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Russland kommt

Yutaka

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Entsteht im Osten ein neues Reich des Bösen? Viele Russen können darüber nur lachen. Seit Putin regiert, wird das Leben immer besser und Russland grösser.

Von Benedikt Rüttimann und Stefan Scholl

Bloss weg hier. Das war Marinas ständiger Gedanke. Weg aus dem Städtchen Istra bei Moskau, dem täglichen Gequetsche in der übel riechenden S-Bahn, weg von den dicken Grapschern mit ihren Wodkafahnen. Weg aus Russland.

Das war vor fünf Jahren. Jetzt sitzt Marina, 28, in ihrer Küche auf dem Rand des Spülbeckens, lässt ihre langen Beine baumeln und lästert über klein karierte Franzosen und schmutzige Treppenhäuser. Für nichts auf dieser Welt würde sie noch einmal in den Westen ziehen.

Dabei hatte alles begonnen wie im Märchen. Marina studierte an Moskaus renommiertestem Fremdspracheninstitut Französisch und Englisch. Sie schrieb Bestnoten, und sie hatte sich in einen jungen Franzosen verliebt, der sie mitnehmen wollte in die grosse Freiheit. Im Sommer 2002 bestieg sie ein Flugzeug nach Frankreich.

Doch statt in Paris landete sie in einer Provinzstadt im Süden. «Der erste Schock», erinnert sich Marina, «war die klaustrophobische Wohnung.» Die Franzosen, stellte sie irritiert fest, pflegten bloss ihre Fassaden, drinnen war es schäbig. Die Wände waren dünn wie Papier; man hörte jeden Seufzer der Nachbarn. «Ich glaubte mich in einer riesigen sowjetischen Kommunalka», sagt Marina. Der zweite Schock war das Geschwätz in den verqualmten Cafés. «Die redeten nur über Politik, Politik und Politik.» Marina schrieb sich an der Universität ein. Die nächste Ernüchterung: Die meisten Kommilitonen rangen nicht mit dem Stoff, sondern der Orthografie.

Im Oktober 2002 überfielen tschetschenische Terroristen ein Moskauer Musicaltheater und nahmen 800 Zuschauer als Geiseln. Russlands Präsident Putin befahl den Einsatz von Betäubungsgas, was nicht nur die Geiselnehmer ausser Gefecht setzte, sondern auch 129 Geiseln tötete. Frankreich war entsetzt und erklärte Putin zum kaltherzigen Killer. Marina verstand die Welt nicht mehr. Die Bösen waren nicht die islamistischen Terroristen, sondern die Russen. «Zum erstenmal in meinem Leben erhob ich meine Stimme für Russland», sagt Marina. Je heftiger Medien und Bekannte auf Putin eindroschen, desto glühender verteidigte sie ihn. Die Familie ihres Freundes verpasste ihr den Spitznamen «Stalin». Ihr Traum wurde zum Alptraum.

Krank vor Heimweh

«Frankreich hat mich zur Patriotin gemacht», sagt Marina. Sie wurde krank vor Heimweh, rang monatelang mit sich, dann schmiss sie trotz Bestnoten das Studium und packte ihre Sachen. Viel blieb ihr nicht. Die Kleider, die ihr Freund ihr geschenkt hatte, musste sie zurücklassen. «Du reist heute leicht», giftete er zum Abschied.

Marina ist froh, dass sie wieder zu Hause ist. «In Russland bin ich freier. Hier muss ich mich nicht dauernd verstellen, ich kann sagen, was ich wirklich denke.» Ihr Herz gehört jetzt Denis, ihrem russischen Ehemann, und Wladimir, dem Präsidenten. Denis arbeitet bei Transneft, einer Firma des Kremls, die das 50 000 Kilometer lange russische Pipeline-Netz kontrolliert. Er verdient gut, sie können sich einiges leisten, die Ferien in Tunis werden 2300 Franken kosten. Im Herbst beziehen sie und ihre 3-jährige Tochter Sonja eine Neubauwohnung näher bei Moskau. «Wenn die Kleine ein Bild des Präsidenten sieht, dann schreit sie: ‹Putin! Putin!›» Marina ist sichtlich zufrieden mit ihrer Tochter.

Seit der Ex-Geheimdienstler im Kreml sitzt, ist Russlands Ansehen im Westen dramatisch gesunken. Auf der Korruptionsliste von Transparency International steht das Land auf Platz 121 (von 163). Die amerikanische Heritage Foundation, die eine Weltrangliste der wirtschaftlichen Freiheiten führt, setzte Russland auf Platz 102 (von 130). In Sachen Pressefreiheit liegt das Land bei Reporter ohne Grenzen auf Rang 147 (von 168).

Doch aus der Optik der meisten Russen sieht die Sache völlig anders aus. Anfang Jahr hat die Wirtschaftskraft wieder das Niveau der Sowjetunion erreicht. In Moskau umfasst die Mittelschicht bereits über drei Millionen. Laut einer Umfrage des Instituts Lewada hat sich die Zahl der Moskauer, die mit ihrem Leben zufrieden sind, seit 1999 auf 48 Prozent vervierfacht. Unter Putin erholt sich auch die Geburtenrate. Die Russen machen wieder Kinder; ein untrügliches Zeichen, dass eine wachsende Zahl von Russinnen an eine glückliche und stabile Zukunft glaubt.

«Ordnung geschaffen»

Wadim, 43, handelt seit 15 Jahren mit Türen. Mittlerweile läuft sein Geschäft fast von allein, jedenfalls sitzt er am helllichten Tag in einem Moskauer Vergnügungszentrum und spielt mit Freunden Billard. «Russland ist auf dem richtigen Weg», sagt Wadim. An Putin schätzt er, dass der wieder Ordnung geschaffen hat – auch wenn er persönlich von Jelzins Chaoskapitalismus profitiert hat. «Aber damals musste ich um mein Leben fürchten, jetzt nicht mehr», sagt Wadim. Zusammen verdienen er und seine Frau, die für eine amerikanische Pharmafirma arbeitet, weit über 10 000 Franken im Monat. Genauer will er nicht werden. Jedenfalls können sie sich zwei Westautos und eine 110-Quadratmeter- Wohnung im schicken Wohnbezirk Sokol leisten, und ihre zwei Kinder besuchen gute Schulen. Die 7-jährige Tochter lernt Englisch, Deutsch und Französisch – und in zwei Jahren Chinesisch.

«Sicher gibt es noch Bürokraten und Korruption», lächelt Wadim. «Aber der Staat hat angefangen, dagegen zu kämpfen.» Hier flunkert er ein bisschen, tatsächlich hat sich die Beamtenschaft unter Putin glatt verdoppelt. Andere Kleinunternehmer schimpfen über deren Willkür, zum Beispiel Sergei, Klempner aus Jaroslawl an der Wolga. Aber auch er räumt ein, dass man sich stets arrangieren kann. «Ich verdiene im Schnitt pro Monat 35 000 Rubel, doch ich versteuere nur 4000.» Er bestätigt, was Wadim sagt: Nirgendwo im Westen könne man zurzeit so rasch so viel Geld verdienen wie in Russland. Oder wie es ein Moskauer Angestellter formuliert: «Natürlich ist unser Bürgermeister korrupt, aber er baut neue Strassen. Besser korrupt und reich, als ehrlich und arm.»

Die westlichen Korrespondenten, die immer wieder Russlands Rückmarsch in die Sowjetzeit beschwören, irren. Im Gegensatz zu den nach Klopapier Schlange stehenden Sowjetmenschen geniesst Iwan- Normalverbraucher heute dieselbe Konsumfreiheit wie die Bürger westlicher Staaten. Er sieht dieselben Filme, er kauft dieselben Handys, er träumt von denselben Sportwagen. Und längst hat die russische Urlauberschwemme die Mittelmeerküste erreicht. Allein in Ägypten erholten sich letztes Jahr fast eine Million russische Pauschaltouristen.

Ungehemmtes Schimpfen

Putin lässt die Massenmedien streng zensieren, aber privat herrscht Freiheit des Wortes. Wer sich wirklich informieren will, hat im Internet Zugang zu allen kritischen russischen und ausländischen Kommentaren. Während zu Breschnjews Zeiten ein am falschen Ort erzählter politischer Witz jede Karriere knicken konnte, schimpfen die Russen heute ungehemmt über die Obrigkeit. So amüsierte sich eine Architekturprofessorin über einen jungen Mann vom Inlandsgeheimdienst FSB, der unlängst an ihrer Fakultät auftauchte und eine Liste der Dozenten verlangte, die mit Ausländern zu tun haben. «Wir haben uns krankgelacht, heute verkehren doch alle von uns mit ausländischen Kollegen.» Das System wirkt viel öfter lächerlich als mörderisch.

Es ist ein völlig neues System, eine Konsumdiktatur, die ihren Untertanen privat alle Freiheiten lässt, aber jede aktive Opposition bekämpft. Überflüssigerweise, denn die meisten Russen interessieren sich sowieso nicht für Politik. Genauer, ihr Interesse erschöpft sich im Beifall für Putins eloquente Fernsehauftritte. «Putin kann sich klar und deutlich ausdrücken. Er hat die Wirtschaft flottgemacht, die machthungrigen Oligarchen zurechtgestutzt, den Krieg in Tschetschenien zu Ende gebracht. » Wir sitzen in einem Moskau er Café, Alexei, 32, trinkt zu seinen Sushi Wodka. «Putin ist ein Präsident mit glücklichem Händchen.» Alexei interessiert sich für Politik berufsmässig, er ist Journalist, Chefredaktor einer Agrarzeitung, herausgegeben vom Landwirtschaftsministerium. Aber er mochte Putin schon, als er noch Reporter beim Massenblatt «Moskowskij Komsomolez» war.

Alexei ist typisch für Moskaus neue Yuppies. «Wie viel ich verdiene?» Er freut sich. «Sagen wir, um einiges Mehr als der Durchschnittsfranzose.» Er fährt einen auf Kredit gekauften Toyota, seine Freundin studiert Jura und hat bis vor kurzem gemodelt. Alexei ist auch typisch für Russlands neue Intelligenzija. Patriotisch und dem Westen gegenüber skeptisch. «Bei euch sitzt ein Heer von Politologen und Journalisten, die ihr Geld damit verdienen, dass sie Russland anschwärzen.» Der Westen kritisiere Russland vor allem, weil er Angst vor Russlands neuer Wirtschaftsmacht habe.

Amerika überholen

Alexei lächelt, aber dahinter ist verletzter Nationalstolz zu spüren. Wie ihn schmerzt ganz Russland noch immer die Amputation der Sowjetunion, die Demütigungen der Jelzin-Ära, es schmerzen die neuen prowestlichen Frechheiten der Georgier oder der Esten. Putins markige Kritik an Nato und USA sind Balsam auf die Wunden der Russen. Und Alexeis Worte liegen Jurastudenten, Jungunternehmern und Journalisten in ganz Russland auf der Zunge. «Nationalidee? Unsere nationale Idee ist, dass Russland wieder Weltmacht wird. Eine Macht, vor der alle Respekt haben.» Er sei froh, dass er als Agrarjournalist das Seine dazu beitragen könne, um Russland vor billigen Lebensmittelimporten aus dem Westen zu schützen.

Spätnachts wird Alexei eine E-Mail nachschieben, damit ja kein Missverständnis aufkommt. «So, wie die Amerikaner mit den Schwarzen im eigenen Land umgesprungen sind», schreibt er, «sind sie die Letzten, die anderen Lektionen in Demokratie erteilen sollten.»

Der ewige Rivale ist nicht die «alte Tante Europa», wie Alexei spottet. Der Russe misst sich an Amerika. Erst wenn Amerika überholt ist, kann man zwischen Kaliningrad und Kamtschatka wieder ruhig schlafen. Und Putins bisherige Amtszeit liest sich aus Sicht der Durchschnittsrussen wie eine dramatische Aufholjagd. 81 Prozent der Russen befürworten seine Politik, 35 Prozent sähen ihn gern als Präsidenten auf Lebenszeit.

Derweil schreibt Marina, die zur Heimat bekehrte Emigrantin, ihr erstes Buch. «Französischer Traum» wird es heissen und den Lesern erklären, warum eine Russin wahres Glück und wahre Freiheit nur im politisch inkorrekten, aber menschlich wärmeren Russland finden kann. «Und danach mache ich noch zwei Kinder», sagt sie lächelnd. «Denn die Zukunft gehört Russland.»
 
oh man, was denken sich die leute dabei, sie leben sozusagen in einem goldenen Gäfig, aber was mit den armen und rentnern passiert, interesiert niemanden :rolleyes:
 
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