Meinung 22.12.12Ungarn
Identität gesucht, Antisemitismus gefunden
Ungarns Antisemitismus verdankt sich der mangelnden Aufarbeitung der faschistoiden Vergangenheit.
Er ist Ausdruck einer Identitätskrise, die mit den Nachwehen der Wende das gesamte Land erfasst hat.
Von Boris Kálnoky
Foto: picture alliance / dpa Rechtsextreme der "Ungarischen Garde" marschieren auf dem Hősök tere, dem Heldenplatz in Budapest auf
Irgendwo in Budapest sucht ein Mann nach sich selbst. Es ist Csanád Szegedi – Mitgründer der rechtsextremen "Ungarischen Garde", einst Vizepräsident der faschistoiden Jobbik-Partei und vehementer Verbal-Antisemit.
Bis herauskam, dass er selbst jüdischer Herkunft ist. Seine Familie hatte es ihm nicht gesagt. Nun marschiert seine alte Miliz drohend vor seinem eigenen Haus herum. Und er tut das, was er vorher auch tat: Er versucht, ein ganzer, fest verankerter Mensch zu sein, nur diesmal als Jude.
Er trifft sich mit dem Budapester Oberrabbiner Slomo Köves, stellt sich den Fragen der jüdischen Gemeinde und fordert als nunmehr unabhängiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments mehr Verständnis für Israel. Ein Jahr lang will er keine Interviews geben. So viel Zeit gibt er sich, um sich selbst zu finden.
Ein Land ohne wirtschaftliche Perspektive
Seine Geschichte ist Symptom einer tiefen Identitätskrise Ungarns. Denn der neue ungarische Antisemitismus ist Ausdruck einer Identitätskrise. Es ist ja nicht nur Szegedi.
Jobbik-Chef Gabor Vona ließ seinen Nachnamen ändern, einst hieß er nach dem Namen seines Adoptivvaters Zázrivecz, was weniger ungarisch klingt und einen Teil seiner Anhänger beunruhigt fragen ließ, ob da nicht etwas Jüdisches wäre. Mit dem Namenswechsel wollte auch Vona sich eine festere Identität geben.
Ungarn, als Gesellschaft, ist auch auf der Suche nach Halt und Identität. Mit einiger Verspätung, könnte man sagen, denn der Systemwechsel liegt mehr als 20 Jahre zurück. Davor war man Ostblock, wollte aber raus.
Nach Europa, in die Freiheit, in den Wohlstand. Nur, der Wohlstand stellte sich als relativ heraus. Anderthalb Millionen Menschen verloren Arbeit und Einkommen – bei einer Bevölkerung von zehn Millionen.
Eine Million sind bis heute Verlierer geblieben. Rentner hungern und frieren. Wer jung ist, bekommt keine Arbeit. Die Wirtschaftskrise hat die Wohlstandsillusion zerstört. Nun wird klar, dass das westliche Wertesystem – Freiheit und Toleranz – als "Identität" kaum Halt bietet, wenn der Wohlstand ausbleibt.
Auf der Suche nach neuen Werten findet man nur alte
Denn in der gefühlten ungarischen Wirklichkeit bedeuten Freiheit und Toleranz eigentlich nur Gleichgültigkeit. Alles geht. Die linksliberale Korruption, die das Land bis 2010 ruinierte, wird dafür als exemplarisch gesehen.
Der europäische Gedanke, das sind Fabriken, die von Westlern gekauft wurden, um sie zu schließen und Absatzmärkte für ausländische Produkte zu schaffen. Es ist die neue Geld-Elite, von der der Volksmund annimmt, dass sie sich an europäischen Vermögen bereichert, während das Volk leidet.
Und so ist man auf der Suche nach neuen Werten, findet aber nur alte. Es klingt an in der neuen Verfassung, die große Stücke auf das Mittelalter hält, und in der neuen religiösen Inbrunst von Ministerpräsident Viktor Orbán, der als junger Heißsporn zur Wendezeit eher liberal und antiklerikal war.
Die Nachwehen der Wende und die Finanzkrise verbinden sich zu einer tiefen Umbruchkrise. In den letzten 100 Jahren durchlebte Ungarn zweimal solche Zeiten von Chaos und Not: nach dem Ersten Weltkrieg, als das Land erstmals seit 1526 auf eigenen Beinen stehen musste und kollabierte, und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die im Volksaufstand 1956 kulminierten.
Besinnung auf Sündenböcke und Helden
Aus beiden Krisen gingen "starke Männer" hervor, die eine relative Stabilität brachten, Reichsverweser Miklós Horthy und der kommunistische Diktator János Kádár. Beide sind bis heute populär, vor allem, weil unter ihnen die wirtschaftliche Not nachließ und das Leben berechenbarer wurde.
Das mag den Erfolg Orbáns erklären. Ungarn hat aus dem postkommunistischen Chaos noch nicht herausgefunden. Von Orbán erhoffte man die Rettung, die starke Hand, die Ordnung schafft.
"Alte Werte" und starke Hand müssen nicht schlecht sein. Christliche Werte sind gut, nur erzwingen kann man sie eben nicht, und der Versuch wirkt verkrampft. Aber in den Krisen der Vergangenheit gab es neben der Sehnsucht nach klarer Führung ein dunkleres Phänomen, das heute wiederkehrt. Die Suche nach Sündenböcken. Jemand muss schuld sein an der Not, jemand anders als man selbst.
Unter Horthy wurden Juden in Bildungs- und Berufsmöglichkeiten eingeschränkt. Unter Kádár begannen die Kommunisten, Juden von Spitzenpositionen fernzuhalten. Und heute hat Ungarn die einzige offen antisemitische Parlamentspartei in Europa, eben die Jobbik.
Ein "frischer" Antisemitismus
Ihr Antisemitismus ist weniger gefährlich als ihr Antiziganismus, denn der kann die Gesellschaft sprengen, während es sehr viel weniger Juden gibt, gegen die sich der Hass konkret wenden könnte. Der Judenhass der Jobbik richtet sich zu einem guten Teil gegen "Israel" und "Wall Street".
Ungarns Antisemitismus war nicht immer so vehement. 1867, als Ungarn erstmals seit dem 16. Jahrhundert wieder ein eigener Staat wurde, beschloss die junge Regierung ein Gesetz, das Juden volle Bürgerrechte gab.
Das Ergebnis war eine massive Einwanderung osteuropäischer Juden. Binnen nur einer Generation vervielfachte sich ihre Zahl. Sie waren leistungsstark in Handel und Finanzwelt. Das junge ungarische Bürgertum fühlte sich dadurch in seiner Existenzgrundlage bedroht. Die Folge war ein rabiater Antisemitismus und später, unter Horthy, die berüchtigten Berufsverbote.
Nach 1947 setzten die Sowjets in Ungarn eine brutale Führung durch, deren oberste Riege vor allem aus Juden bestand. Ihre Schreckensherrschaft setzte der ungarischen Psyche eine weitere Prägungsschicht auf – Ungarns Antisemitismus ist historisch "frischer" als der in Deutschland.
Jesus war Jude!
Es liegt also nicht nur an mangelnder Aufarbeitung der faschistoiden Vergangenheit. Es geht auch um neuere Einflüsse, die nach der Wende noch einmal verstärkt wurden durch spektakuläre Korruptionsaffären, die ebenfalls "Juden" ins Zentrum des Bewusstseins rückten. Dann kam die Wirtschaftskrise. Und dann Jobbik.
Jobbiks offener Antisemitismus hat eine ebenso offene Debatte in Ungarn ausgelöst. Das tut weh, aber auch gut. Vielleicht hilft dabei sogar der Rückgriff auf die "alten Werte" und die Suche nach Identität. Begriffe müssen geklärt werden. Christentum ist nicht, wie manche am rechten Rand es gebrauchen, ein ethnisches Unterscheidungsmerkmal. Jesus war Jude.
Vielleicht sollten wir Ungarn uns ein Beispiel nehmen an Csanád Szegedi. Tief in uns gehen und danach miteinander ins Gespräch kommen.
http://www.welt.de/debatte/kommenta...entitaet-gesucht-Antisemitismus-gefunden.html
Identität gesucht, Antisemitismus gefunden
Ungarns Antisemitismus verdankt sich der mangelnden Aufarbeitung der faschistoiden Vergangenheit.
Er ist Ausdruck einer Identitätskrise, die mit den Nachwehen der Wende das gesamte Land erfasst hat.
Von Boris Kálnoky
Foto: picture alliance / dpa Rechtsextreme der "Ungarischen Garde" marschieren auf dem Hősök tere, dem Heldenplatz in Budapest auf
Irgendwo in Budapest sucht ein Mann nach sich selbst. Es ist Csanád Szegedi – Mitgründer der rechtsextremen "Ungarischen Garde", einst Vizepräsident der faschistoiden Jobbik-Partei und vehementer Verbal-Antisemit.
Bis herauskam, dass er selbst jüdischer Herkunft ist. Seine Familie hatte es ihm nicht gesagt. Nun marschiert seine alte Miliz drohend vor seinem eigenen Haus herum. Und er tut das, was er vorher auch tat: Er versucht, ein ganzer, fest verankerter Mensch zu sein, nur diesmal als Jude.
Er trifft sich mit dem Budapester Oberrabbiner Slomo Köves, stellt sich den Fragen der jüdischen Gemeinde und fordert als nunmehr unabhängiger Abgeordneter des Europäischen Parlaments mehr Verständnis für Israel. Ein Jahr lang will er keine Interviews geben. So viel Zeit gibt er sich, um sich selbst zu finden.
Ein Land ohne wirtschaftliche Perspektive
Seine Geschichte ist Symptom einer tiefen Identitätskrise Ungarns. Denn der neue ungarische Antisemitismus ist Ausdruck einer Identitätskrise. Es ist ja nicht nur Szegedi.
Jobbik-Chef Gabor Vona ließ seinen Nachnamen ändern, einst hieß er nach dem Namen seines Adoptivvaters Zázrivecz, was weniger ungarisch klingt und einen Teil seiner Anhänger beunruhigt fragen ließ, ob da nicht etwas Jüdisches wäre. Mit dem Namenswechsel wollte auch Vona sich eine festere Identität geben.
Ungarn, als Gesellschaft, ist auch auf der Suche nach Halt und Identität. Mit einiger Verspätung, könnte man sagen, denn der Systemwechsel liegt mehr als 20 Jahre zurück. Davor war man Ostblock, wollte aber raus.
Nach Europa, in die Freiheit, in den Wohlstand. Nur, der Wohlstand stellte sich als relativ heraus. Anderthalb Millionen Menschen verloren Arbeit und Einkommen – bei einer Bevölkerung von zehn Millionen.
Eine Million sind bis heute Verlierer geblieben. Rentner hungern und frieren. Wer jung ist, bekommt keine Arbeit. Die Wirtschaftskrise hat die Wohlstandsillusion zerstört. Nun wird klar, dass das westliche Wertesystem – Freiheit und Toleranz – als "Identität" kaum Halt bietet, wenn der Wohlstand ausbleibt.
Auf der Suche nach neuen Werten findet man nur alte
Denn in der gefühlten ungarischen Wirklichkeit bedeuten Freiheit und Toleranz eigentlich nur Gleichgültigkeit. Alles geht. Die linksliberale Korruption, die das Land bis 2010 ruinierte, wird dafür als exemplarisch gesehen.
Der europäische Gedanke, das sind Fabriken, die von Westlern gekauft wurden, um sie zu schließen und Absatzmärkte für ausländische Produkte zu schaffen. Es ist die neue Geld-Elite, von der der Volksmund annimmt, dass sie sich an europäischen Vermögen bereichert, während das Volk leidet.
Und so ist man auf der Suche nach neuen Werten, findet aber nur alte. Es klingt an in der neuen Verfassung, die große Stücke auf das Mittelalter hält, und in der neuen religiösen Inbrunst von Ministerpräsident Viktor Orbán, der als junger Heißsporn zur Wendezeit eher liberal und antiklerikal war.
Die Nachwehen der Wende und die Finanzkrise verbinden sich zu einer tiefen Umbruchkrise. In den letzten 100 Jahren durchlebte Ungarn zweimal solche Zeiten von Chaos und Not: nach dem Ersten Weltkrieg, als das Land erstmals seit 1526 auf eigenen Beinen stehen musste und kollabierte, und in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg, die im Volksaufstand 1956 kulminierten.
Besinnung auf Sündenböcke und Helden
Aus beiden Krisen gingen "starke Männer" hervor, die eine relative Stabilität brachten, Reichsverweser Miklós Horthy und der kommunistische Diktator János Kádár. Beide sind bis heute populär, vor allem, weil unter ihnen die wirtschaftliche Not nachließ und das Leben berechenbarer wurde.
Das mag den Erfolg Orbáns erklären. Ungarn hat aus dem postkommunistischen Chaos noch nicht herausgefunden. Von Orbán erhoffte man die Rettung, die starke Hand, die Ordnung schafft.
"Alte Werte" und starke Hand müssen nicht schlecht sein. Christliche Werte sind gut, nur erzwingen kann man sie eben nicht, und der Versuch wirkt verkrampft. Aber in den Krisen der Vergangenheit gab es neben der Sehnsucht nach klarer Führung ein dunkleres Phänomen, das heute wiederkehrt. Die Suche nach Sündenböcken. Jemand muss schuld sein an der Not, jemand anders als man selbst.
Unter Horthy wurden Juden in Bildungs- und Berufsmöglichkeiten eingeschränkt. Unter Kádár begannen die Kommunisten, Juden von Spitzenpositionen fernzuhalten. Und heute hat Ungarn die einzige offen antisemitische Parlamentspartei in Europa, eben die Jobbik.
Ein "frischer" Antisemitismus
Ihr Antisemitismus ist weniger gefährlich als ihr Antiziganismus, denn der kann die Gesellschaft sprengen, während es sehr viel weniger Juden gibt, gegen die sich der Hass konkret wenden könnte. Der Judenhass der Jobbik richtet sich zu einem guten Teil gegen "Israel" und "Wall Street".
Ungarns Antisemitismus war nicht immer so vehement. 1867, als Ungarn erstmals seit dem 16. Jahrhundert wieder ein eigener Staat wurde, beschloss die junge Regierung ein Gesetz, das Juden volle Bürgerrechte gab.
Das Ergebnis war eine massive Einwanderung osteuropäischer Juden. Binnen nur einer Generation vervielfachte sich ihre Zahl. Sie waren leistungsstark in Handel und Finanzwelt. Das junge ungarische Bürgertum fühlte sich dadurch in seiner Existenzgrundlage bedroht. Die Folge war ein rabiater Antisemitismus und später, unter Horthy, die berüchtigten Berufsverbote.
Nach 1947 setzten die Sowjets in Ungarn eine brutale Führung durch, deren oberste Riege vor allem aus Juden bestand. Ihre Schreckensherrschaft setzte der ungarischen Psyche eine weitere Prägungsschicht auf – Ungarns Antisemitismus ist historisch "frischer" als der in Deutschland.
Jesus war Jude!
Es liegt also nicht nur an mangelnder Aufarbeitung der faschistoiden Vergangenheit. Es geht auch um neuere Einflüsse, die nach der Wende noch einmal verstärkt wurden durch spektakuläre Korruptionsaffären, die ebenfalls "Juden" ins Zentrum des Bewusstseins rückten. Dann kam die Wirtschaftskrise. Und dann Jobbik.
Jobbiks offener Antisemitismus hat eine ebenso offene Debatte in Ungarn ausgelöst. Das tut weh, aber auch gut. Vielleicht hilft dabei sogar der Rückgriff auf die "alten Werte" und die Suche nach Identität. Begriffe müssen geklärt werden. Christentum ist nicht, wie manche am rechten Rand es gebrauchen, ein ethnisches Unterscheidungsmerkmal. Jesus war Jude.
Vielleicht sollten wir Ungarn uns ein Beispiel nehmen an Csanád Szegedi. Tief in uns gehen und danach miteinander ins Gespräch kommen.
http://www.welt.de/debatte/kommenta...entitaet-gesucht-Antisemitismus-gefunden.html