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Popeye
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Kindheit am Bosporus
Die Türkei war für etliche deutsche Familien Zufluchtsort vor den Nationalsozialisten Von Ursula Trüper
http://www.ez-online.de/ueberregiona...ikel779626.cfm
25.11.2006
Seinen ersten Schultag in Ankara wird Gerhard Ruben wohl nie vergessen. "Das funktionierte absolut nicht," lacht der ältere Herr mit den wachen Augen hinter der großen Hornbrille. "Ich habe nichts kapiert. Obwohl der Direktor mühsam versuchte, mir ein paar türkische Worte zu erklären. Die Lehrer wussten wahrscheinlich gar nicht, wie sie mit mir umgehen sollten."
Bücher, nichts als Bücher
Dieser frühe schulische Misserfolg scheint jedoch keine dauerhaften Schäden angerichtet zu haben. Gerhard Ruben ist Wissenschaftler geworden. Bis 1992 war er Astronom an der Berliner Akademie der Wissenschaften. Draußen vor dem Fenster seiner Potsdamer Wohnung leuchtet die Sommersonne auf durstige Kastanienbäume und gelbe Hausfassaden. Drinnen, in dem sehr aufgeräumten Wohnzimmer: Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Nur an der Fensterfront ist noch Platz für eine Sitzecke. Dort sitzt Gerhard Ruben, gießt Kaffee ein und beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Gerhard war acht Jahre alt, als seine Eltern beschlossen, mit Kind und Kegel in die Türkei auszuwandern. Dieser Schritt hat ihnen vermutlich das Leben gerettet. Wenn derzeit über die Aufnahme der Türkei in die EU geredet wird, dann wird immer wieder als Gegenargument angeführt, Europa habe - anders als die Türkei - ein christlich-abendländisches Wertefundament mit Aufklärung und Demokratie. Als die Rubens 1935 in die Türkei gehen, kann in Deutschland allerdings von beidem keine Rede sein. Gerhards Vater Walter Ruben, Privatdozent an der Universität Frankfurt, galt damals als "Halbjude". Nur weil er als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte und daher als "Frontkämpfer" eingestuft wurde, durfte er überhaupt noch Seminare halten.
Vater Ruben war ein entschiedener Nazi-Gegner und wollte nicht abwarten, was das neue Regime als nächstes planen würde. Er sieht sich nach einer Alternative um. Ein Bekannter, der von seiner schwierigen Situation weiß, empfiehlt ihn in die Türkei. 1935 wird Walter Ruben an die neu gegründete Universität Ankara berufen, wo er die Abteilung für Indologie aufbaut. Eine Professur in der Türkei, das ist nicht gerade der direkte Weg zu einer internationalen Karriere. Doch das Gehalt ist gut und niemand interessiert sich für die Herkunft der deutschen Emigranten. "Die Mehrzahl der Dozenten waren damals Ausländer", erzählt Gerhard Ruben. "Da gab es Menschen, die aus rassistischen Gründen geflohen sind, aus politischen Gründen, es waren eigentlich wenige da, die einfach nur Arbeit suchten."
Unter staatlichem Schutz
Vor allem in den Städten Istanbul und Ankara bildeten sich große Gruppen von deutschen Nazi-Gegnern und -Verfolgten. Unter ihnen prominente Politiker und Künstler. Einer von ihnen ist der spätere Regierende Bürgermeister von Westberlin, Ernst Reuter. Auch die Bauhaus-Architekten Bruno Taut, Martin Wagner und Margarethe Schütte-Lihotzky, der Bildhauer Rudolf Belling, die Musiker Paul Hindemith und Eduard Zuckmayer, letzterer ein Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer, um nur einige zu nennen, finden für kürzere oder längere Zeit in der Türkei Schutz vor den Nazis. Es ist der türkischen Regierung durchaus bewusst, in welcher Zwangslage sich diese Deutschen befinden. Ausdrücklich betonte der türkische Unterrichtsminister Resid Galip, dass jeder, der eine Berufung in die Türkei annehme, "ob frei, im Gefängnis oder im Konzentrationslager, als Beamter der Republik betrachtet und unter türkischem Schutz stehen werde".
Ausländische Experten
Dass sie in der Türkei leben und arbeiten können, verdanken die deutschen Emigranten vor allem dem türkischen Regierungschef Kemal Atatürk. Der hatte nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1923 die Türkische Republik ausgerufen und dann seinem Land ein brachiales Modernisierungsprogramm verordnet. Innerhalb kürzester Zeit führt Atatürk die Trennung von Staat und Religion ein, das Frauenwahlrecht, das lateinische Alphabet, eine moderne Rechtsprechung und die Europäisierung der Bildung. Dafür braucht er ausländische Experten. Und da zwischen der Türkei und Deutschland bereits seit dem Kaiserreich gute Beziehungen bestehen, liegt es nahe, gerade auch Deutsche in die Türkei einzuladen.
Die meisten Emigranten machen sich zunächst keine Vorstellung, wie lange ihr Exil letztendlich dauern wird. "Sie haben alle Illusionen gehabt", sagt Gerhard Ruben heute. "Sie nahmen an, das wird vielleicht zwei, drei Jahre dauern, dann kehren wir nach Deutschland zurück." Und während Vater Ruben Tag und Nacht die türkische Sprache büffelt - schließlich hat er sich in seinem Arbeitsvertrag verpflichtet, seine Vorlesungen auf türkisch zu halten - ,wird Gerhard bald nach dem ersten Fehlstart wieder aus der türkischen Schule herausgenommen. Anders als sein jüngerer Bruder Wolfgang, der zeitweilig eine türkische Schule besucht, erlernt er nie richtig die Sprache seines Gastlandes. Er hält das heute noch für einen Fehler seiner Eltern.
Ungefähr 60 schulpflichtige Kinder von Emigranten lebten damals in Ankara. Natürlich verbot es sich, sie in die deutsche Schule für die Kinder der Botschaftsangehörigen zu schicken, denn die war nationalsozialistisch ausgerichtet. Stattdessen bildete sich eine eigene Schule für die Emigrantenkinder. Deren Leiterin und alleinige Lehrerin war Leyla Kudret, eine gebürtige Deutsche, die mit einem Türken verheiratet war. Leyla Kudret-Erkönen, von den Kindern liebevoll "die Ku" genannt, war eine bemerkenswerte Frau. Sie hatte Mathematik, Physik, Germanistik und Französisch studiert. Dies versetzte sie in die Lage, praktisch alle Fächer zu unterrichten - außer Musik, Kunst und Sport -, und zwar von der ersten Klasse bis zum Abitur. "Sie war sehr gebildet, und eine sehr strenge, aber gute Pädagogin. Und sie hat viel dazu beigetragen, dass ich Interesse an Mathematik und solchen Gebieten hatte. Aber alles ohne Bücher", erinnert sich Gerhard Ruben.
Edzard Reuter war Absolvent
Deutsche Schulbücher waren in der Türkei nicht so ohne weiteres zu bekommen, zudem waren sie häufig von der Nazi-Ideologie geprägt. So blieb den Kindern gar nichts anderes übrig, als im Unterricht mitzuschreiben und den Stoff zu Hause noch einmal auszuarbeiten. Oder man griff zu alternativen Lernmitteln: Englisch zum Beispiel eigneten sich die Kinder anhand der Krimis von Agatha Christie weitgehend selbst an. Auf diese Weise lernten sie erstaunlich viel, und die meisten schafften später das Abitur. Prominentester Absolvent der Schule von Leyla Kudret war sicherlich Edzard Reuter. "In vieler Hinsicht", sagt Gerhard Ruben und rührt gedankenverloren in seiner Kaffeetasse, "war unsere Kindheit eigentlich völlig normal. Wir sind rumgestrolcht, auf die Baustellen geklettert und haben gemacht, was Kinder so machen". Mit türkischen Kindern spielten sie allerdings eher selten. "Für die waren wir die Fremden".
Nur wenige Freundschaften
Ähnlich verhielten sich auch die Erwachsenen. Abgesehen von den beruflichen Kontakten der Väter gab es nur wenige Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen zwischen deutschen Emigranten und Einheimischen. Man blieb weitgehend unter sich und pflegte eine sehr deutsche Form der Geselligkeit: gegenseitige Einladungen zum Sonntagsbraten oder zum Kaffeeklatsch. Gemeinsame Sonntagsausflüge in die Natur, die Damen im Sonntagskleid, die Herren zünftig mit Knickerbockern und Spazierstock ausgerüstet.
Politisch betätigen durften sich die Emigranten allerdings nicht. Stattdessen gab es Vortragsabende über Themen wie "Der Begriff der Humanität von Hegel bis Nietzsche". So war es für die Rubens bereits ein aufregendes Ereignis, dass sie eines Tages von ihrem türkischen Milchmann in dessen Dorf zum Mittagessen eingeladen wurden. Derartige Begegnungen sind freilich damals eher die Ausnahme als die Regel gewesen.
1939 endete dieses vergleichsweise sorglose Leben abrupt. Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg. Die Türkei versuchte zunächst sich herauszuhalten. Doch spätestens seit 1941 waren alle ihre Nachbarstaaten in diesen Krieg verwickelt. "Das war ziemlich belastend", erinnert sich Gerhard Ruben. "Wir hatten das Gefühl, es ist nur eine Frage der Zeit, dann zieht die Wehrmacht durch die Türkei in den Kaukasus. Sie hätten kaum Widerstand gefunden." Hinzu kommt, dass das deutsche Reich allen Emigranten, die sich weigern, nach Deutschland zurückzukehren, die Staatsbürgerschaft entzieht.
"Haymatloz"
Auch die Rubens werden ausgebürgert. "Haymatloz" schreiben die türkischen Behörden in ihre Behelfs-Papiere, zu deutsch "staatenlos". 1944 tritt die Türkei an der Seite der Alliierten in den Krieg ein. Alle Deutschen, ob Nazis oder Nazi-Gegner, sind nun plötzlich "feindliche Ausländer". Viele von ihnen werden interniert. Auch die Rubens: "Wir machten damals Ferien in einem Sommerhäuschen bei Ankara, und da wurde uns gesagt: in 24 Stunden fährt der Bus, da müsst ihr fahren. Wir haben nur das Notwendigste mitgenommen. Aber wir hatten keine Bücher, nichts. Wie das meine Eltern geschafft haben, ist mir heute noch unklar. Ein schauerliches Durcheinander." Allerdings: "Die Internierung war in einer Hinsicht harmlos, man wurde nicht in ein Lager eingesperrt, sondern wir wurden an einen Verbannungsort geschickt. Wir kamen nach Kirsehir".
Der Ort Kirsehir war in der Antike ein wichtiges Handelszentrum. Als die Familie Ruben dort eintrifft, finden sie eine verschlafene Kleinstadt vor, umgeben von anatolischer Steppe, soweit das Auge reicht. Glücklicherweise leben bereits andere Emigranten dort, die ihnen helfen, eine Wohnung zu finden. Es gibt kein fließendes Wasser und nur selten Strom. Die Öllampen, die man zur Beleuchtung verwendet, geben ein so schwaches Licht, dass man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr lesen kann.
Um sich die Zeit zu vertreiben, bleibt nur noch das Kartenspielen, was die Emigranten auch ausgiebig tun. Gerhard Ruben und sein Bruder Wolfgang langweilen sich entsetzlich. Von geordnetem Schulunterricht kann keine Rede sein. Vater Ruben, von einem Tag auf den anderen aus einem arbeitsamen Wissenschaftlerleben gerissen, erstellt eine umfangreiche ethnologische Studie über Kirsehir.
Palestrina in der Türkei
Und natürlich pflegen die Emigranten die deutsche Kultur. Sie gründen einen Emigrantenchor, der von Eduard Zuckmayer geleitet wird. Auch die Rubens singen dort mit: "Wir hatten ja fruchtbar viel Zeit, und Zuckmayer kannte natürlich die ganze klassische Musik hervorragend. Wir haben also Kirchenmusik gesungen. Da war auch ein katholischer Pfarrer interniert, und ein paar Nonnen aus Österreich. Die hielten Sonntags immer Gottesdienst. Und da haben wir tatsächlich eine Messe des Kirchenmusikers Palestrina gesungen. Mitten in der Türkei!" Dann ist der Krieg zu Ende. Auf dem Umweg über Chile, wo Gerhard und Wolfgang in einer deutschen Schule das Abitur machen, kommen die Rubens schließlich 1950 wieder in Deutschland an. Bewusst entscheiden sie sich seinerzeit für die neu gegründete DDR. Dort erfüllt sich Gerhard Ruben einen alten Traum und beginnt, Astronomie zu studieren.
Die Türkei war für etliche deutsche Familien Zufluchtsort vor den Nationalsozialisten Von Ursula Trüper
http://www.ez-online.de/ueberregiona...ikel779626.cfm
25.11.2006
Seinen ersten Schultag in Ankara wird Gerhard Ruben wohl nie vergessen. "Das funktionierte absolut nicht," lacht der ältere Herr mit den wachen Augen hinter der großen Hornbrille. "Ich habe nichts kapiert. Obwohl der Direktor mühsam versuchte, mir ein paar türkische Worte zu erklären. Die Lehrer wussten wahrscheinlich gar nicht, wie sie mit mir umgehen sollten."
Bücher, nichts als Bücher
Dieser frühe schulische Misserfolg scheint jedoch keine dauerhaften Schäden angerichtet zu haben. Gerhard Ruben ist Wissenschaftler geworden. Bis 1992 war er Astronom an der Berliner Akademie der Wissenschaften. Draußen vor dem Fenster seiner Potsdamer Wohnung leuchtet die Sommersonne auf durstige Kastanienbäume und gelbe Hausfassaden. Drinnen, in dem sehr aufgeräumten Wohnzimmer: Bücher, Bücher und nochmals Bücher. Nur an der Fensterfront ist noch Platz für eine Sitzecke. Dort sitzt Gerhard Ruben, gießt Kaffee ein und beginnt, seine Lebensgeschichte zu erzählen.
Gerhard war acht Jahre alt, als seine Eltern beschlossen, mit Kind und Kegel in die Türkei auszuwandern. Dieser Schritt hat ihnen vermutlich das Leben gerettet. Wenn derzeit über die Aufnahme der Türkei in die EU geredet wird, dann wird immer wieder als Gegenargument angeführt, Europa habe - anders als die Türkei - ein christlich-abendländisches Wertefundament mit Aufklärung und Demokratie. Als die Rubens 1935 in die Türkei gehen, kann in Deutschland allerdings von beidem keine Rede sein. Gerhards Vater Walter Ruben, Privatdozent an der Universität Frankfurt, galt damals als "Halbjude". Nur weil er als Soldat am Ersten Weltkrieg teilgenommen hatte und daher als "Frontkämpfer" eingestuft wurde, durfte er überhaupt noch Seminare halten.
Vater Ruben war ein entschiedener Nazi-Gegner und wollte nicht abwarten, was das neue Regime als nächstes planen würde. Er sieht sich nach einer Alternative um. Ein Bekannter, der von seiner schwierigen Situation weiß, empfiehlt ihn in die Türkei. 1935 wird Walter Ruben an die neu gegründete Universität Ankara berufen, wo er die Abteilung für Indologie aufbaut. Eine Professur in der Türkei, das ist nicht gerade der direkte Weg zu einer internationalen Karriere. Doch das Gehalt ist gut und niemand interessiert sich für die Herkunft der deutschen Emigranten. "Die Mehrzahl der Dozenten waren damals Ausländer", erzählt Gerhard Ruben. "Da gab es Menschen, die aus rassistischen Gründen geflohen sind, aus politischen Gründen, es waren eigentlich wenige da, die einfach nur Arbeit suchten."
Unter staatlichem Schutz
Vor allem in den Städten Istanbul und Ankara bildeten sich große Gruppen von deutschen Nazi-Gegnern und -Verfolgten. Unter ihnen prominente Politiker und Künstler. Einer von ihnen ist der spätere Regierende Bürgermeister von Westberlin, Ernst Reuter. Auch die Bauhaus-Architekten Bruno Taut, Martin Wagner und Margarethe Schütte-Lihotzky, der Bildhauer Rudolf Belling, die Musiker Paul Hindemith und Eduard Zuckmayer, letzterer ein Bruder des Schriftstellers Carl Zuckmayer, um nur einige zu nennen, finden für kürzere oder längere Zeit in der Türkei Schutz vor den Nazis. Es ist der türkischen Regierung durchaus bewusst, in welcher Zwangslage sich diese Deutschen befinden. Ausdrücklich betonte der türkische Unterrichtsminister Resid Galip, dass jeder, der eine Berufung in die Türkei annehme, "ob frei, im Gefängnis oder im Konzentrationslager, als Beamter der Republik betrachtet und unter türkischem Schutz stehen werde".
Ausländische Experten
Dass sie in der Türkei leben und arbeiten können, verdanken die deutschen Emigranten vor allem dem türkischen Regierungschef Kemal Atatürk. Der hatte nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches 1923 die Türkische Republik ausgerufen und dann seinem Land ein brachiales Modernisierungsprogramm verordnet. Innerhalb kürzester Zeit führt Atatürk die Trennung von Staat und Religion ein, das Frauenwahlrecht, das lateinische Alphabet, eine moderne Rechtsprechung und die Europäisierung der Bildung. Dafür braucht er ausländische Experten. Und da zwischen der Türkei und Deutschland bereits seit dem Kaiserreich gute Beziehungen bestehen, liegt es nahe, gerade auch Deutsche in die Türkei einzuladen.
Die meisten Emigranten machen sich zunächst keine Vorstellung, wie lange ihr Exil letztendlich dauern wird. "Sie haben alle Illusionen gehabt", sagt Gerhard Ruben heute. "Sie nahmen an, das wird vielleicht zwei, drei Jahre dauern, dann kehren wir nach Deutschland zurück." Und während Vater Ruben Tag und Nacht die türkische Sprache büffelt - schließlich hat er sich in seinem Arbeitsvertrag verpflichtet, seine Vorlesungen auf türkisch zu halten - ,wird Gerhard bald nach dem ersten Fehlstart wieder aus der türkischen Schule herausgenommen. Anders als sein jüngerer Bruder Wolfgang, der zeitweilig eine türkische Schule besucht, erlernt er nie richtig die Sprache seines Gastlandes. Er hält das heute noch für einen Fehler seiner Eltern.
Ungefähr 60 schulpflichtige Kinder von Emigranten lebten damals in Ankara. Natürlich verbot es sich, sie in die deutsche Schule für die Kinder der Botschaftsangehörigen zu schicken, denn die war nationalsozialistisch ausgerichtet. Stattdessen bildete sich eine eigene Schule für die Emigrantenkinder. Deren Leiterin und alleinige Lehrerin war Leyla Kudret, eine gebürtige Deutsche, die mit einem Türken verheiratet war. Leyla Kudret-Erkönen, von den Kindern liebevoll "die Ku" genannt, war eine bemerkenswerte Frau. Sie hatte Mathematik, Physik, Germanistik und Französisch studiert. Dies versetzte sie in die Lage, praktisch alle Fächer zu unterrichten - außer Musik, Kunst und Sport -, und zwar von der ersten Klasse bis zum Abitur. "Sie war sehr gebildet, und eine sehr strenge, aber gute Pädagogin. Und sie hat viel dazu beigetragen, dass ich Interesse an Mathematik und solchen Gebieten hatte. Aber alles ohne Bücher", erinnert sich Gerhard Ruben.
Edzard Reuter war Absolvent
Deutsche Schulbücher waren in der Türkei nicht so ohne weiteres zu bekommen, zudem waren sie häufig von der Nazi-Ideologie geprägt. So blieb den Kindern gar nichts anderes übrig, als im Unterricht mitzuschreiben und den Stoff zu Hause noch einmal auszuarbeiten. Oder man griff zu alternativen Lernmitteln: Englisch zum Beispiel eigneten sich die Kinder anhand der Krimis von Agatha Christie weitgehend selbst an. Auf diese Weise lernten sie erstaunlich viel, und die meisten schafften später das Abitur. Prominentester Absolvent der Schule von Leyla Kudret war sicherlich Edzard Reuter. "In vieler Hinsicht", sagt Gerhard Ruben und rührt gedankenverloren in seiner Kaffeetasse, "war unsere Kindheit eigentlich völlig normal. Wir sind rumgestrolcht, auf die Baustellen geklettert und haben gemacht, was Kinder so machen". Mit türkischen Kindern spielten sie allerdings eher selten. "Für die waren wir die Fremden".
Nur wenige Freundschaften
Ähnlich verhielten sich auch die Erwachsenen. Abgesehen von den beruflichen Kontakten der Väter gab es nur wenige Freundschaften oder gar Liebesbeziehungen zwischen deutschen Emigranten und Einheimischen. Man blieb weitgehend unter sich und pflegte eine sehr deutsche Form der Geselligkeit: gegenseitige Einladungen zum Sonntagsbraten oder zum Kaffeeklatsch. Gemeinsame Sonntagsausflüge in die Natur, die Damen im Sonntagskleid, die Herren zünftig mit Knickerbockern und Spazierstock ausgerüstet.
Politisch betätigen durften sich die Emigranten allerdings nicht. Stattdessen gab es Vortragsabende über Themen wie "Der Begriff der Humanität von Hegel bis Nietzsche". So war es für die Rubens bereits ein aufregendes Ereignis, dass sie eines Tages von ihrem türkischen Milchmann in dessen Dorf zum Mittagessen eingeladen wurden. Derartige Begegnungen sind freilich damals eher die Ausnahme als die Regel gewesen.
1939 endete dieses vergleichsweise sorglose Leben abrupt. Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen beginnt der Zweite Weltkrieg. Die Türkei versuchte zunächst sich herauszuhalten. Doch spätestens seit 1941 waren alle ihre Nachbarstaaten in diesen Krieg verwickelt. "Das war ziemlich belastend", erinnert sich Gerhard Ruben. "Wir hatten das Gefühl, es ist nur eine Frage der Zeit, dann zieht die Wehrmacht durch die Türkei in den Kaukasus. Sie hätten kaum Widerstand gefunden." Hinzu kommt, dass das deutsche Reich allen Emigranten, die sich weigern, nach Deutschland zurückzukehren, die Staatsbürgerschaft entzieht.
"Haymatloz"
Auch die Rubens werden ausgebürgert. "Haymatloz" schreiben die türkischen Behörden in ihre Behelfs-Papiere, zu deutsch "staatenlos". 1944 tritt die Türkei an der Seite der Alliierten in den Krieg ein. Alle Deutschen, ob Nazis oder Nazi-Gegner, sind nun plötzlich "feindliche Ausländer". Viele von ihnen werden interniert. Auch die Rubens: "Wir machten damals Ferien in einem Sommerhäuschen bei Ankara, und da wurde uns gesagt: in 24 Stunden fährt der Bus, da müsst ihr fahren. Wir haben nur das Notwendigste mitgenommen. Aber wir hatten keine Bücher, nichts. Wie das meine Eltern geschafft haben, ist mir heute noch unklar. Ein schauerliches Durcheinander." Allerdings: "Die Internierung war in einer Hinsicht harmlos, man wurde nicht in ein Lager eingesperrt, sondern wir wurden an einen Verbannungsort geschickt. Wir kamen nach Kirsehir".
Der Ort Kirsehir war in der Antike ein wichtiges Handelszentrum. Als die Familie Ruben dort eintrifft, finden sie eine verschlafene Kleinstadt vor, umgeben von anatolischer Steppe, soweit das Auge reicht. Glücklicherweise leben bereits andere Emigranten dort, die ihnen helfen, eine Wohnung zu finden. Es gibt kein fließendes Wasser und nur selten Strom. Die Öllampen, die man zur Beleuchtung verwendet, geben ein so schwaches Licht, dass man nach Einbruch der Dunkelheit nicht mehr lesen kann.
Um sich die Zeit zu vertreiben, bleibt nur noch das Kartenspielen, was die Emigranten auch ausgiebig tun. Gerhard Ruben und sein Bruder Wolfgang langweilen sich entsetzlich. Von geordnetem Schulunterricht kann keine Rede sein. Vater Ruben, von einem Tag auf den anderen aus einem arbeitsamen Wissenschaftlerleben gerissen, erstellt eine umfangreiche ethnologische Studie über Kirsehir.
Palestrina in der Türkei
Und natürlich pflegen die Emigranten die deutsche Kultur. Sie gründen einen Emigrantenchor, der von Eduard Zuckmayer geleitet wird. Auch die Rubens singen dort mit: "Wir hatten ja fruchtbar viel Zeit, und Zuckmayer kannte natürlich die ganze klassische Musik hervorragend. Wir haben also Kirchenmusik gesungen. Da war auch ein katholischer Pfarrer interniert, und ein paar Nonnen aus Österreich. Die hielten Sonntags immer Gottesdienst. Und da haben wir tatsächlich eine Messe des Kirchenmusikers Palestrina gesungen. Mitten in der Türkei!" Dann ist der Krieg zu Ende. Auf dem Umweg über Chile, wo Gerhard und Wolfgang in einer deutschen Schule das Abitur machen, kommen die Rubens schließlich 1950 wieder in Deutschland an. Bewusst entscheiden sie sich seinerzeit für die neu gegründete DDR. Dort erfüllt sich Gerhard Ruben einen alten Traum und beginnt, Astronomie zu studieren.
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