G
Gast829627
Guest
Mörder für zwei Wochen
Der Serbe Goran Jelisić nannte sich Adolf. Als Polizist im Bürgerkrieg in Bosnien genoss er es, Muslime zu töten. Später rettete er Leben. Heute sitzt er als Kriegsverbrecher im Gefängnis
Von Erwin Koch
Am Anfang ist dieses Bild. Zwei Männer gehen durch eine Straße, der eine vorn, der andere hinten, die Straße, eine Sackgasse, ist mit Platten belegt, und die Platten sind voller Sand und Staub, am hellen Tag. Der vorn zieht die Schultern hoch, steif geht er in brauner Jacke und leichten Schuhen, der hinten trägt ein blaues Hemd mit kurzen Ärmeln, das Hemd der Polizei, ein Schlagstock hängt am Gürtel, es war Krieg in Bosnien, der 6. Mai 1992, Vormittag, sie gehen langsam, vorbei an einem Mann, der am Boden liegt, linke Bildecke unten, blutend, tot, einen Arm seltsam verkrümmt, als wollte er sich schützen. Der Hintere hat eine Pistole in der Rechten, Scorpion mit Schalldämpfer, sein Arm ist in eine weiße Binde geschlagen. Neben der Straße steht ein Haus, das es heute noch gibt, ein altes Haus mit großen Fenstern, damals nackt, jetzt, zwölf Jahre später, mit Efeu bezogen. Der Hintere richtet seine Waffe auf den Kopf des Vorderen und schießt – die Wahrheit war ein Unfall, dieses Bild nicht vorgesehen: Hinrichtung eines Gefangenen, Muslim, wehrlos.
Der Fotograf, ein Serbe, war von Serben gerufen worden, Werbung für die serbische Sache, Propaganda, einen leeren Sarg sollte er fotografieren, daneben eine Frau, die zum Schein weint: Trauernde Serbin am Sarg ihres unschuldigen, von Muslimen ermordeten Mannes. Doch der Fotograf kam zu früh und hielt fest, was er sah, ein Verbrechen, sein Bild ging um die Welt und gewann einen Preis, World Press Photo Award 1993, Premier Prix Photos Individuelles, der Krieg in Brcko, Nordbosnien, war sechs Tage alt, der Mörder seit zwei Tagen in Uniform, Goran Jelisić, ein bosnischer Serbe, vierundzwanzig, Traktorfahrer von Beruf, ein Mensch aus der Nachbarstadt Bijeljina, seine zweite Hinrichtung an diesem Tag. Jetzt stehen große grüne Schirme in der kurzen Gasse, die keinen Namen hat, Preminger Lager Beer, Korbstühle mit gelben Kissen, Tuborg, Kodak, ein Geschäft für Brautkleider, und Goran Jelisić, der vierzehn Maitage lang ein blaues Hemd besaß, eine Pistole und ein Funkgerät der Marke Motorola, lebt in einem italienischen Kerker, verurteilt zu vierzig Jahren Gefängnis vom Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen in Den Haag, manchmal ruft er seinen Vater an und sagt: Papa, erzähl mir vom Fischen.
Der Vater ist dünn und hoch, barfuß sitzt er auf dem Sofa seiner Schwiegertochter Ana, geborene Perić, neunter Stock, Gavrila Principa 22, Wohnung 53, 76300 Bijeljina, ein leiser schüchterner Mensch hinter großer Brille, und versucht zu lächeln. Als Kind, sagt er, spielte Goran am liebsten Ball.
Sommer für Sommer, sagt der Alte, fuhren wir nach Split zu Gorans Onkel, Goran und ich im kleinen Fiat, und immer war er so glücklich, wenn wir das Meer sahen, und war er glücklich, war ich es auch, und das kann ich nicht vergessen, vielleicht wäre es besser, ich könnte es.
Dickes Glas schützt den Kaffeetisch, eine Stickerei, Blümchen mit rosa Blüten, lila Tauben, die grüne Zweige in ihren Schnäbeln tragen.
Gorans Kindheit war normal, alles war normal, sagt der Vater und blickt zum Anwalt, der neben ihm sitzt, der Anwalt, Veselin Londrović, wiegt den Kopf und schweigt.
Der Junge Goran weinte nie, nur einmal, als seine Großmutter starb
Ein Leben in Bijeljina am Ufer der Drina, die Bosnien von Serbien trennt, vierzigtausend Menschen, fast die Hälfte davon Muslime, fünf Moscheen, ein orthodoxes Kloster. Am 7. Juni 1968 gebar Ivanka Jelisić, Frau des Buchhalters Aleksandar Jelisić, einen Sohn, Goran, ihr zweites Kind, das so anders wurde als das erste. Goran war laut, von vielen geliebt, ein schlechter Schüler und selten zu Hause, Goran weinte nie, weinte nur, als seine Großmutter starb, bei der er gelebt hatte, wenn die Mutter krank war. Acht Jahre lang zwangen ihn die Eltern zur Schule, der Vater nahm ihn zum Fischen mit, lehrte Goran den Hecht vom Wels zu unterscheiden, den Wels vom Sterlet, tagelang saßen sie an der Drina und schwiegen, Politik war Sache der Politiker, schmutzig, gemein. Goran liebte die Mädchen, sie ihn, er hasste die Arbeit, Goran Jelisić wurde Traktorfahrer und wechselte die Stellen, die sein Vater für ihn suchte, immer wieder, Jelisić wurde Soldat der Jugoslawischen Volksarmee, er war nicht besonders, fiel nicht auf, Jelisić kehrte zu den Eltern zurück in ein kleines graues Haus am Nordrand der Stadt, Slobodana Jovanović 5, Antenne auf dem Dach, Garage im Garten. Er wechselte die Stellen und begann zu trinken, hatte kein Geld, begann zu betrügen, zu fälschen, sechzehnmal, bis die Polizei ihn nach Tuzla ins Gefängnis brachte, 13. November 1990, zweiundzwanzig Jahre alt. Dort war er bis zum 22. Februar 1991 und schrieb seinem Richter, er bringe sich um, wenn er hier noch länger bleiben müsse, er erschieße, vergifte, erhänge sich, der Richter Veselin Londrović bestrafte ihn mit viereinhalb Jahren Gefängnis, Jelisić ging in Berufung und kam, bis das Gericht neu entscheiden würde, frei – doch dann war Krieg in Bosnien-Herzegowina, in Sarajevo, der Hauptstadt, in Mostar, endlich in Bijeljina, dem Nest im Norden, wo die Drina lautlos in die Save fließt.
Eigentlich dürfte Goran Jelisić jede Woche nur während zehn Minuten telefonieren. Weil er sich gut beträgt in Italiens Gefängnis und nicht auffällt, darf er es zweimal in der Woche. Dann wählt er die Nummer seiner Frau Ana, die immer trauriger wird und dünner, und wartet, bis er ihre Stimme hört. Er sagt: Ich brauche dich. Und dann sagt sie: Ich dich auch.
Seine Andenken stehen auf einem hellen Möbel an der Wand, Goran im Spielsalon, halb nackt und rauchend, Goran bei seiner Hochzeit, Goran, mit hängenden Armen, im neuen blauen Trainingsanzug, plump, sein Blick fast schüchtern, arglos, lieb, die Muttergottes und ihr Kind hängen unter Gorans Bild, ein bärtiger Heiliger, so mag sie ihn, so verliebte sich das Mädchen in den Mann, damals in einem Café in der Mitte der Stadt Bijeljina, als Ana glaubte, der Krieg sei längst vorbei.
Ana Jelisić sitzt auf einem Stuhl, das eine Bein über dem andern, sie lächelt und weiß nicht, wohin mit ihren langen weißen Nägeln.
Es war Liebe auf den ersten Blick, sagt sie und kichert. Wussten Sie, dass Goran Jelisić gesucht wurde, dass sein Name auf der Liste möglicher Kriegsverbrecher stand? Davon hatte ich gehört, antwortet die Frau, doch kümmerte es mich nicht. Ana, was lieben Sie an ihm? Sie schweigt und zupft sich das Haar, schaut zum Anwalt, der nickt. Alles, sagt sie, ich liebe alles an ihm, ich kann ohne ihn nicht sein, sagt Ana Jelisić. Goran ist ein ehrlicher Mensch, sagt sein Vater. Charmant, flüstert Ana.
Es war Krieg, und er mordete – nachweislich fünfzehnmal
Sie war sechzehn, als sie ihn zum ersten Mal sah in einem Café in der Mitte der gewöhnlichen Stadt Bijeljina, die einst fünf Moscheen hatte, nun fünf Hügel aus weißen Trümmern, Goran Jelisić war siebenundzwanzig, Kriegsveteran, er setzte sich an ihren Tisch, war witzig und sanft, im Februar 1995 zog Ana zu ihm an die Slobodana Jovanović, im September heirateten sie, im Oktober gebar Ana einen Sohn, den sie auf den Namen seines Großvaters taufte, Gorans Vater, Buchhalter in einer Schule, Aleksandar.
Das Bild, das Goran Jelisić bekannt machte, zeigt ihn von hinten. Sein Haar ist dunkel, kurz und sauber, ein gepflegter Mensch im sauberen blauen Hemd. Als der Mann, der vor ihm geht, steif vor Angst, getroffen am Boden liegt, schießt ihm Jelisić eine zweite Kugel in den Kopf. So, im Lauf von vierzehn Maitagen, tat er es zumindest mit fünfzehn Menschen, wahrscheinlich mit mehr als hundert.
Goran Jelisić.
Ich habe ihn immer geliebt, sagt der Vater, und ich liebe ihn noch, ich habe keine andere Wahl. Fühlen Sie sich schuldig? Er schweigt, winkt ab, lautlos und alt, er öffnet den Mund und will reden, hat keine Stimme. Wasser in den Augen. Eines Abends, sagt er nun trotzig, sei er, Aleksandar Jelisić, nach Hause gekommen, habe seine Frau in Tränen gefunden, April 1992, als der Krieg Bijeljina erreichte, dieser Krieg, ein Ungeheuer mit hundert Schwänzen und tausend Köpfen. Die Frau erzählte, ein Mann habe angerufen und gesagt, Goran sei zuoberst auf der Liste derer, die die Muslime zu töten suchten. Schließlich, sagt der Vater, trat auch Goran ins Haus und hörte mit. Wir fuhren los und versteckten uns in einem Dorf an der Straße nach Belgrad, und nachts, so erzählten die Nachbarn später, umstellten Männer das Haus an der Slobodana Jovanović, fingerlose Handschuhe an den Händen, schlugen an die Tür, an die Fenster und zogen endlich wieder ab, als sie Goran nicht fanden.
In dieser Nacht, sagt der Vater mit lauter tiefer Stimme, begann für Goran der Krieg. Sie wollten ihn töten. Weshalb? Es war Krieg in Bijeljina. Alle gegen alle. Ana zupft das Haar und weiß nicht, wohin mit den langen weißen Nägeln. Und dann? Ging er nach Brcko, vierzig Kilometer von hier. Als Freiwilliger. Wo er eine Uniform bekam, das blaue Hemd der Polizei. Sein Verderben. Und meins.
Die Stadt Brcko im Norden Bosniens war, als der Schrecken auch sie einholte, am 30. April 1992, ein friedvoller Ort, vierzigtausend Menschen, die Mehrheit davon Muslime. Brcko liegt am südlichen Ufer der Save, die Bosnien-Herzegowina von Kroatien trennt. Und Brcko hat einen Hafen, Luka. Die Anlage zieht sich über mehrere hundert Meter, links die Lagerhallen, eine nach der andern, rechts die Büros. Brcko war für die bosnischen Serben von strategischer Bedeutung, und also versuchten sie, alle Nichtserben zu vertreiben. Am frühen Morgen des 30. April 1992, ohne Warnung, sprengten sie die Brücke über dem Fluss und mit ihr Dutzende von Menschen. Der Beginn der serbischen Offensive. Goran Jelisić erreichte Brcko an ebendiesem Tag. Serbische Männer holten Muslime und Kroaten aus ihren Häusern und sperrten sie in Sporthallen, Hotels, in die Lagerhalle Nummer 1 von Luka, ihre Mauern, heute, sind rosarot.
Manchmal, am Telefon, fragt Goran Jelisić: Wie ist das Wetter bei euch? Er weint nie, wenn er anruft. Er sagt: Das Leben in Italien ist nicht schlecht. Dann erzählt Ana, nun sechsundzwanzig Jahre alt, ihr Sohn sei der Beste seiner Klasse. Jelisić fragt: Geht der Kleine zum Fischen? Ana kann kaum noch essen, kaum schlafen, sie wartet auf Goran und das Leben, Ana schluckt Tabletten, und bevor sie umfällt vor Schwäche, bringt ihre Mutter sie ins Krankenhaus. Ana zupft das Haar und lächelt tapfer.
Es gibt keinen Vater, der zärtlicher ist zu seinem Sohn, flüstert Ana und schaut zum Anwalt.
Eines Tages, als der Krieg längst vorbei war, 1997, trat Goran Jelisić, der sich als Getränkehändler versuchte, als Buchhändler und Traktorfahrer, in die Kanzlei des Rechtsanwalts und früheren Richters Veselin Londrović. Londrović erkannte den Mann nicht mehr, erinnerte sich nicht, dass er, sechs Jahre zuvor, Jelisić, den Kleinkriminellen, zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Er werde heimlich fotografiert, sagte Jelisić, von den Truppen der Vereinten Nationen, SFor, man wolle ihn nach Den Haag bringen vor das Kriegsverbrechertribunal, er bitte ihn, Anwalt Londrović, um seine Hilfe, seine Verteidigung, sollte er je gefangen werden.
Ana, war Ihr Mann nie traurig? Er war traurig, wenn jemand anrief und ihm sagte, er müsse sich wieder verstecken, dann ging er aus dem Haus und setzte sich an den Fluss und fischte, fischte, beim Fischen fand er Frieden. Ja, sagt der Vater, seine Fische. Ein Aquarium steht an der Gavrila Principa 22/53, darauf ein Dach aus kleinen hölzernen Schindeln. Man trinkt Kaffee und schweigt.
Am Morgen des 22. Januar 1998, einem Donnerstag, stand Ana Jelisić am Fenster ihrer Wohnung und sah hinab auf die Straße, sie dachte an ihren Mann Goran, der schlecht geschlafen und, als er aufstand, um Beruhigungstabletten gebeten hatte, sie sah hinab, sah, wie er die Straße überquerte, die nach Brcko führt. Da stürzte sich ein Mann auf ihn, warf ihn zu Boden, andere Männer rannten herbei, sperrten die Straße ab, legten Jelisić in Fesseln und schoben ihn in einen Wagen. Am Abend rief er an, sagte, er sei in Den Haag, bitte ruf den Anwalt an.
Ich kann nicht begreifen, flüstert der alte Vater, kann nicht begreifen. Er schiebt die große Brille hoch. Kann nicht begreifen, dass er so viele Menschen tötete, Muslime, Muslime waren seine Freunde, mit Muslimen gingen wir fischen, Muslime waren unsere Nachbarn.
Vier Tage nach seiner Verhaftung, am 26. Januar 1998 um zwei Uhr nachmittags, stand Goran Jelisić, nun dreißigjährig, vor seinen Richtern, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY), Fall IT-95-10-PT, stehend und höflich gab er Auskunft: Ich heiße Goran Jelisić, bin auch bekannt unter dem Spitznamen Adolf, geboren wurde ich am 7. Juni 1968 in Bijeljina, und von Beruf fahre ich Landwirtschaftsmaschinen.
Ich begreife nicht, weint der Vater.
Die Gerichtsdienerin las die Anklage vor, Völkermord an Muslimen, Verletzung der Kriegsgesetze oder Kriegsgebräuche in sechzehn Fällen, also Mord, grausame Behandlung, Plünderung, sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit in fünfzehn Fällen. Begangen zwischen dem 6. und dem 20.Mai 1992. Ein Richter bat, Jelisić möge zu allen Punkten Stellung nehmen. Das sei nicht notwendig, sagte Jelisić, die ganze Anklage sei erfunden und falsch, neunundfünfzigmal sprach er dann die Worte: nicht schuldig, nicht schuldig, nicht schuldig. Im Übrigen, sagte er, habe er nichts beizufügen.
Zehn der achtzehn Zeugen, die wir für Gorans Verteidigung beibrachten, waren Muslime, sagt der Anwalt, Veselin Londrović, zehn von achtzehn, die über Goran Jelisić nur Bestes erzählten.
Der Verteidiger blättert in einer blauen Mappe.
Hier, der Zeuge DJ, ein Muslim, der von Serben misshandelt wurde. Dem Goran zur Flucht nach Kroatien verhalf, dann auch dessen Vater und dessen Schwester. Denn kaum war Goran von Brcko nach Bijeljina zurückgekehrt, Ende Mai 92, tat er Gutes. Oder Zeugin DI, Muslimin, die mit Goran zur Schule ging. Mehrmals kam Goran in ihr Haus, brachte ihr Geld, kaufte Medikamente für ihr krankes Kind, sie sagte: Goran war wie ein Bruder zu mir, Goran wird für mich immer bleiben, was er war. Zeuge DD, Muslim, der erzählte, wie Goran einer alten Muslimin ein neues Fenster schenkte, als einige Serben nachts eine Granate geworfen hatten. Zeuge DE, Muslim, den Jelisić im November 92 in seinem Fischerboot über die Drina brachte und ihm so das Leben rettete. Der in Den Haag sagte, er kenne in seiner Straße mindestens sieben oder acht muslimische Familien, denen Goran geholfen habe. Der sagte: Goran war immer ein anständiger Mensch. Zeuge DG, Muslim, dem Goran das Geld gab, damit sein Kind, krank an der Milz, operiert werden konnte, Januar 1993. Oder AD, der Präsident des Fischereivereins, ein Mazedonier, der sagte, er könne nicht glauben, dass die berühmten Fotos vom 6. Mai 1992 wirklich Goran zeigten, denn Goran sei ganz anders gewesen, nett, freundlich, anständig. Obwohl Goran zugegeben habe, dass er es sei, der auf den Bildern zu sehen ist, im blauen Hemd der Polizei, die Scorpion in der Hand, Motorola am Gurt.
Er war der Erste, der in Den Haag des Völkermordes angeklagt wurde
Ana sagt: Manchmal sagt er am Telefon: Du riechst nach Mohn und Thymian.
Ana hat keine Arbeit, keine Rente, sie war Friseurin, hatte ihre Lehre eben beendet, als sie in einem Café Goran Jelisić traf, so sanft war er, nun wartet sie auf ihn, hilft ihrer Mutter, wartet, und wenn Aleksandar, der Sohn, fragt, wo sein Vater sei, antwortet sie: Weit weg, weil er im Krieg war und sich verstecken muss. Dann fragt der Sohn: Wann kommt er wieder? Und Ana sagt: Irgendwann, wahrscheinlich bald.
Ana will nicht, dass jemand ein Bild von ihr macht. Nun zieht sie ihren Sohn auf den Schoß, der kurzes braunes Haar hat, sie küsst ihn, hält ihn, er entwindet sich, sie möchte lachen.
Zehn von achtzehn Zeugen der Verteidigung waren Muslime, sagt der Anwalt und reibt seinen goldenen Ring, kleiner Finger rechts, er sagt: Meines Wissens kam das bis heute in Den Haag nie mehr vor.
Goran Jelisić.
Höflich antwortete er seinen Richtern, als er ein zweites Mal vor ihnen stand, 29. November 1998, Viertel vor zehn Uhr vormittags, er sagte, guten Tag, Euer Ehren, er bedankte sich, als der Richter ihm befahl, sich zu setzen. Die Gerichtsdienerin las eine ergänzte Anklage vor, wieder begriff sich Jelisić, was den Völkermord betraf, als nicht schuldig, sprach aber, als es um die Verletzung des Kriegsrechts ging und um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Wort schuldig vierunddreißigmal, er wolle, indem er gestehe, seine Seele retten.
Mein Sohn ist kein Monster, sagt der Vater, er kann kein Monster sein. Träumen Sie nachts von ihm? Ich träume ihn oft, sagt der alte Buchhalter, wir stehen am Ufer der Drina und schweigen und fischen. Und wenn Goran einen Fisch an der Angel hat, einen Wels vielleicht, einen Sterlet, so groß, dann ist er glücklich, und weil er glücklich ist, bin ich es auch.
Verteidiger Veselin Londrović nannte den Prozess wichtig und historisch, zumal das Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag zum ersten Mal eine Anklage wegen Völkermords verhandele, Fall IT-95-10-PT, es war der 30. November 1998, zehn vor drei Uhr nachmittags, Jelisić bedankte sich, als er sich setzen durfte, er saß zwischen zwei Polizisten in grauen Hemden, Handschellen an ihren Gürteln, Schlagstöcke, Jelisić im schwarzen Pullover, er hat ein schmales Gesicht, kurzes Haar, das er oft wäscht, lange schlanke Finger, ruhig und ernsthaft saß er, einen Krug Tee vor sich, einen Monitor, und wartete, ein Ankläger, Terree Bowers, holte aus. Das Gesicht des Völkermords, rief er in den Saal, war das Gesicht von Goran Jelisić.
Am 3. Mai 1992, vielleicht am 4., stand er in der Polizeistation von Brcko, einem lang gezogenen grauen Gebäude, das die Serben erobert hatten, heute hängt daran die europäische Fahne, die bosnische, der Buchsbaum, der vor dem Eingang steht, ist zu einer hübschen Kugel frisiert. Jemand reichte Jelisić das blaue Hemd der Polizei, eine Pistole mit Schalldämpfer, den Schlagstock, das Funkgerät der Marke Motorola, wenn du dich am Funkgerät meldest, sagte einer, dann nenne dich Adolf.
Adolf.
Am 6. sagte einer, nun besteh deine Feuertaufe, erschieß zwei Türken. Goran Jelisić, seit zwei Tagen in Uniform, befahl einen Muslim aus der Polizeistation, wahllos, Zimmer 13, er kannte den Mann nicht, heller Pullover, Bildecke links unten, er ging einige Schritte mit ihm, Jelisić hinten, der Wehrlose vorn, sie bogen um die nächste Ecke, eine Sackgasse, die mit Platten belegt ist, Jelisić schoss ihm in den Kopf, dann holte er den zweiten Mann, der zieht die Schultern hoch, steif geht er in brauner Jacke und leichten Schuhen, ein Unbekannter, seine Leiche wird nie gefunden, das Bild ging um die Welt, Schwalben nisten unter dem Dach der Polizeistation von Brcko, Oktober 2004, Videokameras an jeder Ecke.
Später am Tag, begleitet von einigen Soldaten, trat Goran Jelisić ins Haus der Busgesellschaft Laser, in dem gefangene Muslime waren, er stellte sich vor, ich bin der serbische Adolf, er zerrte den Muslim Kemal Sulejmanović vors Gebäude und tötete ihn. Dann Hasan Jasarević, der versuchte, aus der Polizeistation zu fliehen. Dann einen Mann aus der Gegend von Sinteraj. Dann Achmed Hodzić, Leiter der SDA von Brcko, Partei für Demokratische Aktion. Jelisić, bevor er ihn erschoss, sagte: Schau noch einmal auf deine Stadt, du siehst sie zum letzten Mal. Dann einen Mann namens Suad. Dann Amir Novalić, genannt Fritz. Es war der 6. Mai 1992. Feuertaufe.
Vom 7. bis zum 20. Mai, sprach der Ankläger des Tribunals in den Saal, war Goran Jelisić in Luka, im Hafen der Stadt. Dort war er allmächtig. Chefhenker.
Um Viertel nach fünf Uhr nachmittags rief der Vorsitzende des Gerichts, Claude Jorda, den ersten Zeugen der Anklage in den Raum, Zeuge A, der sich hinter einen Vorhang setzte, dessen Worte, die er in ein Mikrofon sprach, verzerrt aus den Lautsprechern drangen. Wie alt sind Sie?, fragte ein Ankläger. Siebenunddreißig. Sind Sie Muslim? Ja. Wo lebten Sie vor dem Krieg, Zeuge A? In Brcko. Waren Sie im Gefangenenlager von Luka?
Als wir dort ankamen, mussten wir uns in eine Reihe stellen. Sie begannen, uns zu schlagen. Fünf Minuten später kam Goran Jelisić. Er sagte, er sei der Direktor des Lagers, man werde uns verhören, und wer schuldig sei, werde erschossen, wer unschuldig, der komme frei, aber er glaube nicht, dass ein Muslim unschuldig sei. Wieder wurden Gefangene gebracht, und Jelisić stellte sich ihnen vor, er sei der serbische Adolf, und er sei Glied jenes Kommandos gewesen, das die Brücke über die Save sprengte am Morgen des 30. April, als hundert Menschen starben, Männer, Frauen, Kinder, er sagte auch, dass er in Luka schon hundertfünfzig Muslime getötet habe und dass er nicht daran denke, damit aufzuhören.
Ein Zeuge: »Ich dachte, irgendwann kommt jeder dran«
Der Ankläger fragte: Würden Sie ihn wiedererkennen? Ich glaube es, sagte der Zeuge A, er muss an seinem Arm eine große Narbe haben. Denn uns, den Gefangenen von Luka, erzählte er, diese Wunde hätten ihm Kroaten beigebracht, er sei Gefangener der Kroaten gewesen, die ihm Salz in die Wunde gestreut hätten, damit sie heftiger schmerze, sagte Jelisić. Zeuge A, was geschah in der ersten Nacht, die sie in Luka verbrachten? Wir wurden in das Lagerhaus getrieben und mussten uns auf den Betonboden setzen. So saßen wir, bis es Abend wurde. Dann schlossen sie das Tor und begannen zu singen, wir rotten euch aus, ihr Türken, Schweine. Solche Dinge. Auch Musik von Kassette, serbische Lieder. Gegen Mitternacht wurde das Tor geöffnet, jemand schrie: Wir brauchen vier Freiwillige, um etwas zu erledigen. Vier Männer gingen hinaus. Man hörte Schreie, sie wurden geschlagen, man hörte ihr Stöhnen, ihr Winseln. Die vier wurden beschimpft, ihr Söhne von muslimischen Huren. Solche Dinge. Sie wurden geschlagen. Sie bettelten: Hört auf damit, ich habe nichts getan, ich bin unschuldig, unschuldig. Und dann hörte ich eine Stimme, die ich später jede Nacht hörte, Nacht für Nacht. Ein Befehl. Leg dich hin. Den Kopf auf das Abflussgitter. Dann hörte man ein Betteln. Tu’s nicht. Warum ich? Ich habe nichts getan. Ich bin nicht schuldig. Schließlich hörte ich einen leisen Schuss. Irgendwie zitterte der Boden, auf dem ich saß, es war so nahe. Minuten später wieder dieses Betteln. Warum ich? Ich habe mit den Serben in Frieden gelebt, mein ganzes Leben lang, nie habe ich einen Serben beleidigt. Dann wieder ein leiser Schuss, noch einer. Dies habe ich in meiner ersten Nacht gehört, nicht gesehen. Doch in meiner dritten Nacht war ich selber ein Freiwilliger. Bevor ich in dieser Nacht aus der Lagerhalle trat, waren vielleicht schon zehn andere Vierergruppen gegangen. Man wusste, was uns erwartete. Die Soldaten standen am Tor und schrien: Kommt raus. Sonst kommen wir rein und wählen aus. Ich ging. Ich ging, weil ich nicht mehr leben wollte. Seit dem 3. Mai wurde ich täglich geschlagen und verhöhnt. Ich wollte nicht mehr leben, ich ertrug dieses Leben nicht mehr. Und ich dachte, irgendwann kommt jeder dran, egal, ob heute oder morgen. Ich wollte nicht mehr und ging raus. Und sofort begannen sie uns zu schlagen und zu beschimpfen. Es gibt keine Rettung für euch, ihr Hurensöhne. Wir, vier Freiwillige, mussten uns in eine Reihe stellen, den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken. Ich war der Dritte. Einer befahl dem Mann neben mir, sich auf den Boden zu legen, den Kopf auf das Abflussgitter. Der Mann weinte, er bettelte. Ich glaube, sie genossen es. Und je heftiger jemand bettelte, umso mehr genossen sie es, ihn zu töten. Zwanzig gegen einen. Sie feierten. Jelisić schoss. Dann zwangen sie uns, die wir immer noch in einer Reihe standen, den Toten wegzutragen, hinter das Lagerhaus, wo ein Kühlwagen stand, ein Kühlwagen der Firma Bimeks, wir warfen den Körper hinein, und ich sah, es waren schon andere Leichen darin. Wir kamen zurück, sie schlugen uns mit Gewehren und Stöcken, sie schrien ständig: Das Gleiche geschieht nun mit euch. Wieder standen wir nebeneinander, noch zu dritt, ich war der Erste, dann befahlen sie dem Mann, der neben mir stand: Den Kopf aufs Gitter. Jelisić schoss. Er sagte: Ein Schwein weniger. Wieder zwangen sie uns, den Toten hinter die Halle zu tragen und in den Kühlwagen zu werfen. Sie schlugen, sie schrien, sie genossen. Ich dachte, nun sei ich an der Reihe. Aber sie schickten uns, die wir übrig geblieben waren, in die Lagerhalle zurück und sagten: Macht euch bereit, morgen oder übermorgen seid ihr dran. Kurz danach, nach zehn oder fünfzehn Minuten, vielleicht auch weniger, denn Minuten waren für uns Stunden, Stunden waren Jahre, befahlen sie wieder vier Freiwillige aus der Halle, und so ging das weiter bis am Morgen um vier oder fünf. Dann, Nacht nach Nacht, wenn sie zu morden aufhörten, holten sie sieben, acht Gefangene, die das Blut wegwaschen mussten, das überall war, auf dem Abflussgitter, auf dem Weg zum Kühlwagen, Nacht nach Nacht.
Goran Jelisić ist ein reinlicher Mensch.
Verhörte er Gefangene, ließ er andere zuschlagen. Schlug er selber, dann mit dem Stock, mit einem Kabel, einer Schaufel.
Einmal, nach der Ermordung von Huso und Smajil Zahirović, zwei Brüdern, als er sich mit deren Blut beschmutzt hatte, befahl er dem Gefangenen Jasminko Cumurović, ihm das Blut von der Hand zu lecken. Cumurović leckte, und Jelisić schoss ihm in den Kopf.
Manchmal sagte Jelisić den Gefangenen von Luka: Ich vergewaltige nicht, ich foltere nicht, ich töte. Er sagte: Vor dem Morgenkaffee töte ich zwanzig, dreißig Muslime. Und: Hitler war der erste Adolf, ich bin der zweite. Leichen berühre ich nicht. Er sagte: Ich töte anständig und nett.
Manchmal trat er in die Lagerhalle 1 und wählte persönlich aus: Du und du und du.
Manchmal zwang er die muslimischen Gefangenen, ein serbisches Lied zu singen, dreimal und fehlerfrei, das Lied hieß: Wer sagt, wer lügt. Jelisić dirigierte und lachte und holte seine Soldaten, damit sie ihm zusahen und lachten, der Gefangenenchor von Luka, feige muslimische Hunde, die das Lied des Feindes sangen am Ufer der Save, darin das Blut ihrer Toten.
Die Gefangenen wagten nicht, ihm in die Augen zu schauen.
Dem kroatischen Anwalt Stipo Glavocević, alt und dick, schnitt er ein Ohr ab und befahl den Mann, das Ohr in der Hand, in die Halle, in der heute, Oktober 2004, Möbel stehen, Betten, Sofas, Schränke, Tische, und ließ ihn dort betteln, jemand möge ihn erlösen, erschießen. Jelisić bot den Gefangenen die Scorpion an, keiner wollte. Er führte den Mann ins Freie: Wenn du mir die Stiefel leckst, mach ich es. Der Anwalt leckte die Stiefel.
Goran Jelisić.
Er mordete zu froh. Am 19. oder 20. Mai 1992 trat ein gewisser Major Dzurković in die Lagerhalle, Jelisić an seiner Seite, der Major trug die Uniform der Jugoslawischen Volksarmee, Jelisić das blaue Hemd der Polizei, und der Major, zu Jelisić, sagte: Ab heute ist es verboten, in Luka Gefangene zu töten oder zu misshandeln, verstanden?
Die Gefangenen, erzählte Zeuge A im Gerichtssaal der Vereinten Nationen, begannen zu klatschen. Einige hoben Jelisić auf ihre Schultern. Das tat so weh. Ich verstand nicht, dass sie diese Bestie, nach allem, was sie getan hatte, auf ihre Schultern nahmen. Lieber wäre ich tot umgefallen, als Jelisić zu loben. Doch später konnte ich es begreifen. Denn die Worte, die wir eben vernommen hatten, bedeuteten unsere Wiedergeburt, sagte Zeuge A hinter dem Vorhang, der ihn schützte, Den Haag, 30. November 1998, 18:13.
Goran Jelisić, ohne Macht und Uniform, reiste in die Stadt der Eltern, wohnte wieder in ihrem Haus an der Slobodana Jovanović, Antenne auf dem Dach, Garage im Garten, und tat Gutes, rettete Muslimen das Leben.
Goran.
Der Häftling Goran weinte laut, als vor Monaten Mama starb
Manchmal ruft er aus Italien an und bittet seinen Vater: Papa, erzähl mir vom Fischen.
Gerichtspsychiater rangen um Begriffe, Nils Duits und Bernard van den Bussche, sie redeten von Persönlichkeitsstörung, von Borderline, Externalisierung, Unreife. Jelisić sei, als er Macht hatte, emotional auf dem Stand eines Sechzehnjährigen gewesen, sein ganzes Verhalten sei unbewusst darauf gerichtet, wahrgenommen zu werden, indem er, mordend, seinen Gehorsam beweise und indem er, Leben rettend, suche, einer Bestrafung zu entkommen, der Angeklagte besitze kaum eine eigene Identität und nehme ständig jene derer an, die ihn umgeben. Leicht beeinflussbar, manipulierbar, unfertig.
Mensch.
Bunte Teller aus Ton stehen im Schrank, handgemacht, kleine Aschenbecher, große Aschenbecher, Vasen, Schalen, Serviettenhalter, Kerzenständer, alles bunt und froh, ein grünes Krokodilchen mit großen weißen Augen – Gorans Vermächtnis aus dem Kerker an seinen Sohn Aleksandar, der nicht weiß, was der Vater tat, an seine Frau Ana, die sich nicht nach Brcko wagt, in die Sackgasse, wo das Bild entstand, das nicht zu löschen ist, der Mörder hinten, sein Opfer vorn.
Der Mensch Goran Jelisić weinte laut und schluchzte, als vor Monaten Mama starb, Mama, Ivanka Jelisić, am 4. Juni 2004.
Barfuß sitzt der Vater auf dem Sofa und schweigt, schiebt die große Brille hoch.
Und Ana, wenn sie wach liegt, denkt: Gott verzeiht. Sonst wäre Gott nicht Gott. Nur Mensch.
(c) DIE ZEIT 25.11.2004 Nr.49
ist ne lange harte geschichte die zeigt wie aus normalen menschen mörder wurden die voller hass getötet haben.....ich habe extra eine über einen serben gepostet damit es nicht heisst propaganda...solche taten kamen auf allen seiten vor und keiner ist frei von schuld....aber in der geschichte kann man auch sehen das wir uns hätten nicht bekriegen müssen wenn das böse nicht macht über uns ergriffen hätte.....in jedem menschen steckt böses wie gutes nur das einige menschen für das böse besonders empfänglich sind obwohl sie auch das gute in sich tragen...macht euch einfach mal selbst ein bild...und bitte keine anti serben hass parolen.....solche tataen gab es auf allen seiten teilweise sogar brutale in der vorgehensweise......
Der Serbe Goran Jelisić nannte sich Adolf. Als Polizist im Bürgerkrieg in Bosnien genoss er es, Muslime zu töten. Später rettete er Leben. Heute sitzt er als Kriegsverbrecher im Gefängnis
Von Erwin Koch
Am Anfang ist dieses Bild. Zwei Männer gehen durch eine Straße, der eine vorn, der andere hinten, die Straße, eine Sackgasse, ist mit Platten belegt, und die Platten sind voller Sand und Staub, am hellen Tag. Der vorn zieht die Schultern hoch, steif geht er in brauner Jacke und leichten Schuhen, der hinten trägt ein blaues Hemd mit kurzen Ärmeln, das Hemd der Polizei, ein Schlagstock hängt am Gürtel, es war Krieg in Bosnien, der 6. Mai 1992, Vormittag, sie gehen langsam, vorbei an einem Mann, der am Boden liegt, linke Bildecke unten, blutend, tot, einen Arm seltsam verkrümmt, als wollte er sich schützen. Der Hintere hat eine Pistole in der Rechten, Scorpion mit Schalldämpfer, sein Arm ist in eine weiße Binde geschlagen. Neben der Straße steht ein Haus, das es heute noch gibt, ein altes Haus mit großen Fenstern, damals nackt, jetzt, zwölf Jahre später, mit Efeu bezogen. Der Hintere richtet seine Waffe auf den Kopf des Vorderen und schießt – die Wahrheit war ein Unfall, dieses Bild nicht vorgesehen: Hinrichtung eines Gefangenen, Muslim, wehrlos.
Der Fotograf, ein Serbe, war von Serben gerufen worden, Werbung für die serbische Sache, Propaganda, einen leeren Sarg sollte er fotografieren, daneben eine Frau, die zum Schein weint: Trauernde Serbin am Sarg ihres unschuldigen, von Muslimen ermordeten Mannes. Doch der Fotograf kam zu früh und hielt fest, was er sah, ein Verbrechen, sein Bild ging um die Welt und gewann einen Preis, World Press Photo Award 1993, Premier Prix Photos Individuelles, der Krieg in Brcko, Nordbosnien, war sechs Tage alt, der Mörder seit zwei Tagen in Uniform, Goran Jelisić, ein bosnischer Serbe, vierundzwanzig, Traktorfahrer von Beruf, ein Mensch aus der Nachbarstadt Bijeljina, seine zweite Hinrichtung an diesem Tag. Jetzt stehen große grüne Schirme in der kurzen Gasse, die keinen Namen hat, Preminger Lager Beer, Korbstühle mit gelben Kissen, Tuborg, Kodak, ein Geschäft für Brautkleider, und Goran Jelisić, der vierzehn Maitage lang ein blaues Hemd besaß, eine Pistole und ein Funkgerät der Marke Motorola, lebt in einem italienischen Kerker, verurteilt zu vierzig Jahren Gefängnis vom Kriegsverbrechertribunal der Vereinten Nationen in Den Haag, manchmal ruft er seinen Vater an und sagt: Papa, erzähl mir vom Fischen.
Der Vater ist dünn und hoch, barfuß sitzt er auf dem Sofa seiner Schwiegertochter Ana, geborene Perić, neunter Stock, Gavrila Principa 22, Wohnung 53, 76300 Bijeljina, ein leiser schüchterner Mensch hinter großer Brille, und versucht zu lächeln. Als Kind, sagt er, spielte Goran am liebsten Ball.
Sommer für Sommer, sagt der Alte, fuhren wir nach Split zu Gorans Onkel, Goran und ich im kleinen Fiat, und immer war er so glücklich, wenn wir das Meer sahen, und war er glücklich, war ich es auch, und das kann ich nicht vergessen, vielleicht wäre es besser, ich könnte es.
Dickes Glas schützt den Kaffeetisch, eine Stickerei, Blümchen mit rosa Blüten, lila Tauben, die grüne Zweige in ihren Schnäbeln tragen.
Gorans Kindheit war normal, alles war normal, sagt der Vater und blickt zum Anwalt, der neben ihm sitzt, der Anwalt, Veselin Londrović, wiegt den Kopf und schweigt.
Der Junge Goran weinte nie, nur einmal, als seine Großmutter starb
Ein Leben in Bijeljina am Ufer der Drina, die Bosnien von Serbien trennt, vierzigtausend Menschen, fast die Hälfte davon Muslime, fünf Moscheen, ein orthodoxes Kloster. Am 7. Juni 1968 gebar Ivanka Jelisić, Frau des Buchhalters Aleksandar Jelisić, einen Sohn, Goran, ihr zweites Kind, das so anders wurde als das erste. Goran war laut, von vielen geliebt, ein schlechter Schüler und selten zu Hause, Goran weinte nie, weinte nur, als seine Großmutter starb, bei der er gelebt hatte, wenn die Mutter krank war. Acht Jahre lang zwangen ihn die Eltern zur Schule, der Vater nahm ihn zum Fischen mit, lehrte Goran den Hecht vom Wels zu unterscheiden, den Wels vom Sterlet, tagelang saßen sie an der Drina und schwiegen, Politik war Sache der Politiker, schmutzig, gemein. Goran liebte die Mädchen, sie ihn, er hasste die Arbeit, Goran Jelisić wurde Traktorfahrer und wechselte die Stellen, die sein Vater für ihn suchte, immer wieder, Jelisić wurde Soldat der Jugoslawischen Volksarmee, er war nicht besonders, fiel nicht auf, Jelisić kehrte zu den Eltern zurück in ein kleines graues Haus am Nordrand der Stadt, Slobodana Jovanović 5, Antenne auf dem Dach, Garage im Garten. Er wechselte die Stellen und begann zu trinken, hatte kein Geld, begann zu betrügen, zu fälschen, sechzehnmal, bis die Polizei ihn nach Tuzla ins Gefängnis brachte, 13. November 1990, zweiundzwanzig Jahre alt. Dort war er bis zum 22. Februar 1991 und schrieb seinem Richter, er bringe sich um, wenn er hier noch länger bleiben müsse, er erschieße, vergifte, erhänge sich, der Richter Veselin Londrović bestrafte ihn mit viereinhalb Jahren Gefängnis, Jelisić ging in Berufung und kam, bis das Gericht neu entscheiden würde, frei – doch dann war Krieg in Bosnien-Herzegowina, in Sarajevo, der Hauptstadt, in Mostar, endlich in Bijeljina, dem Nest im Norden, wo die Drina lautlos in die Save fließt.
Eigentlich dürfte Goran Jelisić jede Woche nur während zehn Minuten telefonieren. Weil er sich gut beträgt in Italiens Gefängnis und nicht auffällt, darf er es zweimal in der Woche. Dann wählt er die Nummer seiner Frau Ana, die immer trauriger wird und dünner, und wartet, bis er ihre Stimme hört. Er sagt: Ich brauche dich. Und dann sagt sie: Ich dich auch.
Seine Andenken stehen auf einem hellen Möbel an der Wand, Goran im Spielsalon, halb nackt und rauchend, Goran bei seiner Hochzeit, Goran, mit hängenden Armen, im neuen blauen Trainingsanzug, plump, sein Blick fast schüchtern, arglos, lieb, die Muttergottes und ihr Kind hängen unter Gorans Bild, ein bärtiger Heiliger, so mag sie ihn, so verliebte sich das Mädchen in den Mann, damals in einem Café in der Mitte der Stadt Bijeljina, als Ana glaubte, der Krieg sei längst vorbei.
Ana Jelisić sitzt auf einem Stuhl, das eine Bein über dem andern, sie lächelt und weiß nicht, wohin mit ihren langen weißen Nägeln.
Es war Liebe auf den ersten Blick, sagt sie und kichert. Wussten Sie, dass Goran Jelisić gesucht wurde, dass sein Name auf der Liste möglicher Kriegsverbrecher stand? Davon hatte ich gehört, antwortet die Frau, doch kümmerte es mich nicht. Ana, was lieben Sie an ihm? Sie schweigt und zupft sich das Haar, schaut zum Anwalt, der nickt. Alles, sagt sie, ich liebe alles an ihm, ich kann ohne ihn nicht sein, sagt Ana Jelisić. Goran ist ein ehrlicher Mensch, sagt sein Vater. Charmant, flüstert Ana.
Es war Krieg, und er mordete – nachweislich fünfzehnmal
Sie war sechzehn, als sie ihn zum ersten Mal sah in einem Café in der Mitte der gewöhnlichen Stadt Bijeljina, die einst fünf Moscheen hatte, nun fünf Hügel aus weißen Trümmern, Goran Jelisić war siebenundzwanzig, Kriegsveteran, er setzte sich an ihren Tisch, war witzig und sanft, im Februar 1995 zog Ana zu ihm an die Slobodana Jovanović, im September heirateten sie, im Oktober gebar Ana einen Sohn, den sie auf den Namen seines Großvaters taufte, Gorans Vater, Buchhalter in einer Schule, Aleksandar.
Das Bild, das Goran Jelisić bekannt machte, zeigt ihn von hinten. Sein Haar ist dunkel, kurz und sauber, ein gepflegter Mensch im sauberen blauen Hemd. Als der Mann, der vor ihm geht, steif vor Angst, getroffen am Boden liegt, schießt ihm Jelisić eine zweite Kugel in den Kopf. So, im Lauf von vierzehn Maitagen, tat er es zumindest mit fünfzehn Menschen, wahrscheinlich mit mehr als hundert.
Goran Jelisić.
Ich habe ihn immer geliebt, sagt der Vater, und ich liebe ihn noch, ich habe keine andere Wahl. Fühlen Sie sich schuldig? Er schweigt, winkt ab, lautlos und alt, er öffnet den Mund und will reden, hat keine Stimme. Wasser in den Augen. Eines Abends, sagt er nun trotzig, sei er, Aleksandar Jelisić, nach Hause gekommen, habe seine Frau in Tränen gefunden, April 1992, als der Krieg Bijeljina erreichte, dieser Krieg, ein Ungeheuer mit hundert Schwänzen und tausend Köpfen. Die Frau erzählte, ein Mann habe angerufen und gesagt, Goran sei zuoberst auf der Liste derer, die die Muslime zu töten suchten. Schließlich, sagt der Vater, trat auch Goran ins Haus und hörte mit. Wir fuhren los und versteckten uns in einem Dorf an der Straße nach Belgrad, und nachts, so erzählten die Nachbarn später, umstellten Männer das Haus an der Slobodana Jovanović, fingerlose Handschuhe an den Händen, schlugen an die Tür, an die Fenster und zogen endlich wieder ab, als sie Goran nicht fanden.
In dieser Nacht, sagt der Vater mit lauter tiefer Stimme, begann für Goran der Krieg. Sie wollten ihn töten. Weshalb? Es war Krieg in Bijeljina. Alle gegen alle. Ana zupft das Haar und weiß nicht, wohin mit den langen weißen Nägeln. Und dann? Ging er nach Brcko, vierzig Kilometer von hier. Als Freiwilliger. Wo er eine Uniform bekam, das blaue Hemd der Polizei. Sein Verderben. Und meins.
Die Stadt Brcko im Norden Bosniens war, als der Schrecken auch sie einholte, am 30. April 1992, ein friedvoller Ort, vierzigtausend Menschen, die Mehrheit davon Muslime. Brcko liegt am südlichen Ufer der Save, die Bosnien-Herzegowina von Kroatien trennt. Und Brcko hat einen Hafen, Luka. Die Anlage zieht sich über mehrere hundert Meter, links die Lagerhallen, eine nach der andern, rechts die Büros. Brcko war für die bosnischen Serben von strategischer Bedeutung, und also versuchten sie, alle Nichtserben zu vertreiben. Am frühen Morgen des 30. April 1992, ohne Warnung, sprengten sie die Brücke über dem Fluss und mit ihr Dutzende von Menschen. Der Beginn der serbischen Offensive. Goran Jelisić erreichte Brcko an ebendiesem Tag. Serbische Männer holten Muslime und Kroaten aus ihren Häusern und sperrten sie in Sporthallen, Hotels, in die Lagerhalle Nummer 1 von Luka, ihre Mauern, heute, sind rosarot.
Manchmal, am Telefon, fragt Goran Jelisić: Wie ist das Wetter bei euch? Er weint nie, wenn er anruft. Er sagt: Das Leben in Italien ist nicht schlecht. Dann erzählt Ana, nun sechsundzwanzig Jahre alt, ihr Sohn sei der Beste seiner Klasse. Jelisić fragt: Geht der Kleine zum Fischen? Ana kann kaum noch essen, kaum schlafen, sie wartet auf Goran und das Leben, Ana schluckt Tabletten, und bevor sie umfällt vor Schwäche, bringt ihre Mutter sie ins Krankenhaus. Ana zupft das Haar und lächelt tapfer.
Es gibt keinen Vater, der zärtlicher ist zu seinem Sohn, flüstert Ana und schaut zum Anwalt.
Eines Tages, als der Krieg längst vorbei war, 1997, trat Goran Jelisić, der sich als Getränkehändler versuchte, als Buchhändler und Traktorfahrer, in die Kanzlei des Rechtsanwalts und früheren Richters Veselin Londrović. Londrović erkannte den Mann nicht mehr, erinnerte sich nicht, dass er, sechs Jahre zuvor, Jelisić, den Kleinkriminellen, zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt hatte. Er werde heimlich fotografiert, sagte Jelisić, von den Truppen der Vereinten Nationen, SFor, man wolle ihn nach Den Haag bringen vor das Kriegsverbrechertribunal, er bitte ihn, Anwalt Londrović, um seine Hilfe, seine Verteidigung, sollte er je gefangen werden.
Ana, war Ihr Mann nie traurig? Er war traurig, wenn jemand anrief und ihm sagte, er müsse sich wieder verstecken, dann ging er aus dem Haus und setzte sich an den Fluss und fischte, fischte, beim Fischen fand er Frieden. Ja, sagt der Vater, seine Fische. Ein Aquarium steht an der Gavrila Principa 22/53, darauf ein Dach aus kleinen hölzernen Schindeln. Man trinkt Kaffee und schweigt.
Am Morgen des 22. Januar 1998, einem Donnerstag, stand Ana Jelisić am Fenster ihrer Wohnung und sah hinab auf die Straße, sie dachte an ihren Mann Goran, der schlecht geschlafen und, als er aufstand, um Beruhigungstabletten gebeten hatte, sie sah hinab, sah, wie er die Straße überquerte, die nach Brcko führt. Da stürzte sich ein Mann auf ihn, warf ihn zu Boden, andere Männer rannten herbei, sperrten die Straße ab, legten Jelisić in Fesseln und schoben ihn in einen Wagen. Am Abend rief er an, sagte, er sei in Den Haag, bitte ruf den Anwalt an.
Ich kann nicht begreifen, flüstert der alte Vater, kann nicht begreifen. Er schiebt die große Brille hoch. Kann nicht begreifen, dass er so viele Menschen tötete, Muslime, Muslime waren seine Freunde, mit Muslimen gingen wir fischen, Muslime waren unsere Nachbarn.
Vier Tage nach seiner Verhaftung, am 26. Januar 1998 um zwei Uhr nachmittags, stand Goran Jelisić, nun dreißigjährig, vor seinen Richtern, International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia (ICTY), Fall IT-95-10-PT, stehend und höflich gab er Auskunft: Ich heiße Goran Jelisić, bin auch bekannt unter dem Spitznamen Adolf, geboren wurde ich am 7. Juni 1968 in Bijeljina, und von Beruf fahre ich Landwirtschaftsmaschinen.
Ich begreife nicht, weint der Vater.
Die Gerichtsdienerin las die Anklage vor, Völkermord an Muslimen, Verletzung der Kriegsgesetze oder Kriegsgebräuche in sechzehn Fällen, also Mord, grausame Behandlung, Plünderung, sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit in fünfzehn Fällen. Begangen zwischen dem 6. und dem 20.Mai 1992. Ein Richter bat, Jelisić möge zu allen Punkten Stellung nehmen. Das sei nicht notwendig, sagte Jelisić, die ganze Anklage sei erfunden und falsch, neunundfünfzigmal sprach er dann die Worte: nicht schuldig, nicht schuldig, nicht schuldig. Im Übrigen, sagte er, habe er nichts beizufügen.
Zehn der achtzehn Zeugen, die wir für Gorans Verteidigung beibrachten, waren Muslime, sagt der Anwalt, Veselin Londrović, zehn von achtzehn, die über Goran Jelisić nur Bestes erzählten.
Der Verteidiger blättert in einer blauen Mappe.
Hier, der Zeuge DJ, ein Muslim, der von Serben misshandelt wurde. Dem Goran zur Flucht nach Kroatien verhalf, dann auch dessen Vater und dessen Schwester. Denn kaum war Goran von Brcko nach Bijeljina zurückgekehrt, Ende Mai 92, tat er Gutes. Oder Zeugin DI, Muslimin, die mit Goran zur Schule ging. Mehrmals kam Goran in ihr Haus, brachte ihr Geld, kaufte Medikamente für ihr krankes Kind, sie sagte: Goran war wie ein Bruder zu mir, Goran wird für mich immer bleiben, was er war. Zeuge DD, Muslim, der erzählte, wie Goran einer alten Muslimin ein neues Fenster schenkte, als einige Serben nachts eine Granate geworfen hatten. Zeuge DE, Muslim, den Jelisić im November 92 in seinem Fischerboot über die Drina brachte und ihm so das Leben rettete. Der in Den Haag sagte, er kenne in seiner Straße mindestens sieben oder acht muslimische Familien, denen Goran geholfen habe. Der sagte: Goran war immer ein anständiger Mensch. Zeuge DG, Muslim, dem Goran das Geld gab, damit sein Kind, krank an der Milz, operiert werden konnte, Januar 1993. Oder AD, der Präsident des Fischereivereins, ein Mazedonier, der sagte, er könne nicht glauben, dass die berühmten Fotos vom 6. Mai 1992 wirklich Goran zeigten, denn Goran sei ganz anders gewesen, nett, freundlich, anständig. Obwohl Goran zugegeben habe, dass er es sei, der auf den Bildern zu sehen ist, im blauen Hemd der Polizei, die Scorpion in der Hand, Motorola am Gurt.
Er war der Erste, der in Den Haag des Völkermordes angeklagt wurde
Ana sagt: Manchmal sagt er am Telefon: Du riechst nach Mohn und Thymian.
Ana hat keine Arbeit, keine Rente, sie war Friseurin, hatte ihre Lehre eben beendet, als sie in einem Café Goran Jelisić traf, so sanft war er, nun wartet sie auf ihn, hilft ihrer Mutter, wartet, und wenn Aleksandar, der Sohn, fragt, wo sein Vater sei, antwortet sie: Weit weg, weil er im Krieg war und sich verstecken muss. Dann fragt der Sohn: Wann kommt er wieder? Und Ana sagt: Irgendwann, wahrscheinlich bald.
Ana will nicht, dass jemand ein Bild von ihr macht. Nun zieht sie ihren Sohn auf den Schoß, der kurzes braunes Haar hat, sie küsst ihn, hält ihn, er entwindet sich, sie möchte lachen.
Zehn von achtzehn Zeugen der Verteidigung waren Muslime, sagt der Anwalt und reibt seinen goldenen Ring, kleiner Finger rechts, er sagt: Meines Wissens kam das bis heute in Den Haag nie mehr vor.
Goran Jelisić.
Höflich antwortete er seinen Richtern, als er ein zweites Mal vor ihnen stand, 29. November 1998, Viertel vor zehn Uhr vormittags, er sagte, guten Tag, Euer Ehren, er bedankte sich, als der Richter ihm befahl, sich zu setzen. Die Gerichtsdienerin las eine ergänzte Anklage vor, wieder begriff sich Jelisić, was den Völkermord betraf, als nicht schuldig, sprach aber, als es um die Verletzung des Kriegsrechts ging und um die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das Wort schuldig vierunddreißigmal, er wolle, indem er gestehe, seine Seele retten.
Mein Sohn ist kein Monster, sagt der Vater, er kann kein Monster sein. Träumen Sie nachts von ihm? Ich träume ihn oft, sagt der alte Buchhalter, wir stehen am Ufer der Drina und schweigen und fischen. Und wenn Goran einen Fisch an der Angel hat, einen Wels vielleicht, einen Sterlet, so groß, dann ist er glücklich, und weil er glücklich ist, bin ich es auch.
Verteidiger Veselin Londrović nannte den Prozess wichtig und historisch, zumal das Gericht der Vereinten Nationen in Den Haag zum ersten Mal eine Anklage wegen Völkermords verhandele, Fall IT-95-10-PT, es war der 30. November 1998, zehn vor drei Uhr nachmittags, Jelisić bedankte sich, als er sich setzen durfte, er saß zwischen zwei Polizisten in grauen Hemden, Handschellen an ihren Gürteln, Schlagstöcke, Jelisić im schwarzen Pullover, er hat ein schmales Gesicht, kurzes Haar, das er oft wäscht, lange schlanke Finger, ruhig und ernsthaft saß er, einen Krug Tee vor sich, einen Monitor, und wartete, ein Ankläger, Terree Bowers, holte aus. Das Gesicht des Völkermords, rief er in den Saal, war das Gesicht von Goran Jelisić.
Am 3. Mai 1992, vielleicht am 4., stand er in der Polizeistation von Brcko, einem lang gezogenen grauen Gebäude, das die Serben erobert hatten, heute hängt daran die europäische Fahne, die bosnische, der Buchsbaum, der vor dem Eingang steht, ist zu einer hübschen Kugel frisiert. Jemand reichte Jelisić das blaue Hemd der Polizei, eine Pistole mit Schalldämpfer, den Schlagstock, das Funkgerät der Marke Motorola, wenn du dich am Funkgerät meldest, sagte einer, dann nenne dich Adolf.
Adolf.
Am 6. sagte einer, nun besteh deine Feuertaufe, erschieß zwei Türken. Goran Jelisić, seit zwei Tagen in Uniform, befahl einen Muslim aus der Polizeistation, wahllos, Zimmer 13, er kannte den Mann nicht, heller Pullover, Bildecke links unten, er ging einige Schritte mit ihm, Jelisić hinten, der Wehrlose vorn, sie bogen um die nächste Ecke, eine Sackgasse, die mit Platten belegt ist, Jelisić schoss ihm in den Kopf, dann holte er den zweiten Mann, der zieht die Schultern hoch, steif geht er in brauner Jacke und leichten Schuhen, ein Unbekannter, seine Leiche wird nie gefunden, das Bild ging um die Welt, Schwalben nisten unter dem Dach der Polizeistation von Brcko, Oktober 2004, Videokameras an jeder Ecke.
Später am Tag, begleitet von einigen Soldaten, trat Goran Jelisić ins Haus der Busgesellschaft Laser, in dem gefangene Muslime waren, er stellte sich vor, ich bin der serbische Adolf, er zerrte den Muslim Kemal Sulejmanović vors Gebäude und tötete ihn. Dann Hasan Jasarević, der versuchte, aus der Polizeistation zu fliehen. Dann einen Mann aus der Gegend von Sinteraj. Dann Achmed Hodzić, Leiter der SDA von Brcko, Partei für Demokratische Aktion. Jelisić, bevor er ihn erschoss, sagte: Schau noch einmal auf deine Stadt, du siehst sie zum letzten Mal. Dann einen Mann namens Suad. Dann Amir Novalić, genannt Fritz. Es war der 6. Mai 1992. Feuertaufe.
Vom 7. bis zum 20. Mai, sprach der Ankläger des Tribunals in den Saal, war Goran Jelisić in Luka, im Hafen der Stadt. Dort war er allmächtig. Chefhenker.
Um Viertel nach fünf Uhr nachmittags rief der Vorsitzende des Gerichts, Claude Jorda, den ersten Zeugen der Anklage in den Raum, Zeuge A, der sich hinter einen Vorhang setzte, dessen Worte, die er in ein Mikrofon sprach, verzerrt aus den Lautsprechern drangen. Wie alt sind Sie?, fragte ein Ankläger. Siebenunddreißig. Sind Sie Muslim? Ja. Wo lebten Sie vor dem Krieg, Zeuge A? In Brcko. Waren Sie im Gefangenenlager von Luka?
Als wir dort ankamen, mussten wir uns in eine Reihe stellen. Sie begannen, uns zu schlagen. Fünf Minuten später kam Goran Jelisić. Er sagte, er sei der Direktor des Lagers, man werde uns verhören, und wer schuldig sei, werde erschossen, wer unschuldig, der komme frei, aber er glaube nicht, dass ein Muslim unschuldig sei. Wieder wurden Gefangene gebracht, und Jelisić stellte sich ihnen vor, er sei der serbische Adolf, und er sei Glied jenes Kommandos gewesen, das die Brücke über die Save sprengte am Morgen des 30. April, als hundert Menschen starben, Männer, Frauen, Kinder, er sagte auch, dass er in Luka schon hundertfünfzig Muslime getötet habe und dass er nicht daran denke, damit aufzuhören.
Ein Zeuge: »Ich dachte, irgendwann kommt jeder dran«
Der Ankläger fragte: Würden Sie ihn wiedererkennen? Ich glaube es, sagte der Zeuge A, er muss an seinem Arm eine große Narbe haben. Denn uns, den Gefangenen von Luka, erzählte er, diese Wunde hätten ihm Kroaten beigebracht, er sei Gefangener der Kroaten gewesen, die ihm Salz in die Wunde gestreut hätten, damit sie heftiger schmerze, sagte Jelisić. Zeuge A, was geschah in der ersten Nacht, die sie in Luka verbrachten? Wir wurden in das Lagerhaus getrieben und mussten uns auf den Betonboden setzen. So saßen wir, bis es Abend wurde. Dann schlossen sie das Tor und begannen zu singen, wir rotten euch aus, ihr Türken, Schweine. Solche Dinge. Auch Musik von Kassette, serbische Lieder. Gegen Mitternacht wurde das Tor geöffnet, jemand schrie: Wir brauchen vier Freiwillige, um etwas zu erledigen. Vier Männer gingen hinaus. Man hörte Schreie, sie wurden geschlagen, man hörte ihr Stöhnen, ihr Winseln. Die vier wurden beschimpft, ihr Söhne von muslimischen Huren. Solche Dinge. Sie wurden geschlagen. Sie bettelten: Hört auf damit, ich habe nichts getan, ich bin unschuldig, unschuldig. Und dann hörte ich eine Stimme, die ich später jede Nacht hörte, Nacht für Nacht. Ein Befehl. Leg dich hin. Den Kopf auf das Abflussgitter. Dann hörte man ein Betteln. Tu’s nicht. Warum ich? Ich habe nichts getan. Ich bin nicht schuldig. Schließlich hörte ich einen leisen Schuss. Irgendwie zitterte der Boden, auf dem ich saß, es war so nahe. Minuten später wieder dieses Betteln. Warum ich? Ich habe mit den Serben in Frieden gelebt, mein ganzes Leben lang, nie habe ich einen Serben beleidigt. Dann wieder ein leiser Schuss, noch einer. Dies habe ich in meiner ersten Nacht gehört, nicht gesehen. Doch in meiner dritten Nacht war ich selber ein Freiwilliger. Bevor ich in dieser Nacht aus der Lagerhalle trat, waren vielleicht schon zehn andere Vierergruppen gegangen. Man wusste, was uns erwartete. Die Soldaten standen am Tor und schrien: Kommt raus. Sonst kommen wir rein und wählen aus. Ich ging. Ich ging, weil ich nicht mehr leben wollte. Seit dem 3. Mai wurde ich täglich geschlagen und verhöhnt. Ich wollte nicht mehr leben, ich ertrug dieses Leben nicht mehr. Und ich dachte, irgendwann kommt jeder dran, egal, ob heute oder morgen. Ich wollte nicht mehr und ging raus. Und sofort begannen sie uns zu schlagen und zu beschimpfen. Es gibt keine Rettung für euch, ihr Hurensöhne. Wir, vier Freiwillige, mussten uns in eine Reihe stellen, den Kopf gesenkt, die Hände auf dem Rücken. Ich war der Dritte. Einer befahl dem Mann neben mir, sich auf den Boden zu legen, den Kopf auf das Abflussgitter. Der Mann weinte, er bettelte. Ich glaube, sie genossen es. Und je heftiger jemand bettelte, umso mehr genossen sie es, ihn zu töten. Zwanzig gegen einen. Sie feierten. Jelisić schoss. Dann zwangen sie uns, die wir immer noch in einer Reihe standen, den Toten wegzutragen, hinter das Lagerhaus, wo ein Kühlwagen stand, ein Kühlwagen der Firma Bimeks, wir warfen den Körper hinein, und ich sah, es waren schon andere Leichen darin. Wir kamen zurück, sie schlugen uns mit Gewehren und Stöcken, sie schrien ständig: Das Gleiche geschieht nun mit euch. Wieder standen wir nebeneinander, noch zu dritt, ich war der Erste, dann befahlen sie dem Mann, der neben mir stand: Den Kopf aufs Gitter. Jelisić schoss. Er sagte: Ein Schwein weniger. Wieder zwangen sie uns, den Toten hinter die Halle zu tragen und in den Kühlwagen zu werfen. Sie schlugen, sie schrien, sie genossen. Ich dachte, nun sei ich an der Reihe. Aber sie schickten uns, die wir übrig geblieben waren, in die Lagerhalle zurück und sagten: Macht euch bereit, morgen oder übermorgen seid ihr dran. Kurz danach, nach zehn oder fünfzehn Minuten, vielleicht auch weniger, denn Minuten waren für uns Stunden, Stunden waren Jahre, befahlen sie wieder vier Freiwillige aus der Halle, und so ging das weiter bis am Morgen um vier oder fünf. Dann, Nacht nach Nacht, wenn sie zu morden aufhörten, holten sie sieben, acht Gefangene, die das Blut wegwaschen mussten, das überall war, auf dem Abflussgitter, auf dem Weg zum Kühlwagen, Nacht nach Nacht.
Goran Jelisić ist ein reinlicher Mensch.
Verhörte er Gefangene, ließ er andere zuschlagen. Schlug er selber, dann mit dem Stock, mit einem Kabel, einer Schaufel.
Einmal, nach der Ermordung von Huso und Smajil Zahirović, zwei Brüdern, als er sich mit deren Blut beschmutzt hatte, befahl er dem Gefangenen Jasminko Cumurović, ihm das Blut von der Hand zu lecken. Cumurović leckte, und Jelisić schoss ihm in den Kopf.
Manchmal sagte Jelisić den Gefangenen von Luka: Ich vergewaltige nicht, ich foltere nicht, ich töte. Er sagte: Vor dem Morgenkaffee töte ich zwanzig, dreißig Muslime. Und: Hitler war der erste Adolf, ich bin der zweite. Leichen berühre ich nicht. Er sagte: Ich töte anständig und nett.
Manchmal trat er in die Lagerhalle 1 und wählte persönlich aus: Du und du und du.
Manchmal zwang er die muslimischen Gefangenen, ein serbisches Lied zu singen, dreimal und fehlerfrei, das Lied hieß: Wer sagt, wer lügt. Jelisić dirigierte und lachte und holte seine Soldaten, damit sie ihm zusahen und lachten, der Gefangenenchor von Luka, feige muslimische Hunde, die das Lied des Feindes sangen am Ufer der Save, darin das Blut ihrer Toten.
Die Gefangenen wagten nicht, ihm in die Augen zu schauen.
Dem kroatischen Anwalt Stipo Glavocević, alt und dick, schnitt er ein Ohr ab und befahl den Mann, das Ohr in der Hand, in die Halle, in der heute, Oktober 2004, Möbel stehen, Betten, Sofas, Schränke, Tische, und ließ ihn dort betteln, jemand möge ihn erlösen, erschießen. Jelisić bot den Gefangenen die Scorpion an, keiner wollte. Er führte den Mann ins Freie: Wenn du mir die Stiefel leckst, mach ich es. Der Anwalt leckte die Stiefel.
Goran Jelisić.
Er mordete zu froh. Am 19. oder 20. Mai 1992 trat ein gewisser Major Dzurković in die Lagerhalle, Jelisić an seiner Seite, der Major trug die Uniform der Jugoslawischen Volksarmee, Jelisić das blaue Hemd der Polizei, und der Major, zu Jelisić, sagte: Ab heute ist es verboten, in Luka Gefangene zu töten oder zu misshandeln, verstanden?
Die Gefangenen, erzählte Zeuge A im Gerichtssaal der Vereinten Nationen, begannen zu klatschen. Einige hoben Jelisić auf ihre Schultern. Das tat so weh. Ich verstand nicht, dass sie diese Bestie, nach allem, was sie getan hatte, auf ihre Schultern nahmen. Lieber wäre ich tot umgefallen, als Jelisić zu loben. Doch später konnte ich es begreifen. Denn die Worte, die wir eben vernommen hatten, bedeuteten unsere Wiedergeburt, sagte Zeuge A hinter dem Vorhang, der ihn schützte, Den Haag, 30. November 1998, 18:13.
Goran Jelisić, ohne Macht und Uniform, reiste in die Stadt der Eltern, wohnte wieder in ihrem Haus an der Slobodana Jovanović, Antenne auf dem Dach, Garage im Garten, und tat Gutes, rettete Muslimen das Leben.
Goran.
Der Häftling Goran weinte laut, als vor Monaten Mama starb
Manchmal ruft er aus Italien an und bittet seinen Vater: Papa, erzähl mir vom Fischen.
Gerichtspsychiater rangen um Begriffe, Nils Duits und Bernard van den Bussche, sie redeten von Persönlichkeitsstörung, von Borderline, Externalisierung, Unreife. Jelisić sei, als er Macht hatte, emotional auf dem Stand eines Sechzehnjährigen gewesen, sein ganzes Verhalten sei unbewusst darauf gerichtet, wahrgenommen zu werden, indem er, mordend, seinen Gehorsam beweise und indem er, Leben rettend, suche, einer Bestrafung zu entkommen, der Angeklagte besitze kaum eine eigene Identität und nehme ständig jene derer an, die ihn umgeben. Leicht beeinflussbar, manipulierbar, unfertig.
Mensch.
Bunte Teller aus Ton stehen im Schrank, handgemacht, kleine Aschenbecher, große Aschenbecher, Vasen, Schalen, Serviettenhalter, Kerzenständer, alles bunt und froh, ein grünes Krokodilchen mit großen weißen Augen – Gorans Vermächtnis aus dem Kerker an seinen Sohn Aleksandar, der nicht weiß, was der Vater tat, an seine Frau Ana, die sich nicht nach Brcko wagt, in die Sackgasse, wo das Bild entstand, das nicht zu löschen ist, der Mörder hinten, sein Opfer vorn.
Der Mensch Goran Jelisić weinte laut und schluchzte, als vor Monaten Mama starb, Mama, Ivanka Jelisić, am 4. Juni 2004.
Barfuß sitzt der Vater auf dem Sofa und schweigt, schiebt die große Brille hoch.
Und Ana, wenn sie wach liegt, denkt: Gott verzeiht. Sonst wäre Gott nicht Gott. Nur Mensch.
(c) DIE ZEIT 25.11.2004 Nr.49
ist ne lange harte geschichte die zeigt wie aus normalen menschen mörder wurden die voller hass getötet haben.....ich habe extra eine über einen serben gepostet damit es nicht heisst propaganda...solche taten kamen auf allen seiten vor und keiner ist frei von schuld....aber in der geschichte kann man auch sehen das wir uns hätten nicht bekriegen müssen wenn das böse nicht macht über uns ergriffen hätte.....in jedem menschen steckt böses wie gutes nur das einige menschen für das böse besonders empfänglich sind obwohl sie auch das gute in sich tragen...macht euch einfach mal selbst ein bild...und bitte keine anti serben hass parolen.....solche tataen gab es auf allen seiten teilweise sogar brutale in der vorgehensweise......