Natürlich ist der koloniale Aspekt nicht weg zureden, im Gegenteil. Es war ein Vorurteil der europäischen Kolonialisten, den Bewohnern Afrikas (besonders Schwarze) eine besondere Nähe zur Natur zuzuschreiben und daraus sollte etwas "unnatürliches" wie Homosexualität gar nicht existieren. Und dieses koloniale Argument wird heute von vielen schwarzafrikanischen Politikern selbst verwendet. Afrika ist heute im Grossen und Ganzen ein homophober Kontinent, ich glaube nur in vier Ländern wird die Homosexualität nicht unter Strafe gestellt (Südafrika, Elfenbeinküste, Tschad und Mali) - dagegen wirkt sogar Balkan für die Homosexuellen wie ein Paradies. In Uganda beispielsweise bekommst du deswegen sogar eine lebenslange Strafe. Von den evangelischen "Kreuzzügen" der amerikanischen Prediger mal davon abgesehen die ein eigenes Kapitel verdienen, bzw. allgemein das europäische Christentum im 19. Jahrhundert wurde nicht gründlich genug reflektiert was dieses Thema betrifft. Die Frage ob Homosexualität genetisch oder eben "Entwicklungs-Pychologisch" bedingt ist streitet noch die Wissenschaft, aber entscheidend ist sicherlich, dass die sexuelle Orientierung weder durch Strafen noch irgendwelche "Wundertherapien" verändert werden können, wo es noch in vielen afrikanischen Staaten und auch in Südamerika an Tagesordnung steht.
Aber im Fall von abrahamitischen Religionen muss man vorsichtig sein: beispielsweise kann eine wissenschaftliche Exegese auch in Widerspruch zu älteren kirchlichen Interpretationen geraten (Paulus Brief beispielsweise an die Korinther und an Timotheus). Wer in einer Welt lebt, wo das ganze Christentum als Hauptfeind der Homosexualität gilt, dürfte die eine Passage als überzeugenden Beweis dafür empfinden, dass Paulus eine homosexuelle Handlung zwischen zwei Männern nicht billigt. Aber moderne Übersetzungen behandeln (die in der Sprachforschung tätig sind) einige Wörter für "männlich" und für "Bett" so, dass die Passage eben als Ausdruck für Homosexualität doch gilt. Und jeder interpretiert es so, dass es in seinem Weltbild passt und kompatibel für die heutige Gesellschaft und Politik ist.
Das Problem ist, dass die Homosexualität für uns heute so normal geworden ist, dass es manchen seltsam erscheinen mag, wenn jemand felsenfest behauptet, dass es einst Gesellschaften gegeben hat, in denen diese Vorstellung einfach nicht existierte, was auch stimmt. Und du hast auch Indien erwähnt, wo auch das Geschlechtsthema in der Gesellschaft eine grosse Rolle spielt. Dort hast dort Kotis-Gruppen, die sich weder als Mann noch als Frau fühlen und sie überschneiden sich mit einer anderen Form südasiatischer Geschlechtsidentität, deren Kategorie Hijra lautet. Der indische Expertenausschuss der indischen Regierung kam zur Schlussfolgerung, dass "biologische Männer", die ihre "männliche Identität" nach einer gewissen Zeit zurückweisen etwas zwischen Mann und Frau sind. Die Hijras haben auch eine lange Tradition des Zusammenlebens in Gemeinschaften mit eigenen Ritualen, sie tragen Frauenkleider und schminken sich wie Frauen. Etwas ähnliches ist auch bei vielen Indianer-Stämmen in Nordamerika bekannt, von dem her stimmt der von dir angesprochene koloniale Import schon, aber in der heutigen Zeit ist die Problematik eine andere wo "Schwulsein" politisch kontiert wird und eben nicht mehr eine Privatsache eines Individuums ist, sonder eine ganz andere Rolle einnimmt.