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Ein Albtraum von Nationalismus und Orthodoxie
Wer glaubt, in Griechenland, der Ukraine oder auf dem Balkan würden blühende Bürgergesellschaften entstehen, verkennt die Realität. Dort prägen immer noch antiwestliche Traditionen die Mentalität.
Die griechisch-orthodoxe Kirche bedient sich noch immer der imperialen Symbolik des Byzantinischen Reiches. Noch heute ist sie der größte Landbesitzer Griechenlands und erfreut sich zahlreicher Privilegien
Es ist gerade einmal ein gutes halbes Jahr her, da wurden die Geschichte und ihre Lehren beschworen wie selten. 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gedachten Europa und die Welt der vielzitierten "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts und mahnten die Nachgeborenen, aus ihr zu lernen: dass Kriege keine Lösungen sind und Ratio und Bürgersinn allemal Fanatismus und Großmannssucht vorzuziehen seien.
Zur gleichen Zeit tobte in der Ukraine ein Bürgerkrieg, in dem mit Russland einer der Hauptakteure von 1914 einen entscheidenden Anteil hat. In Griechenland verschliss sich eine Regierung im Kampf gegen Korruption, Klientelegoismen und Reformverweigerung. Und mit Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und dem Kosovo entpuppten sich europäische Staaten als die größten Absender von Flüchtlingen.
Wenn Europa aus den pathetischen Gedenkfeiern von 2014 etwas lernen konnte, dann doch vor allem, dass es so ungleich ist wie 100 Jahre zuvor. Und dass die Schnittstelle zwischen beiden Teilen ungefähr mit jener Bruchlinie identisch ist, an der 1914 der Konflikt ausbrach. Natürlich haben wir uns daran gewöhnt, das Attentat von Sarajevo nur als Auslöser und nicht als Ursache des Krieges zu sehen. Aber offenbar haben wir darüber die Frage verdrängt, warum es ausgerechnet der Balkan war, der das Pulver zur Explosion brachte, und nicht die Zabern-Affäre im Elsass, der Ausbau der englischen Kreuzerflotte oder die strategische Ausrichtung des russischen Eisenbahnnetzes.
Irgendetwas ist offenbar immer noch anders östlich der Linie, die sich von Narva am Finnischen Meerbusen bis Dubrovnik an der Adria zieht. Da gibt es mit Weißrussland die letzte Diktatur Europas und mit Russland sein größtes autoritäres Regime, da entstanden mit der Ukraine oder Moldawien Staaten von ausgewiesener Künstlichkeit, da kann man mit der Krim oder Transnistrien halbkoloniale Gebilde bestaunen, die an die Protektorate früherer Zeiten erinnern, und da musste Europavor 20 Jahren in Srebrenica feststellen, dass der Begriff des Völkermords mit Auschwitz keineswegs Geschichte geworden ist. Auch der Krieg, der gegenwärtig in der Ukraine tobt, hat mehr mit der Realität des 18. und 19. Jahrhunderts in Südosteuropa zu tun als mit dem Traum von einer friedlichen Bürgergesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Der Traum ist auch in Griechenland zum Albtraum geworden. Als vor 35 Jahren die Politiker Europas sich an seine erste große Erweiterung machten, wurde das Land wie selbstverständlich aufgenommen. Den großenteils noch humanistisch gebildeten Akteuren erschien sein Beitritt geradezu als Garant einer glücklichen Zukunft, ruhte nach ihrem Dafürhalten doch das europäische Experiment auf der griechischen Erfindung der Demokratie.
Gleichwohl musste der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in seinen Memoiren rückblickend erkennen, dass es "nicht immer leicht ist, die Probleme und Wege der griechischen Innenpolitik zu verstehen". Er war kein Einzelfall. Es hat wirklich lange gedauert, bis Europa begriffen hat, dass das Griechenland der Gegenwart mit den Hellenen der Antike nur den Namen gemein hat.
Er war kein Einzelfall. Es hat wirklich lange gedauert, bis Europa begriffen hat, dass das Griechenland der Gegenwart mit den Hellenen der Antike nur den Namen gemein hat.
Nationalismus und Orthodoxie
Hinter der Jovialität, die Alexis Tsipras und sein Finanzminister Janis Varoufakis gekonnt zur Schau stellen, verbirgt sich eben nicht eine geläuterte politische Kultur, die auf zeitgemäßen Institutionen und Normen ruht. Sondern noch immer prägen Charakteristika des frühen 19. Jahrhunderts – Antipluralismus, Regionalismus, Klientelwirtschaft, Improvisation, Personenzentriertheit – die griechische Gesellschaft. Die Ergebnisse sind ein ebenso monströser wie ineffektiver öffentlicher Dienst, dessen Mitglieder ihre Stellen als Pfründe verstehen und der in 188 Jahren weder eine funktionierende Steuerverwaltung noch einen Kataster aufbauen konnte.
Damit steht Griechenland keineswegs allein. Die jugoslawischen Nachfolgestaaten sowie die postsowjetischen Regime Bulgariens und Rumäniens sowie Albanien sind von ähnlichen Strukturen durchzogen. Sie bieten schockierende Beispiele für das Beharrungsvermögen von Mentalitäten und ihren sozialen Begründungen. Das wirft einmal mehr die Frage auf, woher viele ahnungslose Zeitgenossen im Westen den Optimismus hernehmen, dort seien kraftvolle Bürgergesellschaften im Blühen begriffen.
Stattdessen erstarken unter den Bedingungen der permanenten Krise zwei historische Erbstücke. Die eine ist der Nationalismus, die andere die Orthodoxie. Initialzündung der radikalen Nationalismen Südosteuropas war eben nicht das allgemeine Bekenntnis zu einem Gemeinwesen und seinen Werten, wie es die Französische Revolution vorlebte, sondern der Kampf gegen die multinationalen Imperien der Osmanen und Habsburger. Welche Fahrt diese antietatistische Stoßrichtung wieder aufnimmt, zeigt sich am Wahlsieg der Parteien Syriza und Anel, deren einziger gemeinsamer Nenner die Ablehnung der bisherigen Ordnung ist.
Die Erosion der staatlichen Institutionen spülte eine Macht frei, die als Gegenbewegung zur westlichen Globalisierung in vielen Teilen der Welt erstarkt: die Religion. In Griechenland ist die orthodoxe Kirche noch immer der größte Landbesitzer und mit umfangreichen Steuerprivilegien ausgestattet, und es sieht nicht so aus, als würde die Links-rechts-Regierung daran etwas ändern wollen.
Was die Orthodoxie für den Balkanbedeutet, zeigt ein Blick auf die Nationalitätenkämpfe des 19. Jahrhunderts. Als Grieche galt, wer der orthodoxen Kirche angehörte, egal, welcher Sprache er sich bediente. In diesem Sinn wurden Hunderttausende bei dem Bevölkerungsaustausch nach den Balkankriegen vertrieben. Nicht die Zugehörigkeit zu einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft definiert die Nationalität, sondern die Religion.
Samuel Huntington hat mit erstaunlicher Hellsichtigkeit in seinem Buch "Clash of Civilisations" den slawisch-orthodoxen Kulturraum vom westlichen geschieden. Die mystisch-spirituelle Grundierung der Orthodoxie, die in krassem Gegensatz zum römisch-katholischen "bete und arbeite" steht und die nie über die Barmherzigkeit zur Solidarität gefunden hat, gibt ihm dabei ebenso recht wie der Cäsaropapismus weltlicher Herrscher, dem sich die Ostkirche seit 1700 Jahren unterwirft.
Nationalismus und Religion erstarken in weiten Teilen Südosteuropas umso mehr, je rasanter der Staat an Autorität verliert. Das aber wirft die Frage auf: Was folgt dann? Das ukrainische Exempel lässt das Schlimmste befürchten
Quelle: Die Welt
Wer glaubt, in Griechenland, der Ukraine oder auf dem Balkan würden blühende Bürgergesellschaften entstehen, verkennt die Realität. Dort prägen immer noch antiwestliche Traditionen die Mentalität.
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Die griechisch-orthodoxe Kirche bedient sich noch immer der imperialen Symbolik des Byzantinischen Reiches. Noch heute ist sie der größte Landbesitzer Griechenlands und erfreut sich zahlreicher Privilegien
Es ist gerade einmal ein gutes halbes Jahr her, da wurden die Geschichte und ihre Lehren beschworen wie selten. 100 Jahre nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs gedachten Europa und die Welt der vielzitierten "Urkatastrophe" des 20. Jahrhunderts und mahnten die Nachgeborenen, aus ihr zu lernen: dass Kriege keine Lösungen sind und Ratio und Bürgersinn allemal Fanatismus und Großmannssucht vorzuziehen seien.
Zur gleichen Zeit tobte in der Ukraine ein Bürgerkrieg, in dem mit Russland einer der Hauptakteure von 1914 einen entscheidenden Anteil hat. In Griechenland verschliss sich eine Regierung im Kampf gegen Korruption, Klientelegoismen und Reformverweigerung. Und mit Serbien, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Albanien und dem Kosovo entpuppten sich europäische Staaten als die größten Absender von Flüchtlingen.
Wenn Europa aus den pathetischen Gedenkfeiern von 2014 etwas lernen konnte, dann doch vor allem, dass es so ungleich ist wie 100 Jahre zuvor. Und dass die Schnittstelle zwischen beiden Teilen ungefähr mit jener Bruchlinie identisch ist, an der 1914 der Konflikt ausbrach. Natürlich haben wir uns daran gewöhnt, das Attentat von Sarajevo nur als Auslöser und nicht als Ursache des Krieges zu sehen. Aber offenbar haben wir darüber die Frage verdrängt, warum es ausgerechnet der Balkan war, der das Pulver zur Explosion brachte, und nicht die Zabern-Affäre im Elsass, der Ausbau der englischen Kreuzerflotte oder die strategische Ausrichtung des russischen Eisenbahnnetzes.

Das Griechenland der Gegenwart hat mit den Hellenen der Antike nur den Namen gemein

Irgendetwas ist offenbar immer noch anders östlich der Linie, die sich von Narva am Finnischen Meerbusen bis Dubrovnik an der Adria zieht. Da gibt es mit Weißrussland die letzte Diktatur Europas und mit Russland sein größtes autoritäres Regime, da entstanden mit der Ukraine oder Moldawien Staaten von ausgewiesener Künstlichkeit, da kann man mit der Krim oder Transnistrien halbkoloniale Gebilde bestaunen, die an die Protektorate früherer Zeiten erinnern, und da musste Europavor 20 Jahren in Srebrenica feststellen, dass der Begriff des Völkermords mit Auschwitz keineswegs Geschichte geworden ist. Auch der Krieg, der gegenwärtig in der Ukraine tobt, hat mehr mit der Realität des 18. und 19. Jahrhunderts in Südosteuropa zu tun als mit dem Traum von einer friedlichen Bürgergesellschaft des 21. Jahrhunderts.
Der Traum ist auch in Griechenland zum Albtraum geworden. Als vor 35 Jahren die Politiker Europas sich an seine erste große Erweiterung machten, wurde das Land wie selbstverständlich aufgenommen. Den großenteils noch humanistisch gebildeten Akteuren erschien sein Beitritt geradezu als Garant einer glücklichen Zukunft, ruhte nach ihrem Dafürhalten doch das europäische Experiment auf der griechischen Erfindung der Demokratie.
Gleichwohl musste der damalige Außenminister Hans-Dietrich Genscher in seinen Memoiren rückblickend erkennen, dass es "nicht immer leicht ist, die Probleme und Wege der griechischen Innenpolitik zu verstehen". Er war kein Einzelfall. Es hat wirklich lange gedauert, bis Europa begriffen hat, dass das Griechenland der Gegenwart mit den Hellenen der Antike nur den Namen gemein hat.
Er war kein Einzelfall. Es hat wirklich lange gedauert, bis Europa begriffen hat, dass das Griechenland der Gegenwart mit den Hellenen der Antike nur den Namen gemein hat.
Nationalismus und Orthodoxie
Hinter der Jovialität, die Alexis Tsipras und sein Finanzminister Janis Varoufakis gekonnt zur Schau stellen, verbirgt sich eben nicht eine geläuterte politische Kultur, die auf zeitgemäßen Institutionen und Normen ruht. Sondern noch immer prägen Charakteristika des frühen 19. Jahrhunderts – Antipluralismus, Regionalismus, Klientelwirtschaft, Improvisation, Personenzentriertheit – die griechische Gesellschaft. Die Ergebnisse sind ein ebenso monströser wie ineffektiver öffentlicher Dienst, dessen Mitglieder ihre Stellen als Pfründe verstehen und der in 188 Jahren weder eine funktionierende Steuerverwaltung noch einen Kataster aufbauen konnte.
Damit steht Griechenland keineswegs allein. Die jugoslawischen Nachfolgestaaten sowie die postsowjetischen Regime Bulgariens und Rumäniens sowie Albanien sind von ähnlichen Strukturen durchzogen. Sie bieten schockierende Beispiele für das Beharrungsvermögen von Mentalitäten und ihren sozialen Begründungen. Das wirft einmal mehr die Frage auf, woher viele ahnungslose Zeitgenossen im Westen den Optimismus hernehmen, dort seien kraftvolle Bürgergesellschaften im Blühen begriffen.
Stattdessen erstarken unter den Bedingungen der permanenten Krise zwei historische Erbstücke. Die eine ist der Nationalismus, die andere die Orthodoxie. Initialzündung der radikalen Nationalismen Südosteuropas war eben nicht das allgemeine Bekenntnis zu einem Gemeinwesen und seinen Werten, wie es die Französische Revolution vorlebte, sondern der Kampf gegen die multinationalen Imperien der Osmanen und Habsburger. Welche Fahrt diese antietatistische Stoßrichtung wieder aufnimmt, zeigt sich am Wahlsieg der Parteien Syriza und Anel, deren einziger gemeinsamer Nenner die Ablehnung der bisherigen Ordnung ist.

Foto: picture-alliance / akg-images
Cäsaropapismus: Im Gegensatz zu jenen im Westen verfügten die Herrscher in der orthodoxen Welt über die Richtlinienkompetenz selbst in religiösen Fragen. Hier ist es Kaiser Johannes VI. (1341–1354)Die Erosion der staatlichen Institutionen spülte eine Macht frei, die als Gegenbewegung zur westlichen Globalisierung in vielen Teilen der Welt erstarkt: die Religion. In Griechenland ist die orthodoxe Kirche noch immer der größte Landbesitzer und mit umfangreichen Steuerprivilegien ausgestattet, und es sieht nicht so aus, als würde die Links-rechts-Regierung daran etwas ändern wollen.
Was die Orthodoxie für den Balkanbedeutet, zeigt ein Blick auf die Nationalitätenkämpfe des 19. Jahrhunderts. Als Grieche galt, wer der orthodoxen Kirche angehörte, egal, welcher Sprache er sich bediente. In diesem Sinn wurden Hunderttausende bei dem Bevölkerungsaustausch nach den Balkankriegen vertrieben. Nicht die Zugehörigkeit zu einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft definiert die Nationalität, sondern die Religion.
Samuel Huntington hat mit erstaunlicher Hellsichtigkeit in seinem Buch "Clash of Civilisations" den slawisch-orthodoxen Kulturraum vom westlichen geschieden. Die mystisch-spirituelle Grundierung der Orthodoxie, die in krassem Gegensatz zum römisch-katholischen "bete und arbeite" steht und die nie über die Barmherzigkeit zur Solidarität gefunden hat, gibt ihm dabei ebenso recht wie der Cäsaropapismus weltlicher Herrscher, dem sich die Ostkirche seit 1700 Jahren unterwirft.
Nationalismus und Religion erstarken in weiten Teilen Südosteuropas umso mehr, je rasanter der Staat an Autorität verliert. Das aber wirft die Frage auf: Was folgt dann? Das ukrainische Exempel lässt das Schlimmste befürchten
Quelle: Die Welt
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