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Krieger, Kalifen, eine kühne Frau
Von Thomas Widmer.
Aufstand und Protest allenthalben, die arabische Welt bewegt sich wieder. Eine kurze Geschichte der Araber vom vorchristlichen König Gindibu über Ägyptens erste Feministin bis zum bedrängten Diktator Ghadhafi.
230 Millionen Araber gibt es heute weltweit. Ihr Name rührt wohl vom semitischen Verb «nomadisieren» und kommt erstmals vor auf einer Inschrift des mesopotamischen Grossreiches Assyrien. 853 vor Christus zieht Assyriens Herrscher in die Schlacht von Karkara, er besiegt «Gindibu, König der Araber» samt 1000 Kamelkriegern. Die alten Araber gelten den Nachbarn als ungemütliches Reitervolk. Sie leben am grünen Rand der Arabischen Halbinsel und auf dieser in wenigen Städten, in Oasen, in der Wüste. Sie züchten Schafe und Kamele und unterhalten Handelskarawanen. Und sie verehren viele Götter, auf dem Boden des heutigen Saudiarabien etwa den Gott Hubal, dessen Statue zu Mekka eine rechte Hand aus Gold hat. Die Nachwelt weiss aus der Poesie viel über früharabische Lebensideale; Grosszügigkeit, Stammestreue, Todesmut sind demnach das Höchste. Spätere Generationen bewundern speziell die «Muallaqat», Oden, in denen einer zum Beispiel Teil um Teil sein Kamel zärtlich besingt. Ein anderer beklagt die kalte Asche, die allein vom weitergezogenen Stamm der Heissersehnten bleibt. «Haltet ein, wir wollen weinen in Erinnerung an die Geliebte und den Zeltplatz»: So klingt Romantik, die aus der Wüste kommt.
Der Schub des Islam
610 nach Christus vernimmt der Kaufmann Mohammed in der Handelsstadt Mekka den Ruf des Erzengels Gabriel. Dieser befiehlt ihm, von Allah zu künden – aus diesem und weiteren «Diktaten» entsteht der Koran. Mohammed wird zur Schicksalsgestalt der Araber und zu einem der wirksamsten Menschen der Geschichte. Indem der arabische Prophet seinem Volk eine neue Version des Eingottglaubens der Christen und Juden bringt, verleiht er den in Fehden verwickelten Arabern eine Mission: den Islam verbreiten. Bald machen sie Weltgeschichte; da die Stämme sich nicht mehr gegenseitig bekriegen dürfen, tragen sie den neuen Glauben nach aussen, die beduinische «Razzia», der schnelle Überfall, wendet sich gegen die Ungläubigen. Rasant entsteht ein Riesenreich. 632 stirbt Mohammed. 636 erobern die Araber Damaskus. 638 fällt Jerusalem. 642 Alexandria in Ägypten. Ebenfalls 642 das persische Sassanidenreich. 711 setzt ein arabisches Heer bei Gibraltar nach Spanien über. Die erste arabische Grossdynastie, die der Omaijaden, ist ausschweifend in Trunk und Trieb. Der Kalif (Herrscher) Abd al-Malik hält auf seinem Thron den Weinbecher in der Hand und hat stets gern zwei Frauen an der Seite. Einmal ordert er von einem Statthalter 30 frische Konkubinen.
Die Rache der eroberten Völker
750 metzelt eine neue arabische Dynastie die Omaijaden. Die Abbasiden stellen in den nächsten Jahrhunderten den Kalifen. Freilich ist dieser bald nur noch eine Symbolgestalt. Der Erfolg der Araber ist ihr Verhängnis. Sie erobern immer neue Gegenden bis nach China – und machen sich im eigenen Reich zur Minderheit. Die Araber stossen auf alte Völker, die an der eigenen Kultur festhalten, auch wenn sie die neue Religion annehmen. «Schuubija», zu Deutsch etwa «Völkerei», heisst die Rache der Besiegten, das arabische Wort bezeichnet die innerislamische Nicht-Araber-Bewegung, die an die Macht will. Vor allem die Perser erobern sich im Reich einflussreiche Posten. Etwa die Sippe der Barmakiden, die in der Steuer- und Heeresverwaltung sagenhaft reich wird. Als der arabische Abbasiden-Kalif Harun al-Raschid, bekannt als Märchenkönig aus «Tausendundeine Nacht», um 800 regiert, wird seine Grösse zeitweise von der der Barmakiden übertroffen. Die arabischen Kalifen sind irgendwann bloss Repräsentativfiguren. Immerhin vollziehen sich die grandiosen Kulturleistungen weitgehend in ihrer Sprache. Der Orient ist, auch dank Übersetzungen aus dem Griechischen, in Disziplinen wie Mathematik, Astronomie, Medizin dem Okzident weit überlegen. Der geniale Arzt Razi beschreibt detailliert Pocken und Masern, erkennt den Einfluss der Seele auf den Leib, verfasst eine Arzt-Ethik: «Mein Beruf verbietet es, der Menschheit Leid zuzufügen, er ist eingerichtet zu Nutzen und Wohlfahrt des Menschengeschlechts, Gott hat uns Ärzten auferlegt, keine todbringenden Arzneien zu mischen.»
Schädelpyramide in Bagdad
1258 zerstört das asiatische Reitervolk der Mongolen Bagdad, tötet den Abbasiden-Kalifen, massakriert Hunderttausende, errichtet eine Schädelpyramide – die Endzeit der Araber scheint da. Ihre Erben werden die türkischen Osmanen. Die Metropole des Osmanenreichs ist Konstantinopel, das heutige Istanbul. Die Araber sind in dem türkischen Vielvölkergebilde zerlumpte Untertanen und bleiben es bis ins frühe 20. Jahrhundert; das Königreich Marokko immerhin fällt nie den Osmanen anheim. Die Landung Napoleons in Ägypten 1798, die dabei sich zeigende zivilisatorische Überlegenheit der Europäer rütteln die Araber dann heftig durch. 1826 wird ein junger Mann aus Kairo zu Studienzwecken nach Paris geschickt. Er bleibt fünf Jahre und schreibt einen Reisebericht, der zum Bestseller der arabischen Welt wird. Rifaa al-Tahtawi schwärmt von den Rechten französischer Bürger. Er sagt, dass die Europäer «die höchste Stufe der Meisterschaft in den mathematischen, physischen und metaphysischen Dimensionen erreicht» haben. Und er nennt den Zustand der arabischen Zivilisation «Nacht der Unwissenheit».
Nahda, arabische Renaissance
Al-Nahda, die arabische «Renaissance», ist eine Folge des Modernitätsschocks. Europa tritt gegen die Türken als Kolonisator an, die Araber fühlen sich schrecklich unterlegen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formulieren ihre Denker Reformvisionen. Manche propagieren den Islam, andere setzen auf das Arabertum und den Nationalismus. Der Ägypter Mohammed Abdu wird besonders einflussreich. Er fordert – das ist revolutionär –, dass sich der Islam der Moderne anpassen soll. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt dann mit dem ägyptischen Intellektuellen Taha Hussein jener Mann an, der die Nahda im Alleingang am weitesten vorwärtsbringt. Als Kind erblindet, hat er doch an der Sorbonne studiert. 1950 bis 1952 ist er Erziehungsminister. Taha Hussein steht für Rationalität, Fortschritt und Aufklärung. «Wir müssen immer wissenschaftlich und nach den Gesetzen der Vernunft denken, ohne jede Leidenschaft und ohne nationalen und religiösen Chauvinismus», schreibt er. Früh stehen auch selbstbewusste Frauen auf. Huda Shaarawi, eine Ägypterin der Oberschicht, ist schon in jungen Jahren eine selbstbewusste Kämpferin für Frauenrechte. Sie kauft in einem Kleiderladen in Alexandria eigenhändig ein, anstatt eine Dienerin die Kleider zur Anprobe ins Haus liefern zu lassen. 1919 führt sie die erste Strassendemonstration arabischer Frauen an, wird bald erste Präsidentin der Ägyptischen Feministischen Union. Als Huda Shaarawi öffentlich den Schleier vom Gesicht nimmt, ist das ein Schlüsselmoment der arabischen Geschichte.
Die Diktatoren übernehmen
Nach dem Zweiten Weltkrieg flammt der Antikolonialismus stark auf. Wer sich als Herrscher von den Grossmächten gängeln lässt, hat im Volk keinen Kredit. In Ägypten verjagen Putschoffiziere um Gamal Abdel Nasser den König. Ideologen wie der Syrer Michel Aflaq formulieren eine militante Version des arabischen Sozialismus, die Baath-Ideologie. Der Islam spielt dabei keine zentrale Rolle, Aflaq ist Araber, aber auch Christ. Massgebliche politische Kraft soll die arabische Nation als Ganzes sein, die die westliche Dominanz vollends überwinden und die Zionisten aus Israel verjagen kann. «Die Araber bilden eine einzige Nation. Es ist ihr natürliches Recht, in einem einzigen Staat zu leben und ihre Potenzen frei zu entwickeln», heisst es 1947 in der Baath-Charta. In der arabischen Welt kommt es in der Folge mehrfach zu Länderfusionen, so bilden Irak und Jordanien 1958 eine «Arabischen Föderation». Diese und andere «panarabische» Projekte scheitern, letztlich sind es die Alleinherrscher, Despoten, Diktatoren, die den nationalistischen Schub für sich selber umnutzen: Nasser in Ägypten, Ghadhafi in Libyen, Saddam Hussein in Irak, Hafez al-Assad in Syrien. Das Schicksal Michel Aflaqs illustriert, wie der Nationalismus seine Intellektuellen behandelt. Aflaq muss 1952 ein erstes Mal aus Syrien fliehen, seine Biografie ist hernach durchzogen von diversen Exilaufenthalten unter anderem in Deutschland und Brasilien. Er endet in Bagdad als total kaltgestelltes Regierungsmitglied. Als er stirbt, wird eine pompös-heuchlerische Zeremonie veranstaltet. Einer der Sargträger ist der Diktator Saddam Hussein.
Abstecher in den Islamismus
Die arabischen Despoten halten sich hartnäckig. Doch ihre Reden klingen allmählich hohl. 1967 erleiden die vom Volkstribun Nasser geführten Araber gegen Israel eine üble Niederlage. Die enttäuschten Massen wenden sich vom Nationalismus ab und dem politisierten Islam zu. In vielen Ländern nehmen Fundamentalisten den Kampf gegen ihre unterdrückerischen Nationalregimes auf. In der syrischen Stadt Hama nisten sich die Muslimbrüder ein, deren Bewegung aus dem antikolonialistischen Kampf Ägyptens gegen die Engländer geboren wurde. 1982 attackiert Syriens Armee nach einem Aufstand Hama, Zehntausende sterben, zuerst unter dem Beschuss der Artillerie, dann in den Liquidierungsaktionen der Geheimpolizei. Andere islamistische Araber nehmen sich den Westen zu Feind und werden so zu Nachfolgern der palästinensischen Politterroristen, die im Kampf gegen Israel Flugzeuge entführten. Der Aufstieg der Terrororganisation al-Qaida gipfelt schliesslich in der Attacke auf die Doppeltürme des New Yorker World Trade Center 2001. Die Araber haben so, im Drang nach Veränderung, den Irrweg über fundamentalistisches Terrain eingeschlagen. Die Direttissima zur Selbstbefreiung hätte darin bestanden, sich unmittelbar von den eigenen Diktatoren zu emanzipieren. Doch diese wurden oft auch vom Westen gestützt, ihre Herrschaft erschien lange wie zementiert. Neuerdings aber, durch all die Erhebungen von Algerien bis Bahrain, ist die Zukunft wieder gestaltbar. Die Geschichte steht nie still, auch nicht die der Araber.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 30.03.2011, 21:26 Uhr
nur so zum lesen....
Von Thomas Widmer.
Aufstand und Protest allenthalben, die arabische Welt bewegt sich wieder. Eine kurze Geschichte der Araber vom vorchristlichen König Gindibu über Ägyptens erste Feministin bis zum bedrängten Diktator Ghadhafi.
230 Millionen Araber gibt es heute weltweit. Ihr Name rührt wohl vom semitischen Verb «nomadisieren» und kommt erstmals vor auf einer Inschrift des mesopotamischen Grossreiches Assyrien. 853 vor Christus zieht Assyriens Herrscher in die Schlacht von Karkara, er besiegt «Gindibu, König der Araber» samt 1000 Kamelkriegern. Die alten Araber gelten den Nachbarn als ungemütliches Reitervolk. Sie leben am grünen Rand der Arabischen Halbinsel und auf dieser in wenigen Städten, in Oasen, in der Wüste. Sie züchten Schafe und Kamele und unterhalten Handelskarawanen. Und sie verehren viele Götter, auf dem Boden des heutigen Saudiarabien etwa den Gott Hubal, dessen Statue zu Mekka eine rechte Hand aus Gold hat. Die Nachwelt weiss aus der Poesie viel über früharabische Lebensideale; Grosszügigkeit, Stammestreue, Todesmut sind demnach das Höchste. Spätere Generationen bewundern speziell die «Muallaqat», Oden, in denen einer zum Beispiel Teil um Teil sein Kamel zärtlich besingt. Ein anderer beklagt die kalte Asche, die allein vom weitergezogenen Stamm der Heissersehnten bleibt. «Haltet ein, wir wollen weinen in Erinnerung an die Geliebte und den Zeltplatz»: So klingt Romantik, die aus der Wüste kommt.
Der Schub des Islam
610 nach Christus vernimmt der Kaufmann Mohammed in der Handelsstadt Mekka den Ruf des Erzengels Gabriel. Dieser befiehlt ihm, von Allah zu künden – aus diesem und weiteren «Diktaten» entsteht der Koran. Mohammed wird zur Schicksalsgestalt der Araber und zu einem der wirksamsten Menschen der Geschichte. Indem der arabische Prophet seinem Volk eine neue Version des Eingottglaubens der Christen und Juden bringt, verleiht er den in Fehden verwickelten Arabern eine Mission: den Islam verbreiten. Bald machen sie Weltgeschichte; da die Stämme sich nicht mehr gegenseitig bekriegen dürfen, tragen sie den neuen Glauben nach aussen, die beduinische «Razzia», der schnelle Überfall, wendet sich gegen die Ungläubigen. Rasant entsteht ein Riesenreich. 632 stirbt Mohammed. 636 erobern die Araber Damaskus. 638 fällt Jerusalem. 642 Alexandria in Ägypten. Ebenfalls 642 das persische Sassanidenreich. 711 setzt ein arabisches Heer bei Gibraltar nach Spanien über. Die erste arabische Grossdynastie, die der Omaijaden, ist ausschweifend in Trunk und Trieb. Der Kalif (Herrscher) Abd al-Malik hält auf seinem Thron den Weinbecher in der Hand und hat stets gern zwei Frauen an der Seite. Einmal ordert er von einem Statthalter 30 frische Konkubinen.
Die Rache der eroberten Völker
750 metzelt eine neue arabische Dynastie die Omaijaden. Die Abbasiden stellen in den nächsten Jahrhunderten den Kalifen. Freilich ist dieser bald nur noch eine Symbolgestalt. Der Erfolg der Araber ist ihr Verhängnis. Sie erobern immer neue Gegenden bis nach China – und machen sich im eigenen Reich zur Minderheit. Die Araber stossen auf alte Völker, die an der eigenen Kultur festhalten, auch wenn sie die neue Religion annehmen. «Schuubija», zu Deutsch etwa «Völkerei», heisst die Rache der Besiegten, das arabische Wort bezeichnet die innerislamische Nicht-Araber-Bewegung, die an die Macht will. Vor allem die Perser erobern sich im Reich einflussreiche Posten. Etwa die Sippe der Barmakiden, die in der Steuer- und Heeresverwaltung sagenhaft reich wird. Als der arabische Abbasiden-Kalif Harun al-Raschid, bekannt als Märchenkönig aus «Tausendundeine Nacht», um 800 regiert, wird seine Grösse zeitweise von der der Barmakiden übertroffen. Die arabischen Kalifen sind irgendwann bloss Repräsentativfiguren. Immerhin vollziehen sich die grandiosen Kulturleistungen weitgehend in ihrer Sprache. Der Orient ist, auch dank Übersetzungen aus dem Griechischen, in Disziplinen wie Mathematik, Astronomie, Medizin dem Okzident weit überlegen. Der geniale Arzt Razi beschreibt detailliert Pocken und Masern, erkennt den Einfluss der Seele auf den Leib, verfasst eine Arzt-Ethik: «Mein Beruf verbietet es, der Menschheit Leid zuzufügen, er ist eingerichtet zu Nutzen und Wohlfahrt des Menschengeschlechts, Gott hat uns Ärzten auferlegt, keine todbringenden Arzneien zu mischen.»
Schädelpyramide in Bagdad
1258 zerstört das asiatische Reitervolk der Mongolen Bagdad, tötet den Abbasiden-Kalifen, massakriert Hunderttausende, errichtet eine Schädelpyramide – die Endzeit der Araber scheint da. Ihre Erben werden die türkischen Osmanen. Die Metropole des Osmanenreichs ist Konstantinopel, das heutige Istanbul. Die Araber sind in dem türkischen Vielvölkergebilde zerlumpte Untertanen und bleiben es bis ins frühe 20. Jahrhundert; das Königreich Marokko immerhin fällt nie den Osmanen anheim. Die Landung Napoleons in Ägypten 1798, die dabei sich zeigende zivilisatorische Überlegenheit der Europäer rütteln die Araber dann heftig durch. 1826 wird ein junger Mann aus Kairo zu Studienzwecken nach Paris geschickt. Er bleibt fünf Jahre und schreibt einen Reisebericht, der zum Bestseller der arabischen Welt wird. Rifaa al-Tahtawi schwärmt von den Rechten französischer Bürger. Er sagt, dass die Europäer «die höchste Stufe der Meisterschaft in den mathematischen, physischen und metaphysischen Dimensionen erreicht» haben. Und er nennt den Zustand der arabischen Zivilisation «Nacht der Unwissenheit».
Nahda, arabische Renaissance
Al-Nahda, die arabische «Renaissance», ist eine Folge des Modernitätsschocks. Europa tritt gegen die Türken als Kolonisator an, die Araber fühlen sich schrecklich unterlegen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formulieren ihre Denker Reformvisionen. Manche propagieren den Islam, andere setzen auf das Arabertum und den Nationalismus. Der Ägypter Mohammed Abdu wird besonders einflussreich. Er fordert – das ist revolutionär –, dass sich der Islam der Moderne anpassen soll. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts tritt dann mit dem ägyptischen Intellektuellen Taha Hussein jener Mann an, der die Nahda im Alleingang am weitesten vorwärtsbringt. Als Kind erblindet, hat er doch an der Sorbonne studiert. 1950 bis 1952 ist er Erziehungsminister. Taha Hussein steht für Rationalität, Fortschritt und Aufklärung. «Wir müssen immer wissenschaftlich und nach den Gesetzen der Vernunft denken, ohne jede Leidenschaft und ohne nationalen und religiösen Chauvinismus», schreibt er. Früh stehen auch selbstbewusste Frauen auf. Huda Shaarawi, eine Ägypterin der Oberschicht, ist schon in jungen Jahren eine selbstbewusste Kämpferin für Frauenrechte. Sie kauft in einem Kleiderladen in Alexandria eigenhändig ein, anstatt eine Dienerin die Kleider zur Anprobe ins Haus liefern zu lassen. 1919 führt sie die erste Strassendemonstration arabischer Frauen an, wird bald erste Präsidentin der Ägyptischen Feministischen Union. Als Huda Shaarawi öffentlich den Schleier vom Gesicht nimmt, ist das ein Schlüsselmoment der arabischen Geschichte.
Die Diktatoren übernehmen
Nach dem Zweiten Weltkrieg flammt der Antikolonialismus stark auf. Wer sich als Herrscher von den Grossmächten gängeln lässt, hat im Volk keinen Kredit. In Ägypten verjagen Putschoffiziere um Gamal Abdel Nasser den König. Ideologen wie der Syrer Michel Aflaq formulieren eine militante Version des arabischen Sozialismus, die Baath-Ideologie. Der Islam spielt dabei keine zentrale Rolle, Aflaq ist Araber, aber auch Christ. Massgebliche politische Kraft soll die arabische Nation als Ganzes sein, die die westliche Dominanz vollends überwinden und die Zionisten aus Israel verjagen kann. «Die Araber bilden eine einzige Nation. Es ist ihr natürliches Recht, in einem einzigen Staat zu leben und ihre Potenzen frei zu entwickeln», heisst es 1947 in der Baath-Charta. In der arabischen Welt kommt es in der Folge mehrfach zu Länderfusionen, so bilden Irak und Jordanien 1958 eine «Arabischen Föderation». Diese und andere «panarabische» Projekte scheitern, letztlich sind es die Alleinherrscher, Despoten, Diktatoren, die den nationalistischen Schub für sich selber umnutzen: Nasser in Ägypten, Ghadhafi in Libyen, Saddam Hussein in Irak, Hafez al-Assad in Syrien. Das Schicksal Michel Aflaqs illustriert, wie der Nationalismus seine Intellektuellen behandelt. Aflaq muss 1952 ein erstes Mal aus Syrien fliehen, seine Biografie ist hernach durchzogen von diversen Exilaufenthalten unter anderem in Deutschland und Brasilien. Er endet in Bagdad als total kaltgestelltes Regierungsmitglied. Als er stirbt, wird eine pompös-heuchlerische Zeremonie veranstaltet. Einer der Sargträger ist der Diktator Saddam Hussein.
Abstecher in den Islamismus
Die arabischen Despoten halten sich hartnäckig. Doch ihre Reden klingen allmählich hohl. 1967 erleiden die vom Volkstribun Nasser geführten Araber gegen Israel eine üble Niederlage. Die enttäuschten Massen wenden sich vom Nationalismus ab und dem politisierten Islam zu. In vielen Ländern nehmen Fundamentalisten den Kampf gegen ihre unterdrückerischen Nationalregimes auf. In der syrischen Stadt Hama nisten sich die Muslimbrüder ein, deren Bewegung aus dem antikolonialistischen Kampf Ägyptens gegen die Engländer geboren wurde. 1982 attackiert Syriens Armee nach einem Aufstand Hama, Zehntausende sterben, zuerst unter dem Beschuss der Artillerie, dann in den Liquidierungsaktionen der Geheimpolizei. Andere islamistische Araber nehmen sich den Westen zu Feind und werden so zu Nachfolgern der palästinensischen Politterroristen, die im Kampf gegen Israel Flugzeuge entführten. Der Aufstieg der Terrororganisation al-Qaida gipfelt schliesslich in der Attacke auf die Doppeltürme des New Yorker World Trade Center 2001. Die Araber haben so, im Drang nach Veränderung, den Irrweg über fundamentalistisches Terrain eingeschlagen. Die Direttissima zur Selbstbefreiung hätte darin bestanden, sich unmittelbar von den eigenen Diktatoren zu emanzipieren. Doch diese wurden oft auch vom Westen gestützt, ihre Herrschaft erschien lange wie zementiert. Neuerdings aber, durch all die Erhebungen von Algerien bis Bahrain, ist die Zukunft wieder gestaltbar. Die Geschichte steht nie still, auch nicht die der Araber.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 30.03.2011, 21:26 Uhr
nur so zum lesen....