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Kosovo-Thailänder
Serbischer Montaigne
Zum Tod von Radomir Konstantinović
Bora Ćosić ⋅ Durch die Ungerechtigkeit der Geschichte ist der bedeutendste serbische Schriftsteller, Radomir Konstantinović, der am 27. Oktober in seinem 83. Lebensjahr in Belgrad gestorben ist, einem breiteren europäischen Publikum unbekannt geblieben. Selbst in seinem eigenen Umfeld wurde er trotz zahlreichen Werken totgeschwiegen, weil er ein moralisches und philosophisches Gegengewicht zu der bis vor kurzem herrschenden finsteren nationalistischen Diktatur darstellte.
Dieser Gründer der zu Beginn des vergangenen Krieges gebildeten Bewegung «Das andere Serbien» («Das ist das Serbien, das sich nicht mit dem Verbrechen abfindet») hatte bereits vor vier Jahrzehnten als eine Art Prophezeiung und Warnung den analytischen Essay «Philosophie des Krähwinkels» geschrieben und aufgezeigt, wohin die engherzige Verschlossenheit eines Milieus führt, das im Herzen Europas versucht, nach alter Stammesart zu leben und Hass gegenüber dem Unbekannten und gegenüber den Anderen zu entwickeln. Radomir Konstantinović war der Sohn eines Juristen, Professors und Ministers in der jugoslawischen Regierung vor dem Zweiten Weltkrieg, der auch in seiner eigenen Familie Disziplin und eine feste Ordnung einführte. Danach strebte eigentlich auch die dünne Schicht der serbischen Bürger, die gerade erst aus dem balkanischen Schlamm herausgekommen war.
Im Hause der Konstantinovićs wurde so ein kleines parlamentarisches Familienleben eingeführt, mit europäischer Etikette, bei Tisch und im gegenseitigen Umgang. Der junge Dichter erkannte schon in frühen Tagen voller Angst, dass etwas Unregelmässiges in seinem Gang und in seinem Körperbau war. Dass sein Strumpf oft heruntergerutscht und sein Jackett falsch zugeknöpft war.
Ich erinnere mich an seinen Vater, es stimmt, dass der Herr Professor auch in seinen alten Tagen, wenn er mit seinem Hund spazieren ging, gerade wie ein Pfeil und beweglich wie ein junger Mann durch die Strassen schritt. Nur dass er in den Augen einen Schatten von Bitterkeit hatte, weil es ihm nicht gelungen war, die Welt um sich herum auf seine Art zu ordnen. Und gerade der Sohn dieses Juristen und Staatsmannes erschütterte die Idee seines Vaters von einer allgemeinen Stabilität des Lebens, als er schon in seiner Jugend einige korrosive, avantgardistische, dem Surrealismus nahe Romane schrieb, die für die Belgrader Literatur nach 1950 einen Wendepunkt bedeuteten.
Alles in diesen umfangreichen Romanen war scheinbar normal, stellte sich aber dennoch als schräg und ziemlich verdreht heraus. So vollzog sich Konstantinovićs Wendung von der puren «Geradheit» des Vaters zur Unregelmässigkeit der Dichtung. Dies hatte fast zur gleichen Zeit der Verfasser von «Lolita», Sohn eines liberalen russischen Staatsmanns, getan. Es spielte sich auch in der Geschichte des Belgrader surrealistischen Dichters Marko Ristić ab, des Freundes von André Breton und Nachfahren von Premierministern und Botschaftern. De Sade war im Übrigen ein Marquis, und auch Lautréamont war irgendein Graf! Und wenn der Vater von Radomir Konstantinović die Rationalität Descartes' anstrebte, neigte der Sohn eher zur unbändigen Weisheit Montaignes.
Völlig neue Geisteswelt
Radomir Konstantinovićs Buch «Der Tod des Descartes» beschreibt nicht nur den Tod des Vaters, sondern auch den Niedergang dieser etwas starren Tendenz; mit Konstantinović und einigen seiner Zeitgenossen wurde in diesem kleinen Umfeld eine völlig neue Geisteswelt geboren. Dies sage ich mit Blick auf jene Bücher von ihm («Ahasver», «Pentagramm»), die in der serbischen Literatur vor dreissig bis vierzig Jahren eine philosophische Belletristik, ähnlich der Walter Benjamins, oder vielmehr der Montaignes, etablierten. Dann tauchte in seinem Leben Samuel Beckett auf, den Konstantinović herausgab und den seine Frau übersetzte. Ausser der frühen Belgrader Ausgabe «Molloy» (der ersten ausserhalb des französischen und englischen Sprachraums) ist ein wertvoller Briefwechsel über diese Freundschaft geblieben, die in dem Buch «Beckett, mein Freund» beschrieben ist.
Ein Teil dieser Briefe verschwand allerdings spurlos aus Konstantinovićs Haus in Istrien, das im letzten Krieg von kroatischen Nationalisten verwüstet wurde. Nun sind alle an dieser Freundschaft Beteiligten tot, wie auch so viele unbekannte Kostbarkeiten aus dem unglücklichen Land Serbien. Es ist viel mehr Interesse notwendig, um, wenn auch nachträglich, an sie zu gelangen, deren Reichtum mit einer kurzen Trauerrede auf dem Friedhof unmöglich zu umfassen ist.
Der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, Jahrgang 1932, lebt in Berlin und Rovinj. Diesen Herbst ist von ihm im Schöffling-Verlag der Erinnerungsband «Eine kurze Kindheit in Agram» erschienen. – Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Griesshaber.
Serbischer Montaigne (Kultur, Aktuell, NZZ Online)
gruß
Zum Tod von Radomir Konstantinović
Bora Ćosić ⋅ Durch die Ungerechtigkeit der Geschichte ist der bedeutendste serbische Schriftsteller, Radomir Konstantinović, der am 27. Oktober in seinem 83. Lebensjahr in Belgrad gestorben ist, einem breiteren europäischen Publikum unbekannt geblieben. Selbst in seinem eigenen Umfeld wurde er trotz zahlreichen Werken totgeschwiegen, weil er ein moralisches und philosophisches Gegengewicht zu der bis vor kurzem herrschenden finsteren nationalistischen Diktatur darstellte.
Dieser Gründer der zu Beginn des vergangenen Krieges gebildeten Bewegung «Das andere Serbien» («Das ist das Serbien, das sich nicht mit dem Verbrechen abfindet») hatte bereits vor vier Jahrzehnten als eine Art Prophezeiung und Warnung den analytischen Essay «Philosophie des Krähwinkels» geschrieben und aufgezeigt, wohin die engherzige Verschlossenheit eines Milieus führt, das im Herzen Europas versucht, nach alter Stammesart zu leben und Hass gegenüber dem Unbekannten und gegenüber den Anderen zu entwickeln. Radomir Konstantinović war der Sohn eines Juristen, Professors und Ministers in der jugoslawischen Regierung vor dem Zweiten Weltkrieg, der auch in seiner eigenen Familie Disziplin und eine feste Ordnung einführte. Danach strebte eigentlich auch die dünne Schicht der serbischen Bürger, die gerade erst aus dem balkanischen Schlamm herausgekommen war.
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Der Weg zur Unregelmässigkeit
Im Hause der Konstantinovićs wurde so ein kleines parlamentarisches Familienleben eingeführt, mit europäischer Etikette, bei Tisch und im gegenseitigen Umgang. Der junge Dichter erkannte schon in frühen Tagen voller Angst, dass etwas Unregelmässiges in seinem Gang und in seinem Körperbau war. Dass sein Strumpf oft heruntergerutscht und sein Jackett falsch zugeknöpft war.
Ich erinnere mich an seinen Vater, es stimmt, dass der Herr Professor auch in seinen alten Tagen, wenn er mit seinem Hund spazieren ging, gerade wie ein Pfeil und beweglich wie ein junger Mann durch die Strassen schritt. Nur dass er in den Augen einen Schatten von Bitterkeit hatte, weil es ihm nicht gelungen war, die Welt um sich herum auf seine Art zu ordnen. Und gerade der Sohn dieses Juristen und Staatsmannes erschütterte die Idee seines Vaters von einer allgemeinen Stabilität des Lebens, als er schon in seiner Jugend einige korrosive, avantgardistische, dem Surrealismus nahe Romane schrieb, die für die Belgrader Literatur nach 1950 einen Wendepunkt bedeuteten.
Alles in diesen umfangreichen Romanen war scheinbar normal, stellte sich aber dennoch als schräg und ziemlich verdreht heraus. So vollzog sich Konstantinovićs Wendung von der puren «Geradheit» des Vaters zur Unregelmässigkeit der Dichtung. Dies hatte fast zur gleichen Zeit der Verfasser von «Lolita», Sohn eines liberalen russischen Staatsmanns, getan. Es spielte sich auch in der Geschichte des Belgrader surrealistischen Dichters Marko Ristić ab, des Freundes von André Breton und Nachfahren von Premierministern und Botschaftern. De Sade war im Übrigen ein Marquis, und auch Lautréamont war irgendein Graf! Und wenn der Vater von Radomir Konstantinović die Rationalität Descartes' anstrebte, neigte der Sohn eher zur unbändigen Weisheit Montaignes.
Völlig neue Geisteswelt
Radomir Konstantinovićs Buch «Der Tod des Descartes» beschreibt nicht nur den Tod des Vaters, sondern auch den Niedergang dieser etwas starren Tendenz; mit Konstantinović und einigen seiner Zeitgenossen wurde in diesem kleinen Umfeld eine völlig neue Geisteswelt geboren. Dies sage ich mit Blick auf jene Bücher von ihm («Ahasver», «Pentagramm»), die in der serbischen Literatur vor dreissig bis vierzig Jahren eine philosophische Belletristik, ähnlich der Walter Benjamins, oder vielmehr der Montaignes, etablierten. Dann tauchte in seinem Leben Samuel Beckett auf, den Konstantinović herausgab und den seine Frau übersetzte. Ausser der frühen Belgrader Ausgabe «Molloy» (der ersten ausserhalb des französischen und englischen Sprachraums) ist ein wertvoller Briefwechsel über diese Freundschaft geblieben, die in dem Buch «Beckett, mein Freund» beschrieben ist.
Ein Teil dieser Briefe verschwand allerdings spurlos aus Konstantinovićs Haus in Istrien, das im letzten Krieg von kroatischen Nationalisten verwüstet wurde. Nun sind alle an dieser Freundschaft Beteiligten tot, wie auch so viele unbekannte Kostbarkeiten aus dem unglücklichen Land Serbien. Es ist viel mehr Interesse notwendig, um, wenn auch nachträglich, an sie zu gelangen, deren Reichtum mit einer kurzen Trauerrede auf dem Friedhof unmöglich zu umfassen ist.
Der serbische Schriftsteller Bora Ćosić, Jahrgang 1932, lebt in Berlin und Rovinj. Diesen Herbst ist von ihm im Schöffling-Verlag der Erinnerungsband «Eine kurze Kindheit in Agram» erschienen. – Aus dem Serbischen von Katharina Wolf-Griesshaber.
Serbischer Montaigne (Kultur, Aktuell, NZZ Online)
gruß