor.
20. ... Sd7-f6
21. Sf3-h2 Dc7-d7
22. a2-a4 Dd7-h3
23. Dd1-f3 Dh3-d7
24. a4-a5!
Jetzt hat Weiß die Vorhut im Marsch gesetzt, womit die weitere konsequente
Einschnürung des Gegners beginnt. Der weitere Verlauf ist für beide Spieler
offensichtlich, doch kann Schwarz beim besten Willen nichts Aktives mehr
unternehmen.
24. ...Sf8 25. Ld2 Tec8 26. Sf1 Sg4 27. Sa4 Ld8 28.Tec1 Tab8 29. b4!
cb4: 30.Lb4: h5 31.Sb6!
Zunächst könnte man meinen, daß dies eine unlogische Fortsetzung des
weißen Angriffsspiels ist; ohne diesen Zug könnte man doch Druckspiel auf der
b-Linie aufziehen. Die Absichten von Weiß gipfeln aber in der Öffnung der c-
Linie, und in diesen Fall ist es außerordentlich wichtig, über ein Einbruchsfeld
zu verfügen. Das Feld c7 wird sich als ein idealer Brückenkopf für den weißen
Angriff erweisen.
31. ... Lb6: 32. ab6: De7 33. Da3 Td8
Die letzte günstige Gelegenheit zum Widerstand gegen den Vormarsch des
weißen c-Bauern bestand in einen Qualitätsopfer: 33. ...Tc5! 34. Lc5: dc5:.
Weiß würde zwar auch dann einige Gewinnchancen besitzen, doch die
schwarze Verteidigung wäre nicht mehr völlig perspektivlos. Nach dem
Partiezug kann sich der weiße Angriff ungehindert und ganz nach Plan
weiterentwickeln.
34. f3 Sh6 35. c5 dc5:36. Lc5: Df6 37. Kg2 Te8 38. Le3 Sd7 39. Tab1 De7
Wie erobert man Raum? - Raumvorteile
Schwarz überschritt hier die Zeit (Zeitüberschreitung liegt vor, wenn die
geforderte Zügezahl [hier 40 Züge] nicht in der vorgesehenen Bedenkzeit [hier
2 1/2 Stunden] absolviert wird. Zeitüberschreitung wird bekanntlich als
Partieverlust gewertet). Aber auch nach 40. De7: Te7: 41.Tc7 wäre die
schwarze Stellung hoffnungslos.
Also legen Sie Wert auf Raum! Streben Sie danach, möglichst viel
Raum zu erobern, doch verlieren Sie dabei nicht den Kopf, sonst würde
Ihre weit vorgerückte Bauernkette zum Stehen gebracht und zerstört
werden. Durch die darin geschlagenen Breschen würden gegnerische
Figuren eindringen können: dann kann es zu jedem aber eher zu einem
negativen Partieergebnis kommen.
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
6. Lektion
Bauernstrukturen — Bauernaktivitäten
Obwohl die Bauern die kleinste Kampfeinheit sind und die durchschnittlich
geringste Kampfkraft haben, bestimmen sie oft das Tempo und den Ausgang
eines Schachkampfes. Wenn einer der beiden Spielpartner zwei oder drei
Bauern mehr hat, reicht das in den meisten Fällen für den Sieg. Komplizierter
ist die Situation, wenn die Zahl der Bauern auf beiden Seiten gleich ist. Dann
wird die Stellung in vielen Fällen durch die Anordnung der Bauern bestimmt.
Vor Beginn des Schachkampfes bilden die in Reihe angetretenen Bauern
der beiden Partner zwei Linien. Indem sie vorrücken und einander unterstützen,
begrenzen sie die Aktivität der gegnerischen Figuren. Um eine bewegliche,
flexible Kette von einander schützenden Bauern zu bekommen, nehmen
erfahrene Spieler oft sogar materielle Opfer auf sich.
Tigran Petrosjan (UdSSR) - Pfeiffer (BRD)
1960
In der Diagrammstellung folgte:
1. Sc3-d5!! e6xd5
2. c4xd5
Jetzt entscheiden die beiden verbundenen Bauern d5 und e5 den Ausgang
des Kampfes.
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
2. ... Dc7-c8
3. e5-e6! 0-0
4. Dc2-c3 f7-f6
5. d5-d6 Sc5-a4
Der Alternativzug 5. ... De6: geht nicht, weil dann 6. Lc4 folgen würde, wonach
Schwarz seine Dame einbüßt (aufgrund der Diagonalfesselung c4-g8).
6. Dc3xcS Tf8xc8
7. Lb2-a1 Tc8-c2
8. d6xe7 Tc2xe2
9. Td1-d8+ Kg8-g7
10. Tf1-c1
Es wäre ein Fehler, den Bauern e7 sofort in eine Dame umzuwandeln, denn es
könnte 10. ... Tg2:+!! 11. Kh1 Tg3 folgen, und Weiß wird überraschenderweise
matt gesetzt.
10. ... Te2xe6
1 1 . Tc1-c7
Jetzt droht 12. e8D+.
1 1 . ... Kg7-h6
12. La1xf6,
und Schwarz gab auf.
Wie kann man mit solch einer gefährlichen Bauernkette fertig werden? Das
radikale Gegenmittel liegt auf der Hand. Es ist die Vernichtung der Bauernkette
und wenn dies nicht gelingt, so doch wenigstens ihre Unterbrechung,
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
d.h. die Vernichtung ihres mittleren Gliedes. Mit anderen Worten: Man muß
darum bemüht sein, die Kette in einzelne Teile aufzulösen, d. h. es sollen Bauerninseln
entstehen, die sich dann nicht mehr gegenseitig zu schützen vermögen.
Die wirksamste Art der Bekämpfung einer beweglichen Bauernkette ist jedoch
oft auch die Einschränkung ihrer Beweglichkeit, d.h. ihre Blockade. Diese
Blockade bedeutet die Besetzung oder Beherrschung der Felder vor den
Bauern. So ist etwa ein weißer Läufer auf der Diagonale a1 -h8 imstande, die
Kette der Bauern c4, d5, e6 zurückzuhalten (keiner der schwarzen Bauern kann
vorziehen, ohne das Risiko einzugehen, geschlagen zu werden). Wenn aber
der Vorstoß dieser schwarzen Bauernkette etwa von einem Springer auf dem
Feld c6 unterstützt würde, so wäre der weiße Läufer allein schon nicht mehr in
der Lage, den Vormarsch der Bauern aufzuhalten.
Die beste Art der Blockade ist das Aufhalten der Bauern durch eigene Bauern.
Wenn man die schwarzen Bauern c4, d5 und e6 nicht durch einen Läufer
behindert, sondern drei weiße Bauern auf die Felder c3, d4 und e5 stellt, so
entsteht ein unüberwindliches Hindernis.
In den modernen Schachpartien sind die Spielpartner bestrebt, bereits zu
Beginn des Kampfes die Beweglichkeit der Bauernketten einzuschränken, wie
das beispielsweise bei folgender Eröffnungsart der Fall ist:
1. d2-d4 Sg8-f6
2. c2-c4 e7-e6
3. Sb1-c3 Lf8-b4
4. e2-e3 c7-c5
5- Lf1 -d3 Sb8-c6
6. Sg1-f3 Lb4xc3+
7. b2xc3 d7-d6
8. e3-e4 e6-e5
9. d4-d5 Sc6-e7
Wie man sieht, setzt Schwarz der Bauernkette c4, d4 und e4 den Zweizack c5
und e5 mit dem Bauern d6 als Basis entgegen. Das erweist sich als ausreichend,
um die Lage im Zentrum zu stabilisieren. Aber nicht alle Schachspieler streben
nach einer derartig gründlichen Einschränkung der Bauernaktivi-tät. Der Elan
einer Bauernkette bietet gute Möglichkeiten zur Führung eines
kombinationsreichen Kampfes, was in gleichem Maße gefährlich und attraktiv
ist, besonders wenn die Partner ein offenes Spiel bevorzugen. Eine unbewegliche
blockierte Bauernkette ist dagegen oft ein prädestinierender Faktor
für eine langsame und ruhige Abwicklung der Partie.
Dem Leser werden in der Schachliteratur und in Kommentaren zu Schachpartien
sicherlich die Begriffe »schwacher Bauer«, »isolierter Bauer« usw.
aufgefallen sein. Jeder dieser Begriffe bezeichnet eine Unzulänglichkeit in
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
der Bauernstruktur. Dadurch wird die Beweglichkeit der Bauern eingeschränkt
und ihre Verwundbarkeit erhöht.
Hier zunächst ein ganz einfaches Beispiel dafür:
Trotz der momentanen Blockade durch den schwarzen König auf der b-Linie
kann der Weiße, wenn er richtig spielt, den Bauern schützen und ihn
letztendlich sogar zur Umwandlung bringen (wie dies im einzelnen zu geschehen
hat, zeigt die elementare Endspiellehre, zu der wir in späteren Kapiteln
übergehen werden). Man braucht aber nur den weißen König zum Beispiel auf
das Feld h3 umzusetzen (oder auf ein anderes weit entferntes Feld), und schon
verwandelt sich der starke Bauer in einen schwachen, weil er vom schwarzen
König angegriffen und erobert werden kann.
Als eine andere häufige Unzulänglichkeit in der Bauernstruktur gelten ein
»Doppelbauer« oder ein »Tripelbauer« (zwei oder gar drei Bauern der gleichen
Farbe, die vor- bzw. hintereinander auf einer Linie stehen). Freiwillig läßt man sie
selten in Linie antreten. Sie sind nicht leicht zu verteidigen, insbesondere im
Endspiel, wo sie ernsthafte Schwierigkeiten bereiten können. Es gibt aber
bekanntlich im Schach keine Regel ohne Ausnahme. Ich möchte Sie hier mit
einem effektvollen Schluß einer Partie bekannt machen, die vor ca. 50 Jahren
von den spanischen Meistern Ortueta und Sanz gespielt wurde.
Zunächst die Hauptvariante - danach die näheren Erläuterungen zu den
tiefgründigen Spielzügen:
1. ... Td8-d2
2. Sc3-a4 Td2xb2
3. Sa4xb2 c4-c3
4. Tb7xb6 c5-c4!!
5. Tb6xb4 a7-a5!!
Nach den klaren Zügen 1. ... Td2 2. Sa4 geschehen wahre Wunder auf dem
Brett. 2. ... Tb2:. Es zeigt sich, daß die Schwächen des Bauernaufbaus (be-
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
Bauernstrukturen - Bauernaktivitäten
trachten sie sich die schwarzen Bauern) durch ein besonders einfallsreiches
Spiel mitunter wettgemacht werden können. Ohne zwingenden Grund gibt
Schwarz einen ganzen Turm her. 3. Sb2: c3. Es stellt sich heraus, daß nach
4. Sd3 c4+ der schlafende schwarze Läufer plötzlich zum Einsatz kommt und die
Entscheidung herbeiführt: 5. Tb6: cd3:! 6. Kf2 c2 7. Tc6 d2, und der Freibauer
wird in eine Dame umgewandelt. 4. Tb6:!. Auf das natürliche 4. ... ab6: folgt 5.
Sd3 und Weiß behält seine Mehrfigur, die zum Sieg reicht.
Schwarz kommt nun aber zum eigentlichen Höhepunkt seines Kombinationsspiels
und führt den Stoß: 4. ... c4!! aus. Jetzt ist das Feld d3 für den
Springer tabu und nach 5. ... Sc4: wird der c-Bauer in eine Dame umgewandelt.
Können zwei Figuren mit den zwei Bauernkrüppeln, die die c-Linie entlanghinken
denn wirklich nicht fertig werden? 5. Tb4. Es sieht so aus, als ob
Weiß jetzt siegen würde, denn gegen das drohende 6. Tc4: scheint es keine
Verteidigung zu geben. 5. ... a5!!. Eine echte Hymne für die Bauern. Der fast
vergessene Bauer, der zuvor den Turm nicht geschlagen hat, entscheidet
durch seinen auf den ersten Blick unvorstellbaren Sprung den Kampf. Jetzt
folgt auf 6. Tc4: das entscheidende 6. ... cb2:, wonach das Feld b4 für den
Turm unzugänglich ist, sodaß der b2-Bauer zur Umwandlung gelangt. Auf 6.
Sc4: würde 6. ... c2 folgen, und der Bauer wird ebenfalls zur Dame umgewandelt.
Ein erstaunlich schöner Schluß!
Mit diesem Beispiel beenden wir unsere kurze Bekanntschaft mit den
Besonderheiten des Bauernaufbaus. In den weiterführenden Schachlehrbüchern
können Sie ausführlichere Erläuterungen zu den hier erwähnten Fachbegriffen
finden.
Den Anfängern und allen Schachfreunden mit wenig Spielerfahrung
möchte ich empfehlen, sich an die bekannten Prinzipien der Aufstellung
und Festlegung einer Bauernkette zu halten und unnötige Schwächen
weitmöglichst zu vermeiden. Routiniers und versierte Schachmeister
kennen die Ausnahmen von den Regeln. Gerade durch diese Ausnahmen
wird das Schachspiel erst so schön und abwechslungsreich.
Aktivität und Koordination der Figuren
7. Lektion
Aktivität und Koordination der Figuren
Die Gesetze des Schachkampfes sind ähnlich den Gesetzen des Kampfes in
jeder Sportart, aber auch nicht nur im Sport: Erfolg hat derjenige, der aktiver ist,
geschickter handelt und die Mittel, die er zur Hand hat, besser einzusetzen
versteht.
Was ist nun unter Aktivität im Schachkampf genau zu verstehen? Meines
Erachtens ist es das Bestreben, durch jeden Zug die Position der eigenen Figuren
zu verstärken und zugleich die gegnerischen Figuren zu bedrohen bzw.
zurückzudrängen. Damit aber die aktiven Handlungen, die sich in den
ausgeführten Schachzügen ausdrücken, den Erfolg sichern können, müssen sie
den allgemeinen Gesetzen des Schachspiels entsprechen und sich auf ein
festes strategisches Fundament gründen.
Der Schachmeister, der hinsichtlich seines Stils als ein »aktiver Spieler« gilt,
ist meist bestrebt, bereits durch die ersten Züge dem Gegner seine Art und
Weise der Kampfführung aufzuzwingen, um ihm dadurch sogleich schwierige
Probleme verschiedenster Art zu bereiten.
Damit der Leser die Grundsätze der Aktivierung und des Zusammenwirkens
der Figuren besser verstehen kann, wollen wir hier eine von Ex-Weltmeister
Anatoli Karpow* gespielte Partie analysieren, die in dieser Hinsicht beispielhaft
sein kann.
* Anatoli Karpow war von 1975 bis 1985 Schachweltmeister. Im Titelkampf im
Herbst 1985 wurde er bekanntlich von Garri Kasparow mit 13:11 besiegt und
mußte den Schachthron seinem Nachfolger überlassen.
Anatoli Karpow - Jossif Dorfman
Moskau 1976
1. e2-e4 c7-c5
2. Sg1-f3 d7-d6
3. d2-d4 c5xd4
4. Sf3xd4 Sg8-f6
5. Sb1-c3 e7-e6
6. g2-g4 Lf8-e7
7. g4-g5 Sf6-d7
8. h2-h4
Nun kann man die erste Zwischenbilanz der Eröffnung ziehen. Durch seine
Aktivitäten am Königsflügel hat Weiß die gegnerischen Figuren auf die zwei
letzten Reihen zurückgedrängt, wobei der Springer auf dem Feld 67 dem eigenen
Läufer auf c8 und in gewissem Grade auch der Dame den Weg verlegt.
Aktivität und Koordination der Figuren
8. ... Sb8-c6
9. Lc1-e3 a7-a6
10. Dd1-e2!
Ein sehr interessanter und aktiver Plan, der die harmonische Entfaltung der
Figuren erleichtern soll. Karpow setzt die Dame auf die e-Linie, wo sie dem
Turm, der nach d1 gebracht werden soll, nicht im Wege steht; zudem werden
zukünftige Kombinationsmotive damit bereits vorbereitet. Die Dame behindert
auch den Läufer f1 nicht, da dieser ohnehin die Absicht hat, das Feld h3 zu
betreten, mit der folgenden Opferdrohung Le6:. Wie man sieht, ist jeder Zug
von Weiß energisch und verstärkt das Angriffspotential.
10. ... Dd8-c7
1 1 . 0-0-0 b7-b5
Diese Gegenaktivität erfolgt notgedrungen. Schwarz ist bereits in vielen
Frontabschnitten zurückgedrängt worden und muß nun versuchen, ein Gegenspiel
am Damenflügel zu starten, um Weiß von der Vorbereitung der entscheidenden
Offensive abzuhalten. Schwarz bleibt in der Figurenentwicklung
aber offensichtlich zurück, so daß sein letzter Zug eher ein Zeichen der
Verzweiflung als ein Element einer begründeten Aktivität ist.
12. Sd4xc6 Dc7xc6
13. Le3-d4!
Dies ist ein für Schwarz sehr unangenehmer Zug, da das natürliche 13. ... 0-
0 wegen des Ansturms der weißen Bauern rasch verliert, während im Falle von
13. ... e5 im Lager von Schwarz eine äußerst empfindliche Schwachstelle -
das Feld d5 - entstehen würde.
14. ... b5-b4
Schwarz versucht zuerst, den Springer vom Feld c3 abzudrängen, um dann
e6-e5 zu ziehen. Er ist konsequent bei der Verwirklichung seines Gegenangriffsplanes,
doch dessen strategische Basis ist leider schwach - eine
schlechte Figurenentwicklung und zudem ungünstig stehende Figuren. Wie
kann man nun diesen Schwächen ausnutzen?
14. Sc3-d5!
Das ist der aktivste Zug. Jetzt erlangt der Läufer auf d4 eine gefährliche
Kraft und - für Schwarz unerwartet - tritt die weiße Dame in Aktion.
14. ... e6xd5
15. Ld4xg7 Th8-g8
16. e4xd5 Dc6-c7
17. Lg7-f6
Für einen Springer hat Weiß zwei Bauern bekommen und gute Perpektiven
für einen Angriff auf den im Zentrum steckengebliebenen schwarzen König.
17. ... Sd7-e5!
Das ist die einzige Möglichkeit, die Stellung zu halten. Da 18. ... Lg4 droht,
hat Weiß keine Zeit für 18. f4. Nun muß er es in Kauf nehmen, daß sein
Angriffspotential durch Abtausch reduziert wird.
18. Lf6xe5 d6xe5
19. f2-f4
An die Stelle eines Figurenangriffs tritt jetzt ein Bauernsturm. Schwarz hat
keine Möglichkeit, die Entstehung eines starken weißen Bauernpaares zu
verhindern, denn nach 17.... e4 gewinnt 18. d6 Ld6:19. De4:+ usw.
19. ... Lc8-f5
20. Lf1-h3
Das Bestreben, das Gegenspiel des Kontrahenten maximal einzuschränken,
ist für die Spielweise von Anatoli Karpow sehr typisch. Weiß hätte durch
20. fe5: auch gleich schlagen können, ohne 20. ... Tc8 zu befürchten, wegen
21. Th2 Da5 22. Da6: Da6: 23. La6:. Karpow läßt es auf den Abtausch seiner
letzten Leichtfigur ankommen, beseitigt aber die Gefahr für das Feld c2.
20. ... Lf5xh3
Aktivität und Koordination der Figuren
Aktivität und Koordination der Figuren
21. Th1xh3 Ta8-c8
22. f4xe5
Meiner Meinung nach war das von Karpow angegebene 22. b3 e4 23. De4:
Kf8 24. f5, wodurch man verhindern kann, daß die schwarze Dame zum Einsatz
kommt, noch stärker. 22. ... Dc6-c4!
Schwarz setzt die Dame in eine aktive Position, und die Waage der Spielchancen
beginnt sofort zu schwanken.
23. Td1-d3
Die Manöver der Türme auf der dritten Reihe gehören zu den strategischen
Lieblingsmotiven des Weltmeisters. Dieser Zug kommt hier nicht nur einem
Damentausch zuvor, sondern er dient auch der Verbesserung des Zusammenwirkens
der weißen Figuren. Das Zusammenspiel der Figuren ist ein
wichtiger Faktor, der die Spielstärke eines Schachspielers in besonderer Weise
ausmacht: die Fähigkeit, die Züge jeder Figur so zu koordinieren, daß sie alle
zusammen zur Realisierung eines einheitlichen Vorhabens wirksam werden
und sich dabei gleichzeitig auch noch schützen können. Diese Spielweise ist
eine große Kunst und ein Merkmal einer hohen Spielstärke.
Auch hier sind die beiden Türme, die auf der dritten Reihe stehen, bereit, den
Vormarsch des zentralen Bauernpaares zu unterstützen, während die Dame
das Feld c2 schützt und den Türmen zu Hilfe eilen kann. Die durch die eigenen
Figuren geschützte Bauernformation d5 und e5 stellt eine gefährliche Kraft dar.
In der Regel sind solche Ketten imstande, die gegnerischen Figuren auf die
hintersten Reihen zurückzudrängen und deren Handlungen völlig zu
desorganisieren.
23. ... Dc4-f4+
Dies ist die beste Erwiderung. Nach 23. ... Da2: würde 24. d6! folgen.
24. Kc1-b1 Tc8-c4!
25. d5-d6 Tc4-e4!
26. Th3-e3
Nun muß ein weiteres Figurenpaar a