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Eine bemerkenswerte Rede des Nobel Preisträgers!
"Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach"
Harold Pinter – Nobelvorlesung: Kunst, Wahrheit & Politik
Am 13. Oktober 2005 wurde dem englischen Dramatiker Harold Pinter der Nobelpreis für Literatur zugesprochen (siehe hierzu: "Der Krieg gegen die Vernunft / The War Against Reason"). Die feierliche Verleihung fand am 7. Dezember in Stockholm statt. Harold Pinter war selbst nicht anwesend, hatte der Schwedischen Akademie aber eine Rede geschickt, die wir im Folgenden dokumentieren. Der erste Teil der Rede befasst sich mit Pinters Auffassung von Wahrheit in der Literatur, die er an eigenen Werkbeispielen erläutert. Im zweiten Teil wendet er sich der Politik und den Politikern zu und nimmt insbesondere die imperiale Politik der Vereinigten Staaten ins Visier - eine schonungslose Abrechnung mit der Lüge und dem Machtinteresse von Politikern. Demgegenüber ist das Leben eines Schriftstellers "ein äußerst verletzliches, fast schutzloses Dasein". Ihm ist der letzte Teil der Rede gewidmet, in der Pinter ein eigenes Gedicht, "Tod", zitiert. Dem Schriftsteller und intellektuellen Bürger obliege es, "die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen".
Pinter hat das in seiner Bestimmung der US-Außenpolitik so gründlich getan, dass einem angst und bange wird um die Zukunft des Menchengeschlechts.
Am Ende der Rede finden Sie eine Kurzbiografie des Schriftstellers und eine Übersicht über seine auf Deutsch erschienenen Werke.
Harold Pinter – Nobelvorlesung:
Kunst, Wahrheit & Politik
1958 schrieb ich folgendes:
„Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.“
Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr?
Die Wahrheit in einem Theaterstück bleibt immer schwer greifbar. Man findet sie niemals völlig, sucht aber zwanghaft danach. Die Suche ist eindeutig der Antrieb unseres Bemühens. Die Suche ist unsere Aufgabe. Meistens stolpert man im Dunkeln über die Wahrheit, kollidiert damit oder erhascht nur einen flüchtigen Blick oder einen Umriss, der der Wahrheit zu entsprechen scheint, oftmals ohne zu merken, dass dies überhaupt geschehen ist. Die echte Wahrheit aber besteht darin, dass sich in der Dramatik niemals so etwas wie die eine Wahrheit finden lässt. Es existieren viele Wahrheiten. Die Wahrheiten widersprechen, reflektieren, ignorieren und verspotten sich, weichen voreinander zurück, sind füreinander blind. Manchmal spürt man, dass man die Wahrheit eines Moments in der Hand hält, dann gleitet sie einem durch die Finger und ist verschwunden.
Man hat mich oft gefragt, wie meine Stücke entstehen. Ich kann es nicht sagen. Es ist mir auch völlig unmöglich, meine Stücke zusammenzufassen, ich kann nur sagen, dies ist geschehen. Das haben sie gesagt. Dies haben sie getan.
Die meisten meiner Stücke entstehen aus einer Textzeile, einem Wort oder einem Bild. Dem gegebenen Wort folgt oft kurz darauf das Bild. Ich gebe zwei Beispiele für zwei Zeilen, die mir urplötzlich einfielen, danach kam das Bild und dann ich.
Es sind die Stücke Die Heimkehr und Alte Zeiten. Der erste Satz von Die Heimkehr heißt: „Was hast du mit der Schere gemacht?“ Das erste Wort von Alte Zeiten lautet: „Dunkel“.
Das war alles, was ich jeweils an Informationen besaß.
Im ersten Fall suchte jemand offenbar eine Schere und wollte von jemand anders, den er verdächtigte, sie gestohlen zu haben, ihren Verbleib erfahren. Aber irgendwie wusste ich, dass der angesprochenen Person die Schere ebenso egal war wie die Person, die danach gefragt hatte.
„Dunkel“ verstand ich als Beschreibung der Haare einer Person, der Haare einer Frau, sowie als Antwort auf eine Frage. In beiden Fällen musste ich der Sache nachgehen. Dies geschah visuell, ein sehr langsames Überblenden vom Schatten ins Licht.
Wenn ich ein Stück beginne, nenne ich die Personen immer A, B und C.
...........................
http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedenspreise/nobel-lit-pinter.html
"Mit Hilfe der Sprache hält man das Denken in Schach"
Harold Pinter – Nobelvorlesung: Kunst, Wahrheit & Politik
Am 13. Oktober 2005 wurde dem englischen Dramatiker Harold Pinter der Nobelpreis für Literatur zugesprochen (siehe hierzu: "Der Krieg gegen die Vernunft / The War Against Reason"). Die feierliche Verleihung fand am 7. Dezember in Stockholm statt. Harold Pinter war selbst nicht anwesend, hatte der Schwedischen Akademie aber eine Rede geschickt, die wir im Folgenden dokumentieren. Der erste Teil der Rede befasst sich mit Pinters Auffassung von Wahrheit in der Literatur, die er an eigenen Werkbeispielen erläutert. Im zweiten Teil wendet er sich der Politik und den Politikern zu und nimmt insbesondere die imperiale Politik der Vereinigten Staaten ins Visier - eine schonungslose Abrechnung mit der Lüge und dem Machtinteresse von Politikern. Demgegenüber ist das Leben eines Schriftstellers "ein äußerst verletzliches, fast schutzloses Dasein". Ihm ist der letzte Teil der Rede gewidmet, in der Pinter ein eigenes Gedicht, "Tod", zitiert. Dem Schriftsteller und intellektuellen Bürger obliege es, "die wirkliche Wahrheit unseres Lebens und unserer Gesellschaften zu bestimmen".
Pinter hat das in seiner Bestimmung der US-Außenpolitik so gründlich getan, dass einem angst und bange wird um die Zukunft des Menchengeschlechts.
Am Ende der Rede finden Sie eine Kurzbiografie des Schriftstellers und eine Übersicht über seine auf Deutsch erschienenen Werke.
Harold Pinter – Nobelvorlesung:
Kunst, Wahrheit & Politik
1958 schrieb ich folgendes:
„Es gibt keine klaren Unterschiede zwischen dem, was wirklich und dem was unwirklich ist, genauso wenig wie zwischen dem, was wahr und dem was unwahr ist. Etwas ist nicht unbedingt entweder wahr oder unwahr; es kann beides sein, wahr und unwahr.“
Ich halte diese Behauptungen immer noch für plausibel und weiterhin gültig für die Erforschung der Wirklichkeit durch die Kunst. Als Autor halte ich mich daran, aber als Bürger kann ich das nicht. Als Bürger muss ich fragen: Was ist wahr? Was ist unwahr?
Die Wahrheit in einem Theaterstück bleibt immer schwer greifbar. Man findet sie niemals völlig, sucht aber zwanghaft danach. Die Suche ist eindeutig der Antrieb unseres Bemühens. Die Suche ist unsere Aufgabe. Meistens stolpert man im Dunkeln über die Wahrheit, kollidiert damit oder erhascht nur einen flüchtigen Blick oder einen Umriss, der der Wahrheit zu entsprechen scheint, oftmals ohne zu merken, dass dies überhaupt geschehen ist. Die echte Wahrheit aber besteht darin, dass sich in der Dramatik niemals so etwas wie die eine Wahrheit finden lässt. Es existieren viele Wahrheiten. Die Wahrheiten widersprechen, reflektieren, ignorieren und verspotten sich, weichen voreinander zurück, sind füreinander blind. Manchmal spürt man, dass man die Wahrheit eines Moments in der Hand hält, dann gleitet sie einem durch die Finger und ist verschwunden.
Man hat mich oft gefragt, wie meine Stücke entstehen. Ich kann es nicht sagen. Es ist mir auch völlig unmöglich, meine Stücke zusammenzufassen, ich kann nur sagen, dies ist geschehen. Das haben sie gesagt. Dies haben sie getan.
Die meisten meiner Stücke entstehen aus einer Textzeile, einem Wort oder einem Bild. Dem gegebenen Wort folgt oft kurz darauf das Bild. Ich gebe zwei Beispiele für zwei Zeilen, die mir urplötzlich einfielen, danach kam das Bild und dann ich.
Es sind die Stücke Die Heimkehr und Alte Zeiten. Der erste Satz von Die Heimkehr heißt: „Was hast du mit der Schere gemacht?“ Das erste Wort von Alte Zeiten lautet: „Dunkel“.
Das war alles, was ich jeweils an Informationen besaß.
Im ersten Fall suchte jemand offenbar eine Schere und wollte von jemand anders, den er verdächtigte, sie gestohlen zu haben, ihren Verbleib erfahren. Aber irgendwie wusste ich, dass der angesprochenen Person die Schere ebenso egal war wie die Person, die danach gefragt hatte.
„Dunkel“ verstand ich als Beschreibung der Haare einer Person, der Haare einer Frau, sowie als Antwort auf eine Frage. In beiden Fällen musste ich der Sache nachgehen. Dies geschah visuell, ein sehr langsames Überblenden vom Schatten ins Licht.
Wenn ich ein Stück beginne, nenne ich die Personen immer A, B und C.
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http://www.uni-kassel.de/fb5/frieden/themen/Friedenspreise/nobel-lit-pinter.html