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"Neue Arroganz"

  • Ersteller Ersteller Yunan
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Y

Yunan

Guest
30.03.2011

Bestseller-Autor Uwe Timm


"In Deutschland gibt es eine neue Arroganz"

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Proteste gegen Stuttgart 21: "Wo regen sich heute basisdemokratische Elemente?"

Verkommt Deutschland zum Spießerland? Uwe Timm hat eine Novelle über die Zeit vor 68 geschrieben - die ihn frappierend an die Gegenwart erinnert. Im SPIEGEL-ONLINE-Interview spricht der Bestseller-Autor über alte Wunden der Revolution, prahlerische Neo-Konservative und die neue Protestkultur.

SPIEGEL ONLINE: Herr Timm, vergleicht man die Gegenwart mit dem Studentenleben vor der 68er-Revolution, das Sie in Ihrer neuen Novelle "Freitisch" schildern, hat man das Gefühl: Alles wieder wie so spießig damals.

Uwe Timm: Da gibt es starke Ähnlichkeiten. Denken Sie an das so genannte neue Bürgertum - Frauen werden plötzlich wieder mit Handkuss begrüßt. Und welche ernsthafte Bedeutung der Kleidungskodex hat. Sogar unter Literaten.
SPIEGEL ONLINE: Haben Sie das nicht selbst vorweggenommen? Christian Kracht hat schon vor Jahren davon geschwärmt, welchen Wert Sie auf gute Schuhe legen.

Timm: Das ist bei mir sicherlich ein Reflex auf meine Ausbildung: Ich habe Kürschner gelernt. Da bleibt die Wertschätzung von handwerklichem Können. Ich habe mir immer ordentliche Schuhe gekauft, die lange halten. Auch, als man darauf nicht geachtet hat. Heute allerdings achtet man wieder sehr darauf. Das ist fast ein Grund, sich schlechte Schuhe anzuziehen.

SPIEGEL ONLINE: Aber die Renaissance des Bürgerlichen beschränkt sich nicht auf Äußerlichkeiten, oder?

Timm: In Deutschland gibt es eine neue Arroganz, eine Arroganz qua Bildung: Hebraicum, Graecum, das große Latinum. Das wird wie eine Bugwelle vor sich hergeschoben. Das wäre 1967/68 ein Unding gewesen. Man wusste, es ist ein großes Privileg, dass man eine gute Schulbildung hat und man hat alles getan, um mit seinem Wissen niemanden in die Defensive zu drängen.

SPIEGEL ONLINE: So, wie es Sarrazin mit Goethes "Wanderers Nachtlied" gemacht hat?

Timm: …und dann konnte er das selbst nicht richtig auswendig! Ich habe ihn im Fernsehen gesehen. Das ist genau diese elitäre Haltung, die ich meine. Bildung ist gut, aber ich wünsche mir den Bürger als Citoyen, als jemanden, der aufmuckt, der in der französischen Tradition der Brüderlichkeit und Gleichheit steht.

SPIEGEL ONLINE: Der Bürger, der aufmuckt, wehrt sich allerdings, wie in Hamburg, gerade gegen die Reform der Gymnasien.

Timm: Viele, die heute vom humanistischen Gymnasium schwärmen, wollen es als Festung erhalten.

SPIEGEL ONLINE: Auch als Festung gegen Migranten?

Timm: Ich kann angesichts des Erfolgs von Sarrazin nur sagen, dass sich hier die massiven Fehler der Politik rächen: Es war eine Selbsttäuschung, anzunehmen, dass die Einwanderer, man nannte sie ja Gastarbeiter, irgendwie wieder verschwinden würden. Interessant ist übrigens, wann zum ersten Mal in der deutschen Literatur Türken auftauchen. In meinem Roman "Heißer Sommer" zum Beispiel gibt es einen, 1974.

SPIEGEL ONLINE: Damit begann Ihre Laufbahn als Schriftsteller. Doch der ganz große Erfolg ließ fast zwanzig Jahre auf sich warten - bis zur "Entdeckung der Currywurst". Waren Sie immer zuversichtlich, dass er noch kommt?

Timm: Wir haben als Familie sehr sparsam gelebt. Aber das fand ich normal. Wenn ich mich umschaute, ging das fast allen so. Aber es gab nie einen Zweifel, dass ich schreiben wollte und auch schreiben musste. Das hört sich immer so dramatisch an, aber es ist so. Ich hatte ein kleines Einkommen: 800 Mark als Mitherausgeber der Autorenedition. Die wurde dann gekündigt…
SPIEGEL ONLINE: Bertelsmann, unter dessen Dach die Edition erschien weigerte sich 1978, Peter O. Chotjewitz Roman "Die Herren des Morgengrauens" zu verlegen. Damit war die Edition am Ende.

Timm: Das war ein Fall von politischer Zensur.

2. Teil: Widerspruch statt Wurschtigkeit

SPIEGEL ONLINE: In Chotjewitz' Buch ging es um einen Anwalt, der sich als RAF-Sympathisant von den Behörden verfolgt fühlt, aber auch mit einem Terroristen befreundet ist.

Timm: Es gab da natürlich eine heftige Diskussion, auch mit Chotjewitz. Ich habe den bewaffneten Kampf immer abgelehnt. Die ganze Baader-Meinhof-Geschichte beginnt ja mit einer fürchterlichen Sache: Dass die gleich bei der Befreiung von Baader diesen armen Angestellten, der da in der Bibliothek arbeitete, mit einem Bauchschuss trafen. Ich habe den Baader ganz am Anfang erlebt in München, ich fand den höchst unangenehm. Der sah sehr gut aus, das machte wohl auch für Mädchen seine Faszination aus, er hatte eine gute Haltung, hatte wirklich diese existenzialistische Lässigkeit, mit der er alles negierte. Sehr präpotent, sehr schroff, wie er jemanden abbügelte. Ihm fehlte jegliche fragende Haltung zu sich selbst.

SPIEGEL ONLINE: Politisch radikal waren Sie selbst auch: Sie waren DKP-Mitglied, bis in die Achtziger.

Timm: Ja, bis 1981. Es gab viele Gründe, dass ich da reingegangen bin: auch den Eurokommunismus, der damals zur Diskussion stand. 1972 lernte ich die ersten Kommunisten kennen, die im Widerstand waren, im Zuchthaus, im KZ. Die haben mich sehr beeindruckt. Aber die Partei hat nie ein kritisches Verhältnis zur DDR entwickelt. Ein Grund länger in der DKP zu bleiben, als es meiner politischen Überzeugung entsprach: Es gab Berufsverbote. Man fühlte sich solidarisch mit den Betroffenen. In meiner Parteigruppe waren vier Leute, die nicht Lehrer werden konnten. Das kann man sich heute nicht mehr vorstellen, dass es Hunderttausende von Befragungen gab. Die Leute wurden hinzitiert und auf ihre verfassungskonforme Haltung befragt. Einer der großen politischen Fehler der SPD.

SPIEGEL ONLINE: Anfang des Jahres sorgte die Tatsache, dass Gesine Lötzsch in einem Zeitungsartikel das Wort Kommunismus verwendet hat, für große Empörung. Konnten Sie das nachvollziehen?

Timm: Die Aufregung fand ich ein bisschen hektisch. Das Wort ist natürlich kontaminiert, durch den sogenannten realen Sozialismus, auch durch die Erfahrung mit der Stasi. Dass es die gab, wusste man, wie weit das aber in den privaten Bereich hinein ging, bis hin zu Duftproben, da hat man später nur gestaunt. Aber man muss darüber diskutieren, welche Inhalte sich mit der Idee des Kommunismus grundsätzlich verbinden lassen. Wie schafft man diesen Ausgleich zwischen Freiheit und Gleichheit.

SPIEGEL ONLINE: Die Kommunismusdebatte nach Lötzschs Text dauerte ein paar Tage. In den Siebzigern hat man jahrelang über derartige Themen gestritten. Was ist Ihnen lieber?

Timm: Diese Empörung war damals einfach da. Wenn man heute Steinbrück hört, der sagt, dass man gegen das Finanzkapital gar nichts machen kann, also politisch immer nur reagieren kann, heißt das ja, dass die Politik hinter der Ökonomie immer nur hinterherhinkt. In der Diskussionskultur hat sich einiges geändert. Ich wohne in München. Früher wurde bei uns in der Nachbarschaft auf den Balkonen gekifft und diskutiert, was das Zeug hält. Heute sitzen die Leute auch auf den Balkonen, da wird allenfalls geraucht und es wird über Reisen geredet, noch mal über Reisen geredet und über Geldanlagen. Und Karriereprobleme. Da könnte man eine Mentalitätsstudie machen. Der Furor, der 1968 dahinter war, hat wirklich viel bewegt. Das war der große demokratische Modernisierungsschub in der Bundesrepublik. Aber der Furor ist weg.

SPIEGEL ONLINE: Stéphane Hessel forderte in einer Streitschrift, man solle sich wieder empören - und hatte damit sehr viel Erfolg. Ist eine neue Protestbewegung womöglich schon abzusehen?

Timm: Es herrscht eine eigentümliche Stimmung. Das war in den mittleren Sechzigern, der Zeit, in der "Freitisch" spielt, ganz ähnlich. Man merkte, etwas stimmt nicht. Eine dumpfe, resignative Haltung hatte sich breitgemacht, aber an den Rändern, in der Kunst, in der Literatur, in der Musik tat sich was. Wie 1961, da spielten ein paar Leute an einem Sommerabend Jazz - und plötzlich gab es diese Schwabinger Krawalle. Auch Andreas Veiels Film "Wer wenn nicht wir" beschreibt das. Den finde ich hoch interessant.

SPIEGEL ONLINE: Der Film und Ihr Buch "Freitisch" spielen in einer ähnlichen Welt: Hier wie dort schlummert hinter der Fassade der Bürgerlichkeit die Revolte.

Timm: Man merkte damals, so geht es nicht weiter. Da waren diese autoritäre Strukturen in der Gesellschaft und die alte Nazis in Amt und Würden. Das ist heute ganz anders. Komplizierter. Die sind sehr flexibel, die Politiker. Allenfalls in Stuttgart haben sie sich noch wie Anfang der Sechziger verhalten und gleich die Knüppel rausgeholt. Wo regen sich heute basisdemokratische Elemente? Im Protest. Gegen die Atomenergie oder wenn die Hamburger sich zum Beispiel ein Museum oder ihr Theater erhalten wollen, das finde ich gut. Da tut sich doch was. Es verschiebt sich was. Das Bewusstsein unter jungen Leuten hat sich auch geändert, da ist nicht mehr diese Wurschtigkeit, sondern Widerspruch - und so war es damals auch, am Freitisch.

SPIEGEL ONLINE: Den jungen Leuten von heute müssten sie allerdings erstmal erklären, was das ist, ein Freitisch.

Timm: Das gab es wirklich. Ich habe selbst an einem gesessen. Eine große Versicherung hatte 28 Freiplätze in der Kantine und wenn man ein Stipendium hatte, dann konnte man beim Studentenwerk einen Freitisch beantragen und dort essen: Das war wesentlich besser als der Fraß in der Mensa.

Das Interview führten Christian Buß und Sebastian Hammelehle
 
Ein kulturell sehr interessanter Artikel über die Stimmung in Deutschland. Genau hier geht es darum, dass es in Deutschland langsam (wieder) mehr Mut unter Jungen Leuten gibt, für ihre Interessen auf die Straße zu gehen und sich von "Kuschertum" loszusagen.
 
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