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Syndikata
Guest
eine sehr interessante erzählung
29. Juni 2008, 04:00 Uhr
Von Dan Bilefsky In Kruje, Albanien
Jungfrauen, die Männer wurden
In Albanien galten Frauen lange nichts. Verlor aber eine Familie ohne Söhne den Patriarchen, übernahm eine ledige Tochter das Regiment und lebte fortan als Mann und Familienoberhaupt - ohne Ehe, ohne Sex. 40 solcher Schwurjungfrauen leben noch in dem Balkanland
Pashe Keqi erinnert sich an den Tag vor fast 60 Jahren noch genau, an dem sie den Entschluss fasste, ein Mann zu werden. Kurzerhand schnitt die junge Frau ihre langen schwarzen Locken ab, tauschte ihr Kleid gegen die ausgebeulten Hosen des Vaters, nahm ein Jagdgewehr und schwor Ehe, Muttersein und Sex für immer ab.
Im abgeschotteten Norden Albaniens war der Geschlechterwechsel jahrhundertelang praktische Lösung, wenn in einer Familie die Männer knapp waren. Keqis Vater starb durch eine Blutfehde, und es gab keinen männlichen Nachfolger. Der Tradition gemäß legte Pashe Keqi, die heute 78 Jahre alt ist, einen Eid ab, für immer jungfräulich zu bleiben. Sie lebte als Mann, als der neue Patriarch, mit allen Insignien männlicher Autorität - und der Verpflichtung, Rache für den Mord am Vater zu nehmen.
Sie sagt, dass sie das alles heute nicht noch einmal tun würde, seit Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Modernität sogar in Albanien Einzug gehalten haben, seit Internet und MTV das Land nach dem Zusammenbruch des Kommunismus überflutet haben. Die Mädchen hier wollen keine Jungs mehr sein. Mit Keqi und etwa 40 anderen sterben die Schwurjungfrauen aus.
"Zu jener Zeit war es besser, ein Mann zu sein, denn zwischen Frauen und Tieren, da gab es keinen Unterschied", sagt Keqi in ihrem brüllenden Bariton. Breitbeinig, wie ein Mann, sitzt sie da und lässt genüsslich Raki aus kleinen Schnapsgläsern ihre Kehle hinunterlaufen. "Heute haben die albanischen Frauen dieselben Rechte wie die Männer, und sie sind sogar mächtiger als sie. Vielleicht würde es Spaß machen, heute eine Frau zu sein."
Mehr als 500 Jahre kann die Tradition der Schwurjungfrauen zurückverfolgt werden, von Generation zu Generation wurde der Kanun des Lek Dukagjin mündlich weitergegeben, das Gewohnheitsrecht der Nordalbaner. Unter dem Kanun ist die Rolle der Frau sehr klar und einfach festgelegt: Sie betreut die Kinder und sorgt für das Heim. Während eine Frau nur die Hälfte eines Mannes wert ist, kostet eine Jungfrau so viel wie ein Mann: zwölf Ochsen.
Die Schwurjungfrauen waren eine Notwendigkeit in einer bäuerlichen, primitiven Gegend, gebeutelt von Krieg und Tod. Wenn das Familienoberhaupt starb, ohne männliche Nachkommen zu hinterlassen, blieben die unverheirateten Frauen der Familie zurück, allein und hilflos. Durch den Eid auf ewige Keuschheit aber konnten sie die Rolle des Mannes übernehmen, Waffen tragen und sich frei bewegen. Sie kleideten sich wie Männer und verbrachten ihr Leben in der Gesellschaft von Männern, obwohl die meisten von ihnen ihre Frauenvornamen behielten. Sie wurden von ihrer Umgebung nicht belächelt, im Gegenteil, man respektierte sie. Für einige war das Leben als Schwurjungfrau der Weg in die Freiheit oder der Ausweg aus einer arrangierten Ehe.
"Ihre Sexualität abzulegen, indem sie sich zur Jungfräulichkeit verpflichteten, war für diese Frauen die einzige Möglichkeit, um in einer vollkommen von Männern dominierten Welt eine öffentliche Rolle einnehmen zu können", sagt Linda Gusia, Geschlechterforscherin an der Universität Pristina im Kosovo. "Es ging ums Überleben in einer Realität, die Männer bestimmten." Das Dasein als Schwurjungfrau wurde keinesfalls mit Homosexualität - ein absolutes Tabu im ländlichen Albanien - gleichgesetzt, erklären Soziologen. Auch ließen die Frauen keine Geschlechtsumwandlung durchführen.
Die Familie nennt Keqi "Pascha". Sie sagt, dass sie 20 war, als sie die Entscheidung traf, Mann des Hauses zu werden. Kurz zuvor war ihr Vater ermordet worden. Ihre vier Brüder waren Gegner von Enver Hodscha, der Albanien 40 Jahre bis zu seinem Tod 1985 beherrschte. Die Brüder kamen ins Gefängnis oder wurden getötet. Mann zu werden, sagt Keqi, war der einzige Weg, um die Mutter, ihre vier Schwägerinnen und deren fünf Kinder durchzubringen.
Keqi besaß Gewalt über die große Familie in ihrem kleinen Haus in Tirana, wo die Nichten ihr Brandy servierten, während sie Befehle bellte. Mann zu sein gab ihr Freiheiten, die Frauen verwehrt waren. Sie arbeitete auf dem Bau und betete in der Moschee zusammen mit den Männern. Noch heute, sagen Keqis Nichten und Neffen, würden sie ohne die Einwilligung ihres "Onkels" nicht wagen zu heiraten.
Wenn Keqi das Haus verließ, genoss sie es, als Mann wahrgenommen zu werden. "Ich war vollkommen frei, weil niemand wusste, dass ich eine Frau bin", sagt sie. "Ich konnte gehen, wohin ich wollte, niemand hätte sich getraut, mich zu beschimpfen, denn ich hätte ihn verprügelt. Ich war immer nur mit Männern zusammen. Ich weiß gar nicht, wie Frauen reden. Ich habe niemals Angst." Als Keqi vor einiger Zeit für eine Operation ins Krankenhaus musste, war die andere Frau in ihrem Zimmer schockiert, dass im Bett neben ihr - wie sie meinte - ein Mann untergebracht war.
Als Kopf der Familie löste Keqi auch das Versprechen ein, den Tod des Vaters zu rächen. Als dessen Mörder vor fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, ein alter Mann von 80 Jahren, wurde er von Keqis 15-jährigem Neffen erschossen. Danach brachte die Familie des Mannes ihren Neffen um. "Es war der Traum meines Lebens, den Tod meines Vaters zu rächen", sagt Keqi. "Natürlich gibt es Dinge, die ich bedaure. Dass mein Neffe sterben musste. Aber wenn du mich tötest, muss ich dich töten."
In Albanien, einem mehrheitlich muslimischen Land, befolgen Muslime wie Christen den Kanun. Kulturhistoriker meinen, dass die Erfüllung mittelalterlicher Vorgaben, die in anderen Regionen längst der Vergangenheit angehören, der langen Isolierung des Landes geschuldet sei. Die Rolle der albanischen Frau habe sich heute indes vollkommen verändert. "Die albanischen Frauen sind eine Mischung aus Wirtschaftsminister, Gefühlsminister und Innenminister, der alles kontrolliert", sagt Ilir Yzeiri, der auf albanische Folklore spezialisiert ist. "Heute steckt hinter allem in Albanien eine Frau."
Manche Schwurjungfrau beklagt den Wandel. Diana Rakipi, die in der Küstenstadt Durres im Westen des Landes für eine Sicherheitsfirma arbeitet, verpflichtete sich zur ewigen Keuschheit, damit sie sich um ihre neun jüngeren Schwestern kümmern konnte. Die 54-Jährige schaut mit Nostalgie auf die Hodscha-Ära zurück; damals war sie ein hoher Armeeoffizier, der Frauen zu Kampfsoldaten ausbildete. Heutzutage aber kennten die Frauen nicht mehr ihren Platz: "Sie gehen halb nackt in die Disco", beklagt sich Rakipi, die ein Militärbarett trägt. "Mein ganzes Leben lang bin ich als Mann behandelt worden, mit Respekt. Ich kann nicht putzen, nicht bügeln, nicht kochen. Das ist Frauenarbeit."
Doch selbst in den abgelegenen Bergen von Kruje, etwa 50 Kilometer nördlich von Tirana, wo sich staubige Straßen wie Schlangen durch die Olivenhaine winden, sagen die Bewohner, dass die Macht des Kanun schwindet. Die Auflösung der traditionellen Familie, in der alle unter einem Dach lebten, habe die Position der Frau in der Gesellschaft verändert.
"Frauen und Männer sind nun fast das Gleiche", sagt Caca Fiqiri, deren 88-jährige Tante Qamile Stema die letzte Schwurjungfrau des kleinen Dorfes ist. "Wir respektieren die Jungfrauen, wir sehen sie als Männer an, weil sie ein großes Opfer gebracht haben. Aber es ist nicht mehr länger ein Stigma, keinen Mann im Haus zu haben."
Trotzdem ist es keine Frage, wer in Stemas Einzimmersteinhaus das Sagen hat, das im Stammdorf ihrer Familie in Barganesh liegt. Umgeben von ihrer Familie lebt "Onkel" Qamile dort, den weißen Qeleshe auf dem Kopf, die traditionelle Bedeckung albanischer Männer. Ihre einzige Konzession an die Weiblichkeit sind rosafarbene Flip-Flops. Als sie mit 20 Jahren ein Mann wurde, erzählt Stema, trug sie ein Gewehr. Bei Hochzeitsfeiern saß sie bei den Männern. Wenn sie mit Frauen sprach, wichen diese verschüchtert zurück.
Stema sagt, Schwurjungfrau zu werden, war eine Notwendigkeit - und ein Opfer. "Die Wahrheit ist, dass ich mich manchmal einsam fühle, alle meine Schwestern sind tot, ich lebe allein." Aber sie habe nie heiraten wollen. "Einige meiner Verwandten versuchten mich zu überreden, meine Männersachen abzulegen und wieder Kleider zu tragen. Aber als sie sahen, dass ich ein Mann geworden war, hörten sie damit auf." Stema sagt, dass sie als Jungfrau sterben werde. Hätte sie je geheiratet, ulkt sie, dann nur eine traditionelle albanische Frau. "Man kann wohl sagen, dass ich teilweise eine Frau und zum Teil ein Mann war. Ich mochte mein Leben als Mann. Ich bedaure nichts."
Jungfrauen, die Männer wurden - WELT am SONNTAG - WELT ONLINE
29. Juni 2008, 04:00 Uhr
Von Dan Bilefsky In Kruje, Albanien
Jungfrauen, die Männer wurden
In Albanien galten Frauen lange nichts. Verlor aber eine Familie ohne Söhne den Patriarchen, übernahm eine ledige Tochter das Regiment und lebte fortan als Mann und Familienoberhaupt - ohne Ehe, ohne Sex. 40 solcher Schwurjungfrauen leben noch in dem Balkanland
Pashe Keqi erinnert sich an den Tag vor fast 60 Jahren noch genau, an dem sie den Entschluss fasste, ein Mann zu werden. Kurzerhand schnitt die junge Frau ihre langen schwarzen Locken ab, tauschte ihr Kleid gegen die ausgebeulten Hosen des Vaters, nahm ein Jagdgewehr und schwor Ehe, Muttersein und Sex für immer ab.
Im abgeschotteten Norden Albaniens war der Geschlechterwechsel jahrhundertelang praktische Lösung, wenn in einer Familie die Männer knapp waren. Keqis Vater starb durch eine Blutfehde, und es gab keinen männlichen Nachfolger. Der Tradition gemäß legte Pashe Keqi, die heute 78 Jahre alt ist, einen Eid ab, für immer jungfräulich zu bleiben. Sie lebte als Mann, als der neue Patriarch, mit allen Insignien männlicher Autorität - und der Verpflichtung, Rache für den Mord am Vater zu nehmen.
Sie sagt, dass sie das alles heute nicht noch einmal tun würde, seit Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern und Modernität sogar in Albanien Einzug gehalten haben, seit Internet und MTV das Land nach dem Zusammenbruch des Kommunismus überflutet haben. Die Mädchen hier wollen keine Jungs mehr sein. Mit Keqi und etwa 40 anderen sterben die Schwurjungfrauen aus.
"Zu jener Zeit war es besser, ein Mann zu sein, denn zwischen Frauen und Tieren, da gab es keinen Unterschied", sagt Keqi in ihrem brüllenden Bariton. Breitbeinig, wie ein Mann, sitzt sie da und lässt genüsslich Raki aus kleinen Schnapsgläsern ihre Kehle hinunterlaufen. "Heute haben die albanischen Frauen dieselben Rechte wie die Männer, und sie sind sogar mächtiger als sie. Vielleicht würde es Spaß machen, heute eine Frau zu sein."
Mehr als 500 Jahre kann die Tradition der Schwurjungfrauen zurückverfolgt werden, von Generation zu Generation wurde der Kanun des Lek Dukagjin mündlich weitergegeben, das Gewohnheitsrecht der Nordalbaner. Unter dem Kanun ist die Rolle der Frau sehr klar und einfach festgelegt: Sie betreut die Kinder und sorgt für das Heim. Während eine Frau nur die Hälfte eines Mannes wert ist, kostet eine Jungfrau so viel wie ein Mann: zwölf Ochsen.
Die Schwurjungfrauen waren eine Notwendigkeit in einer bäuerlichen, primitiven Gegend, gebeutelt von Krieg und Tod. Wenn das Familienoberhaupt starb, ohne männliche Nachkommen zu hinterlassen, blieben die unverheirateten Frauen der Familie zurück, allein und hilflos. Durch den Eid auf ewige Keuschheit aber konnten sie die Rolle des Mannes übernehmen, Waffen tragen und sich frei bewegen. Sie kleideten sich wie Männer und verbrachten ihr Leben in der Gesellschaft von Männern, obwohl die meisten von ihnen ihre Frauenvornamen behielten. Sie wurden von ihrer Umgebung nicht belächelt, im Gegenteil, man respektierte sie. Für einige war das Leben als Schwurjungfrau der Weg in die Freiheit oder der Ausweg aus einer arrangierten Ehe.
"Ihre Sexualität abzulegen, indem sie sich zur Jungfräulichkeit verpflichteten, war für diese Frauen die einzige Möglichkeit, um in einer vollkommen von Männern dominierten Welt eine öffentliche Rolle einnehmen zu können", sagt Linda Gusia, Geschlechterforscherin an der Universität Pristina im Kosovo. "Es ging ums Überleben in einer Realität, die Männer bestimmten." Das Dasein als Schwurjungfrau wurde keinesfalls mit Homosexualität - ein absolutes Tabu im ländlichen Albanien - gleichgesetzt, erklären Soziologen. Auch ließen die Frauen keine Geschlechtsumwandlung durchführen.
Die Familie nennt Keqi "Pascha". Sie sagt, dass sie 20 war, als sie die Entscheidung traf, Mann des Hauses zu werden. Kurz zuvor war ihr Vater ermordet worden. Ihre vier Brüder waren Gegner von Enver Hodscha, der Albanien 40 Jahre bis zu seinem Tod 1985 beherrschte. Die Brüder kamen ins Gefängnis oder wurden getötet. Mann zu werden, sagt Keqi, war der einzige Weg, um die Mutter, ihre vier Schwägerinnen und deren fünf Kinder durchzubringen.
Keqi besaß Gewalt über die große Familie in ihrem kleinen Haus in Tirana, wo die Nichten ihr Brandy servierten, während sie Befehle bellte. Mann zu sein gab ihr Freiheiten, die Frauen verwehrt waren. Sie arbeitete auf dem Bau und betete in der Moschee zusammen mit den Männern. Noch heute, sagen Keqis Nichten und Neffen, würden sie ohne die Einwilligung ihres "Onkels" nicht wagen zu heiraten.
Wenn Keqi das Haus verließ, genoss sie es, als Mann wahrgenommen zu werden. "Ich war vollkommen frei, weil niemand wusste, dass ich eine Frau bin", sagt sie. "Ich konnte gehen, wohin ich wollte, niemand hätte sich getraut, mich zu beschimpfen, denn ich hätte ihn verprügelt. Ich war immer nur mit Männern zusammen. Ich weiß gar nicht, wie Frauen reden. Ich habe niemals Angst." Als Keqi vor einiger Zeit für eine Operation ins Krankenhaus musste, war die andere Frau in ihrem Zimmer schockiert, dass im Bett neben ihr - wie sie meinte - ein Mann untergebracht war.
Als Kopf der Familie löste Keqi auch das Versprechen ein, den Tod des Vaters zu rächen. Als dessen Mörder vor fünf Jahren aus dem Gefängnis entlassen wurde, ein alter Mann von 80 Jahren, wurde er von Keqis 15-jährigem Neffen erschossen. Danach brachte die Familie des Mannes ihren Neffen um. "Es war der Traum meines Lebens, den Tod meines Vaters zu rächen", sagt Keqi. "Natürlich gibt es Dinge, die ich bedaure. Dass mein Neffe sterben musste. Aber wenn du mich tötest, muss ich dich töten."
In Albanien, einem mehrheitlich muslimischen Land, befolgen Muslime wie Christen den Kanun. Kulturhistoriker meinen, dass die Erfüllung mittelalterlicher Vorgaben, die in anderen Regionen längst der Vergangenheit angehören, der langen Isolierung des Landes geschuldet sei. Die Rolle der albanischen Frau habe sich heute indes vollkommen verändert. "Die albanischen Frauen sind eine Mischung aus Wirtschaftsminister, Gefühlsminister und Innenminister, der alles kontrolliert", sagt Ilir Yzeiri, der auf albanische Folklore spezialisiert ist. "Heute steckt hinter allem in Albanien eine Frau."
Manche Schwurjungfrau beklagt den Wandel. Diana Rakipi, die in der Küstenstadt Durres im Westen des Landes für eine Sicherheitsfirma arbeitet, verpflichtete sich zur ewigen Keuschheit, damit sie sich um ihre neun jüngeren Schwestern kümmern konnte. Die 54-Jährige schaut mit Nostalgie auf die Hodscha-Ära zurück; damals war sie ein hoher Armeeoffizier, der Frauen zu Kampfsoldaten ausbildete. Heutzutage aber kennten die Frauen nicht mehr ihren Platz: "Sie gehen halb nackt in die Disco", beklagt sich Rakipi, die ein Militärbarett trägt. "Mein ganzes Leben lang bin ich als Mann behandelt worden, mit Respekt. Ich kann nicht putzen, nicht bügeln, nicht kochen. Das ist Frauenarbeit."
Doch selbst in den abgelegenen Bergen von Kruje, etwa 50 Kilometer nördlich von Tirana, wo sich staubige Straßen wie Schlangen durch die Olivenhaine winden, sagen die Bewohner, dass die Macht des Kanun schwindet. Die Auflösung der traditionellen Familie, in der alle unter einem Dach lebten, habe die Position der Frau in der Gesellschaft verändert.
"Frauen und Männer sind nun fast das Gleiche", sagt Caca Fiqiri, deren 88-jährige Tante Qamile Stema die letzte Schwurjungfrau des kleinen Dorfes ist. "Wir respektieren die Jungfrauen, wir sehen sie als Männer an, weil sie ein großes Opfer gebracht haben. Aber es ist nicht mehr länger ein Stigma, keinen Mann im Haus zu haben."
Trotzdem ist es keine Frage, wer in Stemas Einzimmersteinhaus das Sagen hat, das im Stammdorf ihrer Familie in Barganesh liegt. Umgeben von ihrer Familie lebt "Onkel" Qamile dort, den weißen Qeleshe auf dem Kopf, die traditionelle Bedeckung albanischer Männer. Ihre einzige Konzession an die Weiblichkeit sind rosafarbene Flip-Flops. Als sie mit 20 Jahren ein Mann wurde, erzählt Stema, trug sie ein Gewehr. Bei Hochzeitsfeiern saß sie bei den Männern. Wenn sie mit Frauen sprach, wichen diese verschüchtert zurück.
Stema sagt, Schwurjungfrau zu werden, war eine Notwendigkeit - und ein Opfer. "Die Wahrheit ist, dass ich mich manchmal einsam fühle, alle meine Schwestern sind tot, ich lebe allein." Aber sie habe nie heiraten wollen. "Einige meiner Verwandten versuchten mich zu überreden, meine Männersachen abzulegen und wieder Kleider zu tragen. Aber als sie sahen, dass ich ein Mann geworden war, hörten sie damit auf." Stema sagt, dass sie als Jungfrau sterben werde. Hätte sie je geheiratet, ulkt sie, dann nur eine traditionelle albanische Frau. "Man kann wohl sagen, dass ich teilweise eine Frau und zum Teil ein Mann war. Ich mochte mein Leben als Mann. Ich bedaure nichts."
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