«Masern sind kein Klacks»
Von Thomas Wehrli. Aktualisiert um 09:58 122 Kommentare
In Ingenbohl (SZ) erkrankte eine Schülerin an Masern. Die Schulleitung griff durch: Wer nicht geimpft war, musste zu Hause bleiben. Für Immunologe Beda Stadler ist dies nur die zweitbeste Lösung.
«Eine Woche Krankheit ist eine gestohlene Woche»: Ein an Masern erkranktes Kind.
Bild: STR/Keystone
Artikel zum Thema
Herr Stadler, Sie betätigen sich derzeit als Heimwerker und verlegen in Ihrem Chalet im Wallis einen neuen Fussboden. Sind Sie am Boden geblieben, als Sie von den Schulausschlüssen im Kanton Schwyz gehört haben?
Ich musste schmunzeln. Man sagt, man will keinen Impfzwang – und greift dann zu solchen Zwangsmitteln. Wer weiss: Vielleicht freuen sich die Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, sogar über solche Feuerwehrübungen.
Wohl eher die Schüler, die zu Hause bleiben können und nicht erkranken. Sie bekommen zusätzliche Ferien.
Ein weiteres Argument, sich nicht impfen zu lassen – wenn man verantwortungslos sein will.
Die Massnahme, die Schüler nach Hause zu schicken, basiert auf einer Richtlinie des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Sie ist doch nichts anders als ein «sanfter Impfzwang».
Ganz klar. Man will nicht, wie in den USA, einen Impfzwang verordnen, weil man so Applaus von zwei Seiten bekommt. Einerseits von den Leuten, die sagen, der Staat solle aufhören, sich in die Freiheit seiner Bürger einzumischen. Andererseits der Applaus von all den Leuten, die echte oder pseudoreligiöse Gründe gegen das Impfen ins Feld führen. Die Anthroposophen zähle ich dazu; das ist für mich eine Sekte, das sind keine Mediziner.
Wäre es dann nicht ehrlich zu sagen: Wir wollen den Impfzwang.
Lassen Sie mich rasch abschweifen ...
... sicher zum Rauchen, Ihrer Passion.
(Lacht.) Ich las jüngst, dass ein Tierarzt in seinem Büro nicht mehr rauchen darf, weil er Schildkröten in seinem Büro hält und die Leute das als Tierquälerei betrachten. Ich weiss nicht, ob die Schildkröten gerne mitrauchen oder nicht. Aber das Beispiel zeigt: Den Tieren gegenüber geben wir uns fürsorglich, den Menschen beim Rauchen ohnehin – man darf ja niemand mehr mit Passivrauch belästigen –, aber: Es ist völlig in Ordnung, wenn die Eltern dem Kind eine Woche Krankheit zumuten. Die Masern sind wie alle Kinderkrankheiten kein Klacks. Eltern, die ihre Kinder nicht impfen, sind Rabeneltern. Haben sich diese Eltern mal überlegt, wie es ist, als Kind eine Woche krank im Bett zu liegen? Ich bezweifle es stark.
Früher aber ...
... hören Sie mir auf mit dieser alten Leier! Ja, früher sagte man: Du musst leiden, dann bekommst du einen Platz in der ersten Reihe im zweiten Leben. Mutter Teresa hat es vorgelebt und bekam dafür den Nobelpreis. Aber für nüchterne Menschen wie mich, die nur ein Leben haben, ist eine Woche Krankheit eine gestohlene Woche.
Von den Eltern gestohlen.
Das ist der eine wunde Punkt: Die Kinder entscheiden nicht selber, allenfalls krank zu werden, sondern ihre Eltern. Das ist eine Zumutung. Der andere Punkt: Wir haben schlicht die Freiheit nicht, einen anderen Menschen mit einer ansteckenden Krankheit zu beglücken. Erst recht nicht, wenn diese gefährlich ist. Bei den Masern liegt die Mortalität bei 1:1000; jeder 1000. Patient stirbt also. Wer dies in Kauf nimmt, handelt unverantwortlich und egoistisch.
Mit Liedermacher Konstantin Wecker: «Empört euch! Wehrt euch!»
Wieso nicht? Bei der Impffrage sollte nicht der Staat die Triebfeder sein, sondern die Gesellschaft, die sich gegen die Egoisten formiert. Konsens statt Top-down vom Staat ist gefragt.
Die Pharmaindustrie hört Ihr Votum sicher gerne – sie macht mit den Impfungen gute Umsätze.
Ach was! Ich wettere im Gegenteil immer gegen die Pharmaindustrie, weil sie genau dieses Business vernachlässigt. Das Impfen generiert zu wenig Umsätze und läuft deshalb nebenher. Der entscheidende Fehler geschah, als im letzten Jahrhundert die Antibiotika aufkamen. Man setzte auf diese Heilmittel statt auf Impfungen. Weil sie besser für das Betriebsergebnis sind und auch unserem Affenhirn mehr entsprechen: Lieber warten, bis man krank ist, und dann eine Pille schlucken, statt sich vorsorglich zu impfen.
Das Stadler-Hirn tickt da natürlich viel fortschrittlicher.
Nein. Auch ich funktioniere nach dem Warten-Schlucken-Prinzip – Impfungen ausgenommen.
Gut, dass Sie das zugeben. Schliesslich flitzen Sie ohne Helm mit dem Velo durch Bern. Sie halten sich also selber nicht an das gepredigte Vorsorgeprinzip.
Das stimmt, aber unter dem Helm befindet sich einzig mein Kopf; wenn ich den anstosse, schadet das sonst niemandem. Wenn ich den Kopf eines anderen auf dem Velo mitführen würde, was ich natürlich nicht tue, dann müsste auf selbigen ein Helm drauf. Der Mensch muss das Recht haben, über sein Leben – auch über dessen Ende – frei zu entscheiden. Aber nur über seinen eigenen Auftritt und Abgang.
Einen unfreiwilligen Abgang machen die Schüler, wenn sie in den Anti-Masern-Zwangsurlaub geschickt werden. Das verstösst gegen das Recht auf Grundschulunterricht. Stört Sie das nicht?
Doch, schon. Man bestraft ein Kind nicht, wenn es drei Wochen nicht in die Schule darf. Man bringt aber den Lehrer in eine schwierige Situation. Soll er nun die Drei-Wochen-Ferien-Kinder links liegen lassen und sie bei einer Prüfung durchrasseln lassen? Oder soll er den Stoff repetieren und damit die anderen langweilen? Eine unmögliche Situation! Zumal: Dass man Kinder vom Schulunterricht ausschliesst, ist kontraproduktiv. Wir wollen ja, dass Leute, die sich nicht impfen lassen, intelligenter werden. Wenn man nun einfach ihre Kinder vom Unterricht fernhält, torpediert man dieses Ziel.
Dann schauen wir mal, ob die Impfung gewirkt hat: Was wäre die intelligentere Lösung?
Ganz einfach: Wer in einem Bereich arbeiten will, den andere nicht meiden können, muss geimpft sein und dies mit seinem Impfausweis belegen. Das betrifft sämtliche Angestellte in Spitälern, Gefängnissen, Altersheimen und Schulen, aber auch Polizisten oder Schalterbeamte. Einfach jeden, dem ich als Bürger nicht ausweichen kann.
Die Schüler passen nicht in diese Logik.
Aber sicher doch. Als Schüler kann ich nicht wählen, mit wem ich in die Schule will.
Das ist doch Impfzwang in Reinkultur!
Nein, denn eine Firma, die beispielsweise homöopathische Globuli herstellt und keinen direkten Kundenkontakt hat, kann immer noch sagen: Darauf pfeifen wir.
Ja, ja. Aber solche Pfiffe wären sehr selten. In den meisten Firmen würde der Chef das Impflied pfeifen.
Ich gebe zu: Mein Vorschlag käme nahe an einen Impfzwang. Das ist in den USA bereits Alltag: Wer einen Job im Spital will, muss den Impfausweis vorlegen. Dieses Prinzip sollte man in der Schweiz auch einführen. (Verstummt.) Während ich so rede, kommt mir die Schildkröte wieder in den Sinn.
Die mitrauchende?
Genau.
Sie will ja kaum einen Job im Spital.
Natürlich nicht, es geht ja eigentlich auch ums Rauchen.
Welch Zufall!
Vor ein paar Tagen las ich, rein zufällig, dass ein Vermieter seinen Mieter vor die Tür stellt, weil er in der Wohnung zu viel rauchte und sich die Nachbarn darüber beschwert haben. Ich darf heute also in den «eigenen» vier Wänden nicht rauchen, auf öffentlichem Boden aber andere anstecken. Das ist doch paradox.
Das BAG empfiehlt ebenfalls, in Krippen und Schulen nur Geimpfte einzustellen. Seit wann sind Sie völlig BAG-konform?
Beim Impfen fast immer. Einzig bei der Grippeimpfung handelt das BAG zu lasch. Hier empfiehlt das Bundesamt die Impfung immer noch nur für Risikopatienten. Man kann aber nicht bei einem Virus so und beim anderen anders fahren. Man muss den Solidaritätsaspekt ins Zentrum stellen – und das bedeutet: Impfen, um niemanden anzustecken.
Jetzt wird es mir bald mulmig. Sie gelten nicht als grosser Freund der Weltgesundheitsorganisation WHO. Doch Sie tönen genauso.
Ich bin mit der WHO beim Thema Impfen nur dann nicht einverstanden, wenn sie wieder einmal auf Hysterie macht. Die ist auch aktuell fehl am Platz. Mir geht es um die grundsätzliche humanistische Einstellung. Und da kann ich nichts dafür, dass die WHO auch meiner Meinung ist.
Die WHO will die Masern bis 2015 eliminieren. Vision oder Utopie?
Es ist in dem Sinne eine Vision, als dass man es mit anderen Krankheiten, vorab den Pocken, geschafft hat. Wenn man jedoch sieht, welche fadenscheinigen Gründe die Leute gegen die Impfung ins Feld führen, ist es bei den Masern wohl leider eine Utopie.
Den Faden nehme ich gerne auf: Welches ist für Sie der dümmste Grund gegen das Impfen?
Der allerdümmste Grund kommt oft ausgerechnet von Müttern: Das Kind, so sagen sie, habe dank der Krankheit einen Entwicklungssprung durchgemacht. Die Krankheit sei für das geistige Gedeihen enorm wichtig. Echt durchgeknallt, diese «Leiden um zu werden»-Passion. Zumal es eine Selbsttäuschung vom Schlimmsten ist: Jedes Kind, ja, jeder Mensch, der eine Woche schwerkrank darnieder lag, wirkt im genesenen Zustand wie auferstanden.
Die Durchimpfquote bei den Masern liegt bei 82 Prozent. Liegt mehr drin?
Kaum. Bei den Nicht-Impfern steht der Eigennutz zuoberst. Ihr Hirn könnte man nur mit echten Gefahren umprogrammieren. Solange nicht die gesamte Sippe darnieder liegt, sehen die Leute keine Gefahr.
Am stärksten gegen das Impfen wehrt sich die Urschweiz. Ein Zufall?
Nein, das ist Tradition. In diesen Regionen leben auch die meisten Wunderheiler – und das nicht zu schlecht. Gerade in ländlichen Regionen misstrauen viele nicht nur dem Staat, sondern auch der Schulmedizin. Man setzt lieber auf Hausmittelchen und Aberglauben. Zudem ist man, so will es die Legende, hart im Nehmen. Das ist ein perfekter Boden, um sich nicht zu impfen.
(Basler Zeitung)
Erstellt: 12.07.2013, 07:58 Uhr
Interview: «Masern sind kein Klacks» - Schweiz - tagesanzeiger.ch
Von Thomas Wehrli. Aktualisiert um 09:58 122 Kommentare
In Ingenbohl (SZ) erkrankte eine Schülerin an Masern. Die Schulleitung griff durch: Wer nicht geimpft war, musste zu Hause bleiben. Für Immunologe Beda Stadler ist dies nur die zweitbeste Lösung.
«Eine Woche Krankheit ist eine gestohlene Woche»: Ein an Masern erkranktes Kind.
Bild: STR/Keystone
Artikel zum Thema
- Ungeimpfte Schüler müssen nach Hause
- Masern in Zürich weiterhin aktuell
- Zürcher Forscher impfen Mäuse gegen Alzheimer
Herr Stadler, Sie betätigen sich derzeit als Heimwerker und verlegen in Ihrem Chalet im Wallis einen neuen Fussboden. Sind Sie am Boden geblieben, als Sie von den Schulausschlüssen im Kanton Schwyz gehört haben?
Ich musste schmunzeln. Man sagt, man will keinen Impfzwang – und greift dann zu solchen Zwangsmitteln. Wer weiss: Vielleicht freuen sich die Eltern, die ihre Kinder nicht impfen lassen, sogar über solche Feuerwehrübungen.
Wohl eher die Schüler, die zu Hause bleiben können und nicht erkranken. Sie bekommen zusätzliche Ferien.
Ein weiteres Argument, sich nicht impfen zu lassen – wenn man verantwortungslos sein will.
Die Massnahme, die Schüler nach Hause zu schicken, basiert auf einer Richtlinie des Bundesamts für Gesundheit (BAG). Sie ist doch nichts anders als ein «sanfter Impfzwang».
Ganz klar. Man will nicht, wie in den USA, einen Impfzwang verordnen, weil man so Applaus von zwei Seiten bekommt. Einerseits von den Leuten, die sagen, der Staat solle aufhören, sich in die Freiheit seiner Bürger einzumischen. Andererseits der Applaus von all den Leuten, die echte oder pseudoreligiöse Gründe gegen das Impfen ins Feld führen. Die Anthroposophen zähle ich dazu; das ist für mich eine Sekte, das sind keine Mediziner.
Wäre es dann nicht ehrlich zu sagen: Wir wollen den Impfzwang.
Lassen Sie mich rasch abschweifen ...
... sicher zum Rauchen, Ihrer Passion.
(Lacht.) Ich las jüngst, dass ein Tierarzt in seinem Büro nicht mehr rauchen darf, weil er Schildkröten in seinem Büro hält und die Leute das als Tierquälerei betrachten. Ich weiss nicht, ob die Schildkröten gerne mitrauchen oder nicht. Aber das Beispiel zeigt: Den Tieren gegenüber geben wir uns fürsorglich, den Menschen beim Rauchen ohnehin – man darf ja niemand mehr mit Passivrauch belästigen –, aber: Es ist völlig in Ordnung, wenn die Eltern dem Kind eine Woche Krankheit zumuten. Die Masern sind wie alle Kinderkrankheiten kein Klacks. Eltern, die ihre Kinder nicht impfen, sind Rabeneltern. Haben sich diese Eltern mal überlegt, wie es ist, als Kind eine Woche krank im Bett zu liegen? Ich bezweifle es stark.
Früher aber ...
... hören Sie mir auf mit dieser alten Leier! Ja, früher sagte man: Du musst leiden, dann bekommst du einen Platz in der ersten Reihe im zweiten Leben. Mutter Teresa hat es vorgelebt und bekam dafür den Nobelpreis. Aber für nüchterne Menschen wie mich, die nur ein Leben haben, ist eine Woche Krankheit eine gestohlene Woche.
Von den Eltern gestohlen.
Das ist der eine wunde Punkt: Die Kinder entscheiden nicht selber, allenfalls krank zu werden, sondern ihre Eltern. Das ist eine Zumutung. Der andere Punkt: Wir haben schlicht die Freiheit nicht, einen anderen Menschen mit einer ansteckenden Krankheit zu beglücken. Erst recht nicht, wenn diese gefährlich ist. Bei den Masern liegt die Mortalität bei 1:1000; jeder 1000. Patient stirbt also. Wer dies in Kauf nimmt, handelt unverantwortlich und egoistisch.
Mit Liedermacher Konstantin Wecker: «Empört euch! Wehrt euch!»
Wieso nicht? Bei der Impffrage sollte nicht der Staat die Triebfeder sein, sondern die Gesellschaft, die sich gegen die Egoisten formiert. Konsens statt Top-down vom Staat ist gefragt.
Die Pharmaindustrie hört Ihr Votum sicher gerne – sie macht mit den Impfungen gute Umsätze.
Ach was! Ich wettere im Gegenteil immer gegen die Pharmaindustrie, weil sie genau dieses Business vernachlässigt. Das Impfen generiert zu wenig Umsätze und läuft deshalb nebenher. Der entscheidende Fehler geschah, als im letzten Jahrhundert die Antibiotika aufkamen. Man setzte auf diese Heilmittel statt auf Impfungen. Weil sie besser für das Betriebsergebnis sind und auch unserem Affenhirn mehr entsprechen: Lieber warten, bis man krank ist, und dann eine Pille schlucken, statt sich vorsorglich zu impfen.
Das Stadler-Hirn tickt da natürlich viel fortschrittlicher.
Nein. Auch ich funktioniere nach dem Warten-Schlucken-Prinzip – Impfungen ausgenommen.
Gut, dass Sie das zugeben. Schliesslich flitzen Sie ohne Helm mit dem Velo durch Bern. Sie halten sich also selber nicht an das gepredigte Vorsorgeprinzip.
Das stimmt, aber unter dem Helm befindet sich einzig mein Kopf; wenn ich den anstosse, schadet das sonst niemandem. Wenn ich den Kopf eines anderen auf dem Velo mitführen würde, was ich natürlich nicht tue, dann müsste auf selbigen ein Helm drauf. Der Mensch muss das Recht haben, über sein Leben – auch über dessen Ende – frei zu entscheiden. Aber nur über seinen eigenen Auftritt und Abgang.
Einen unfreiwilligen Abgang machen die Schüler, wenn sie in den Anti-Masern-Zwangsurlaub geschickt werden. Das verstösst gegen das Recht auf Grundschulunterricht. Stört Sie das nicht?
Doch, schon. Man bestraft ein Kind nicht, wenn es drei Wochen nicht in die Schule darf. Man bringt aber den Lehrer in eine schwierige Situation. Soll er nun die Drei-Wochen-Ferien-Kinder links liegen lassen und sie bei einer Prüfung durchrasseln lassen? Oder soll er den Stoff repetieren und damit die anderen langweilen? Eine unmögliche Situation! Zumal: Dass man Kinder vom Schulunterricht ausschliesst, ist kontraproduktiv. Wir wollen ja, dass Leute, die sich nicht impfen lassen, intelligenter werden. Wenn man nun einfach ihre Kinder vom Unterricht fernhält, torpediert man dieses Ziel.
Dann schauen wir mal, ob die Impfung gewirkt hat: Was wäre die intelligentere Lösung?
Ganz einfach: Wer in einem Bereich arbeiten will, den andere nicht meiden können, muss geimpft sein und dies mit seinem Impfausweis belegen. Das betrifft sämtliche Angestellte in Spitälern, Gefängnissen, Altersheimen und Schulen, aber auch Polizisten oder Schalterbeamte. Einfach jeden, dem ich als Bürger nicht ausweichen kann.
Die Schüler passen nicht in diese Logik.
Aber sicher doch. Als Schüler kann ich nicht wählen, mit wem ich in die Schule will.
Das ist doch Impfzwang in Reinkultur!
Nein, denn eine Firma, die beispielsweise homöopathische Globuli herstellt und keinen direkten Kundenkontakt hat, kann immer noch sagen: Darauf pfeifen wir.
Ja, ja. Aber solche Pfiffe wären sehr selten. In den meisten Firmen würde der Chef das Impflied pfeifen.
Ich gebe zu: Mein Vorschlag käme nahe an einen Impfzwang. Das ist in den USA bereits Alltag: Wer einen Job im Spital will, muss den Impfausweis vorlegen. Dieses Prinzip sollte man in der Schweiz auch einführen. (Verstummt.) Während ich so rede, kommt mir die Schildkröte wieder in den Sinn.
Die mitrauchende?
Genau.
Sie will ja kaum einen Job im Spital.
Natürlich nicht, es geht ja eigentlich auch ums Rauchen.
Welch Zufall!
Vor ein paar Tagen las ich, rein zufällig, dass ein Vermieter seinen Mieter vor die Tür stellt, weil er in der Wohnung zu viel rauchte und sich die Nachbarn darüber beschwert haben. Ich darf heute also in den «eigenen» vier Wänden nicht rauchen, auf öffentlichem Boden aber andere anstecken. Das ist doch paradox.
Das BAG empfiehlt ebenfalls, in Krippen und Schulen nur Geimpfte einzustellen. Seit wann sind Sie völlig BAG-konform?
Beim Impfen fast immer. Einzig bei der Grippeimpfung handelt das BAG zu lasch. Hier empfiehlt das Bundesamt die Impfung immer noch nur für Risikopatienten. Man kann aber nicht bei einem Virus so und beim anderen anders fahren. Man muss den Solidaritätsaspekt ins Zentrum stellen – und das bedeutet: Impfen, um niemanden anzustecken.
Jetzt wird es mir bald mulmig. Sie gelten nicht als grosser Freund der Weltgesundheitsorganisation WHO. Doch Sie tönen genauso.
Ich bin mit der WHO beim Thema Impfen nur dann nicht einverstanden, wenn sie wieder einmal auf Hysterie macht. Die ist auch aktuell fehl am Platz. Mir geht es um die grundsätzliche humanistische Einstellung. Und da kann ich nichts dafür, dass die WHO auch meiner Meinung ist.
Die WHO will die Masern bis 2015 eliminieren. Vision oder Utopie?
Es ist in dem Sinne eine Vision, als dass man es mit anderen Krankheiten, vorab den Pocken, geschafft hat. Wenn man jedoch sieht, welche fadenscheinigen Gründe die Leute gegen die Impfung ins Feld führen, ist es bei den Masern wohl leider eine Utopie.
Den Faden nehme ich gerne auf: Welches ist für Sie der dümmste Grund gegen das Impfen?
Der allerdümmste Grund kommt oft ausgerechnet von Müttern: Das Kind, so sagen sie, habe dank der Krankheit einen Entwicklungssprung durchgemacht. Die Krankheit sei für das geistige Gedeihen enorm wichtig. Echt durchgeknallt, diese «Leiden um zu werden»-Passion. Zumal es eine Selbsttäuschung vom Schlimmsten ist: Jedes Kind, ja, jeder Mensch, der eine Woche schwerkrank darnieder lag, wirkt im genesenen Zustand wie auferstanden.
Die Durchimpfquote bei den Masern liegt bei 82 Prozent. Liegt mehr drin?
Kaum. Bei den Nicht-Impfern steht der Eigennutz zuoberst. Ihr Hirn könnte man nur mit echten Gefahren umprogrammieren. Solange nicht die gesamte Sippe darnieder liegt, sehen die Leute keine Gefahr.
Am stärksten gegen das Impfen wehrt sich die Urschweiz. Ein Zufall?
Nein, das ist Tradition. In diesen Regionen leben auch die meisten Wunderheiler – und das nicht zu schlecht. Gerade in ländlichen Regionen misstrauen viele nicht nur dem Staat, sondern auch der Schulmedizin. Man setzt lieber auf Hausmittelchen und Aberglauben. Zudem ist man, so will es die Legende, hart im Nehmen. Das ist ein perfekter Boden, um sich nicht zu impfen.
(Basler Zeitung)
Erstellt: 12.07.2013, 07:58 Uhr
Interview: «Masern sind kein Klacks» - Schweiz - tagesanzeiger.ch