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So tickt die brutale Bruderschaft der Russenmafia

Barut

Ultra-Poster
Gegründet in Stalins Lager, gehören die "Diebe im Gesetz" zu den größten kriminellen Clans der Welt. Allein in Deutschland gibt es eine "fünfstellige Zahl" an Mitgliedern. Ihre Hochburg: Berlin.


Ziegenhain ist ein fast 500 Jahre altes hessisches Garnisonsstädtchen, und es gleicht einem Postkartenidyll. Ein Wallgraben umschließt die frühere Wasserfestung. Der Paradeplatz, Fachwerkhäuser und Residenzbauten zieren den Ort. Was stört, sind Nato-Stacheldraht, Betontürme, Videokameras – große Teile Ziegenhains dienen als Hochsicherheitsgefängnis für bis zu 300 Schwerverbrecher.

Einer von ihnen ist Ivan Markow, wegen eines Raubmordes zu lebenslänglicher Haft verurteilt. 70 Jahre alt ist der Russe nun, und es mag mit seinem Alter zusammenhängen – er will reden. Er will von der ebenso seltsam wie grausam anmutenden Gemeinschaft erzählen, der er sich als Schüler anschloss und der er sein Leben lang die Treue hielt. Bis heute.
Es ist Samstag, Besuchstag. Markow sitzt am Resopaltisch in einem grell erleuchteten Raum. Als die Gäste aus Berlin eintreffen, erhebt er sich vom Stuhl. Ein Mann, kaum größer als 1,65 Meter, in bordeauxroter Jacke mit schwarzem Kragen – die Anstaltskleidung. Kräftiger Händedruck, markante Gesichtszüge. Normalerweise sprechen Leute wie er nicht mit Journalisten. Doch einer, dem er vertraut, hat den Kontakt hergestellt. Während der nächsten Stunde wird der Häftling, der nie einen bürgerlichen Beruf ausübte, die Regeln eines Syndikats erläutern, das sich so stolz wie rätselhaft "Diebe im Gesetz" nennt.
Markow wird von der schwer kriminellen Bruderschaft erzählen, deren Mitglieder sich harten Regeln unterwerfen und der er sein Leben geweiht hat. Es ist eine Welt mächtiger Clans, geleitet von einem brutalen Ehrenkodex, geführt von Bossen, die Alexander Bor heißen oder Sachar Kalaschow oder die unter Brüdern als "Opa Hassan" bekannt sind.
[h=2]Die "Diebe im Gesetz"[/h]Die "Diebe" sind ein einzigartiger Verbund krimineller Banden, entstanden und gestählt in Stalins Straf- und Arbeitslagern, wo sich die Elite der sowjetischen Unterwelt zur "roten Mafia" zusammenschloss, die bald auch außerhalb der Lager ein Machtfaktor war. Überleben konnte die kriminelle Gegenmacht im Kommunismus dank einer Gegenideologie samt Wertekodex, dem "Diebesgesetz". Dessen eiserne Regeln wurden von Generation zu Generation weitergegeben und an die Erfordernisse der Zeit angepasst. Sie stiften bis heute einen starken Zusammenhalt.

Foto: picture-alliance/ dpa
Der Wachturm der Justizvollzugsanstalt in Schwalmstadt-Ziegenhain: Hier sitzt Ivan Markow ein

Alle sind verpflichtet, in eine Solidarversicherung einzuzahlen, die "Diebeskasse". So werden Angehörige von Verurteilten unterstützt, Anwälte engagiert oder Beamte bestochen. Auf der Führungsebene – das sind die "gekrönten Diebe" – geht es fast basisdemokratisch zu: Wichtige Beschlüsse werden auf einer "Diebesversammlung" beraten: der "S'chodka". Das Gremium verkündet Schiedssprüche und verhängt Strafen. Wer dagegen verstößt, ist des Todes.
Kriminalisten sprechen von einer der geheimnisvollsten, gefährlichsten und grausamsten Gruppierungen der organisierten Kriminalität überhaupt. Obwohl die Bürger mit dem Begriff "Diebe im Gesetz" kaum etwas anfangen können, werden immer mehr von ihnen Opfer ihrer Taten. Mit massenhaft verübten Wohnungseinbrüchen und Ladendiebstählen, mit Schutzgelderpressung, Prostitution, Geldwäsche oder Warenbetrug erzielt die Vereinigung allein in Deutschland pro Jahr Gewinne in dreistelliger Millionenhöhe. Das Geld füllt die Kasse der "Diebe", die bis zu zehn Milliarden Dollar schwer sein soll.
[h=2]Der Wohlstand Deutschlands zieht die "Diebe" an[/h]Sagenhaft klingt das, so als kämen die "Diebe" aus einer fernen, fremden Zeit. Doch das täuscht. Der Verbrecherorden ist nicht weit weg, sondern mitten unter uns. Mit seinen perfiden Methoden und Netzwerken und seinem unbändigen Machtstreben bedroht er die Gesellschaft. Aktuell leidet weltweit kaum ein anderes Land so stark unter den Machenschaften dieser Organisation wie Deutschland, dessen Wohlstand die "Diebe" magnetisch anzieht.
Geld ist Macht, und das bedeutet hier: kriminelle Macht. Eine Macht, international verzweigt, die sich jeder Kontrolle entzieht und darum so unheimlich wirkt. Eine Macht, die sich fortwährend erneuert, weil ständig Nachwuchs geworben wird. Und diese Macht muss stets verteidigt werden, worunter die "Diebe" verstehen, Kopfgelder auf lästige Staatsanwälte auszusetzen, unliebsame Konkurrenten zu eliminieren und vermeintliche Verräter hinrichten zu lassen. Manchmal entgleitet die Macht allerdings auch und entlädt sich in langen Bruderkriegen.
"Die russisch-eurasische organisierte Kriminalität erleben wir als sehr dynamisch. Sie expandiert gerade in den Westen hinein", sagt Holger Münch, der Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), der "Welt". Deutschland ist für die "Diebe" ein ideales Operationsgebiet, nicht nur wegen des Wohlstands. Deutschlands russischsprachige Community umfasst 4,5 Millionen Menschen: neben Russen auch Abchasier, Georgier, Kaukasier oder Turkmenen. Sie bildet den Vielvölkerstaat Sowjetunion hierzulande ab, in dessen finsterem Schoß die Organisation geboren wurde.
Mit ihr brachte das BKA früher 20.000 bis 40.000 Personen in Verbindung. Aktuell spricht die Behörde von einer mindestens "fünfstelligen Zahl". Wegen des großen Dunkelfeldes seien nur Hochrechnungen möglich. Allein 5000 russischsprachige oder russischstämmige Häftlinge säßen derzeit in deutschen Gefängnissen. "Besonders in den Haftanstalten existiert ein soziales Netz, das sehr gut funktioniert", sagt ein Fahnder.
[h=2]Die Globalisierung des Geschäftsmodells[/h]Ohnehin gelte bei dieser Klientel ein Knastaufenthalt nicht als Makel, sondern werde als "Teil der Karriereplanung" verstanden. Die Gruppierung sei straff hierarchisch aufgebaut. Unter ihren "gekrönten Häuptern" gebe es "Autoritäten", also Manager, gefolgt von "Brigadieren", vulgo Bandenführern. Die Straftaten führten die "Soldaten" (Arbeiter) aus, unter denen zuletzt die "Ferkel" (rechtlose Diener) stehen.

Foto: Privatarchiv
Ein scheinbar normales Familienleben: Ivan Markov vor seiner Verurteilung wegen Raubmordes

Die "Diebe" haben eine abgeschottete Parallelgesellschaft gebildet, die außerhalb wie innerhalb der Haftanstalten existiert. Dafür steht Ivan Markow. Der Gefangene von Ziegenhain hat schon in seiner Heimat reichlich Hafterfahrungen gesammelt. Er kam im März 1992 nach Deutschland, wo ihm bald zahlreiche Straftaten zur Last gelegt wurden. Andere "Diebe" hatten sich noch früher auf den Weg gen Westen gemacht.
Das goldene Zeitalter der "Diebe" brach an, als der Eiserne Vorhang fiel. Nun konnte die in Stalins Lagern gegründete Organisation nachholen, was ehrenwerte süditalienische Gesellschaften wie Cosa Nostra, 'Ndrangheta oder Camorra längst erreicht hatten: die Globalisierung ihres Geschäftsmodells. Die Mafia aus dem Osten schuf Filialen in Nordamerika, im arabischen Raum, in Asien und Westeuropa. Es war die Zeit des großen Aufbruchs, und die meisten Akteure, die die globale Expansion betrieben, waren jung, ehrgeizig und äußerst zielstrebig.
[h=2]Der Anfang der "Diebe" in Deutschland[/h]Wenige Wochen nach Öffnung der Mauer kam ein Mann nach Deutschland, der ein filmreifes Leben als Gangster führte und das Treiben der "Diebe" hierzulande erst bekannt machte: Alexander Bor, Jahrgang 1954. Der Weißrusse, der vor seiner Heirat den Geburtsnamen Timoschenko trug, ließ sich in München nieder, wo er rasch die Ermittlungsbehörden beschäftigte.
Im Stadtteil Schwabing lockte Bor im September 1991 mit zwei Gehilfen einen russischen Unterweltkönig in einen Hinterhalt. Der Rivale, den man auf der Motorhaube seines roten BMW fand, wurde auf bestialische Art getötet: mit 28 Messerstichen in Herz, Lunge, Leber und rechte Niere. Das Opfer verblutete. Am Ort des Gemetzels verlor Bor ein Haar, das sich noch als wichtige Spur erweisen sollte.
Nach dem Mord versteckte sich Bor in einer russischen Kaserne bei Leipzig. Dann zog er nach Berlin, wo er im Januar 1992 eine polnische Putzfrau in einem Wald stundenlang misshandelte. Er warf ihr vor, ihn bestohlen zu haben, dafür solle sie ihn entschädigen – mit 55.700 D-Mark. Bor drohte, ihre Kinder zu entführen und zu ermorden. Er schlug auf die Frau ein und würgte sie mehrfach mit einer übergestülpten Plastiktüte bis zur Bewusstlosigkeit. Dann sperrte Bor sein Opfer in eine im zweiten Stock gelegene Wohnung im Berliner Stadtteil Schöneberg ein. Die Gepeinigte konnte sich mit einem Sprung in neun Meter Tiefe retten. Dabei brach sie sich einen Lendenwirbel, beide Schienbeine und etliche Fußknochen. Nun gab es eine Augenzeugin. Bor setzte sich in die USA ab.
In New York stieg er sogleich ins Geldwäschegeschäft ein und knüpfte Kontakte zu Mafiabossen. Wegen seiner Verdienste wurde er in die "Diebesversammlung" aufgenommen. Bald darauf geriet er ins Visier des FBI. Der US-Bundespolizei gelang es, einen Informanten mit verstecktem Mikrofon in Bors Umfeld einzuschleusen. Der wurde jedoch kurz vor seiner geplanten Festnahme gewarnt und kehrte nach Europa zurück. Bei einem Zwischenstopp auf dem Münchner Flughafen wurde er im September 1999 verhaftet. Aus dem Verkehr gezogen war Bor damit längst nicht.
[h=2]Morddrohungen im Prozess[/h]"Erst durch die Person von Alexander Bor haben wir richtig verstanden, was hinter dem Phänomen der ,Diebe im Gesetz' steckt", erinnert sich Uli Umlauf, der im bayerischen Landeskriminalamt das Sachgebiet Organisierte Kriminalität (OK) leitet. Er erzählt, Bor habe in mehreren Haftanstalten russischsprachige Gefangene, unabhängig von deren Nationalität, rekrutiert und für seine Zwecke eingespannt. Diese hätten gegenüber Bor eine Unterwürfigkeit an den Tag gelegt, "die bis dato hier bei uns im Freistaat nicht bekannt war".
Die nächste Überraschung erlebten die Behörden, als Bor im Herbst 2001 vor Gericht gestellt wurde. Seine Helfer setzten auf den Kriminalbeamten, der die Ermittlungen geleitet hatte, und auf den anklagenden Staatsanwalt ein Kopfgeld von je 100.000 Euro aus. Um die beiden mussten sich jahrelang Personenschützer kümmern. Doch die Morddrohungen liefen ins Leere, Bor erhielt lebenslänglich.
Da der Bundesgerichtshof das Urteil aufhob, wurde ein neues Verfahren angesetzt. Das wiederum platzte, weil der Vorsitzende Richter erkrankte. Im dritten Prozess kam Bor im Juli 2004 mit 13 Jahren davon – wurde aber nicht mal zwei Jahre später mit der Auflage, nie wieder deutschen Boden zu betreten, nach Moskau abgeschoben.
[h=2]"Er war ein wunderbarer Mensch"[/h]Bor blieb in Russland, wo er laut bayerischen Verfassungsschützern endgültig zu einem der Anführer der "Diebe" aufstieg. Aber auch in Deutschland zog er weiter Fäden. Einer seiner Statthalter, der Armenier Tigran K., wurde im Mai 2009 wegen Erpressung, Drogenhandel und Bildung einer kriminellen Vereinigung zu elf Jahren Gefängnis verurteilt. Mehrere Mitglieder der Bande von K., der monatlich bis zu 40.000 Euro an Bor abgeführt hatte, kassierten ebenfalls hohe Freiheitsstrafen.
Eine Marionette von Bor war auch Konstantin F., der in der Justizvollzugsanstalt Straubing die lokale "Diebeskasse" verwaltete. Gefüllt wurde sie von russischsprachigen Mitinsassen, die im Gefängnis fleißig krumme Geschäfte einfädelten. F. jedoch nahm es mit seinen Pflichten als Kassenwart nicht so genau. Er zweigte Geld ab, um seiner Frau eine Goldkette zu kaufen. Als das herauskam, erhängte sich der Bor-Vertraute im März 2012 in der Zelle. Er hatte gegen einen eisernen Grundsatz des Ehrenkodexes verstoßen, was ihm wohl nie verziehen worden wäre.
Alexander Bor soll 30 Banden geführt haben: in Deutschland, den USA und Weißrussland. Er lebte in einer Villenkolonie bei Moskau und führte ein scheinbar gottesfürchtiges Leben, das jedoch jäh und spektakulär endete. An einem Samstagmorgen wollte der Pate wie sonst den Gottesdienst in Snamenskoje besuchen, 45 Minuten mit dem Auto von Moskau entfernt. Er ließ sich vom Chauffeur im 500er Mercedes zur orthodoxen Kirche fahren. Davor wartete sein Mörder. Er streckte Bor mit mehreren Schüssen nieder und flüchtete auf einem Motorroller. Bors Beichtvater Michail, einer der Priester der Kirche, sagte: "Er war ein wunderbarer Mensch."
[h=2]Streit über den Umgang mit der "Diebeskasse"[/h]Das Attentat vom 30. Mai 2014 elektrisierte die Ermittler in Bayern. Uli Umlauf vom LKA sagt der "Welt", der Mord an Bor sei der vorläufige Endpunkt eines Bruderkrieges, der gut sechs Jahre lang getobt habe. Umlauf zeigt eine Grafik mit Bildern von fünf ranghohen "Dieben", die alle in Moskau massakriert wurden. Auch in Belgien, Griechenland, Italien und Spanien habe es Morde gegeben. Umlauf ist überzeugt, dass die Ursache für das Blutbad ein heftiger Streit über den Umgang mit der "Diebeskasse" war.
Sie wurde von Sachar Kalaschow, einem der einflussreichsten Bosse, verwaltet. Der Kurde georgischer Herkunft lebte im spanischen Alicante. Als die Behörden dort im Rahmen der "Operation Wespe" rund 800 Bankkonten, Luxusvillen und Nobelkarossen der "Diebe" beschlagnahmten, wich er nach Dubai aus. In der Stadt am Persischen Golf wurde er schließlich aufgrund eines internationalen Haftbefehls festgenommen und nach Spanien abgeschoben. Ein Gericht dort verhängte gegen ihn eine langjährige Haftstrafe. Kalaschow wurde eingesperrt und isoliert. Seine Organisation konnte nicht mehr mit ihm kommunizieren.
Dass der oberste Kassenwart nicht mehr erreichbar war, sorgte für Panik. Zwischen den beiden wichtigsten Untergruppierungen der "Diebe", dem Tiflis-Clan und dem Kutaisi-Clan, brach ein regelrechter Krieg aus. Der Kutaisi-Clan fürchtete, betrogen zu werden und ließ prominente Leute des Tiflis-Clans ermorden, so den 75-jährigen Aslan Ussojan alias "Opa Hassan".

Foto: picture alliance / AP Photo
Der König der "Diebe im Gesetz": Aslan Usoyan (links) wurde im Januar 2013 ermordet

Der in Moskau lebende Georgier war so etwas wie der König der "Diebe im Gesetz". Er hatte 20 Leibwächter und stand dem "Moskau Center" vor, der wohl wichtigsten Machtzentrale. "Opa Hassan" wollte gerade das Restaurant "Alter Phaeton" betreten, als ihn ein Scharfschütze mit Panzerpatronen erschoss – eine Hinrichtung am helllichten Tag und eine Schmach für den Tiflis-Clan. Der heuerte aus Rache ebenfalls Auftragskiller an. Darunter offenbar jenen Mörder, der Alexander Bor aufgelauert hatte. Denn Bor gehörte zum Kutaisi-Clan.
Ein halbes Jahr nach Bors Tod entließen die Spanier den Finanzchef Sachar Kalaschow aus der Haft, schoben ihn nach Russland ab. Ihm soll es gelungen sein, den Bruderkrieg zu beenden. Die Ermittler in München sind unsicher, ob Kalaschow jetzt die Position von "Opa Hassan" als "oberster Dieb aller Diebe" eingenommen hat. Uli Umlauf: "Wir wissen auch nicht, ob der Frieden zwischen den beiden Clans ewig hält."
[h=2]Bildung einer kriminellen Vereinigung?[/h]Ein grauhaariger Jurist plagt sich seit 16 Monaten mit einem Verfahren, das aktuell das größte seiner Art in Deutschland ist. Axel Knaack ist Vorsitzender Richter der Ersten Großen Strafkammer des Landgerichts in Lüneburg. Im Saal 21, in dem die Zuschauer hinter einer eigens eingebauten Panzerscheibe Platz nehmen müssen, sitzen sechs Männer an zwei quer aufgestellten Anklagebänken. Sie sind 34 bis 61 Jahre alt und deutsche, russische, kasachische, armenische, tschechische sowie türkische Staatsangehörige.
Richter Knaack tut sich schwer mit dem wichtigsten Vorwurf der Anklageschrift: Haben die Männer eine kriminelle Vereinigung gebildet? Falls ja, könnten die Angeklagten auch ohne Nachweis konkreter Verbrechen mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden. Doch der Bundesgerichtshof hat hohe Hürden aufgestellt, um den entsprechenden Paragrafen 129 im Strafgesetzbuch auf die "Diebe" anzuwenden. Die Folge: Die Täter können oft nur wegen einzelner Delikte belangt werden.
Die Angeklagten in Lüneburg sollen 15 Straftaten zwischen 2009 und 2014 begangen haben. Laut Staatsanwaltschaft nutzten sie Briefkastenfirmen, um Gabelstapler, Handys, Computer oder Kopiergeräte zu ordern. Fällige Ratenzahlungen seien nicht beglichen, die Waren aber sofort gewinnbringend weiterverkauft worden. Der nachweisbare Schaden: rund 450.000 Euro.
[h=2]Das Problem mit der Geheimsprache "Fenja"[/h]Dem Gericht liegt eine unglaubliche Menge von Audiodateien vor, auf denen Gespräche der Beschuldigten zu hören sind. 600.000 solcher Mitschnitte hat die Polizei bei einer jahrelangen Telefonüberwachung gesammelt. Doch davon sind für den Prozess nur ein paar Tausend relevant. Oft ist die Sprachqualität miserabel, was die Aussagekraft des Beweismittels mindert.
Und versteht man Passagen, hört man Kauderwelsch. Denn die "Diebe" verständigen sich untereinander in einer Geheimsprache, der "Fenja". Sie wurde schon zu Sowjetzeiten verwendet und ist durchsetzt von russischen Begriffen, die aber etwas völlig anderes bedeuten als gemeinhin üblich.

Foto: picture alliance / dpa
Februar 2015: Insgesamt sechs Angeklagte stehen mit ihren Verteidigern in Lüneburg in einem Saal des Landesgerichtes

Damit sich Richter und Schöffen ein Bild machen können, bewertet eine Sachverständige jedes einzelne Wort, das mehrdeutig sein könnte. Ihren Vortrag wiederum übersetzen Dolmetscher simultan für alle sechs Angeklagten, weil deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Der Sound im Verhandlungssaal erinnert an die babylonische Sprachverwirrung. Auch die Kosten für Dolmetscher und Übersetzer sind babylonisch: bis Ende Mai 840.792 Euro. Für Pflichtverteidiger mussten weitere 856.115 Euro aufgebracht werden, hinzu kommen 128.397 Euro für Sachverständige. Deutsche Steuerzahler kommen Prozesse gegen "Diebe" teuer zu stehen.
[h=2]Im Dezember könnte ein Urteil verkündet werden[/h]Schon über 100 Zeugen sind gehört worden. Nun ist ein inzwischen pensionierter Polizist an der Reihe, der für die Telefonüberwachung zuständig war. "Wir haben uns auf das Handy von Z. aufgeschaltet", berichtet er. Gemeint ist der Hauptangeklagte Schedeli Iljitsch Z. Der 58-jährige Georgier soll Statthalter der Organisation in Hannover gewesen sein und dort einen "gekrönten Dieb" aus Moskau empfangen haben: Tamas Pipia. Der mittlerweile verstorbene Gangster, der im Rollstuhl saß, übermittelte dabei möglicherweise Instruktionen. Das unterstellt zumindest der Zeuge: "Z. hatte die Verpflichtung, dem ,Dieb' Pipia zu gehorchen."
Lässt sich das gerichtsfest beweisen? Im Verhandlungssaal steigt das Thermometer auf über 25 Grad. Richter Knaack erlaubt seinen Kollegen und den Anwälten, ihre Roben abzulegen. Durch die lange Prozessdauer ist das Klima im Saal schon fast familiär. Geht alles gut, könnte Ende Dezember ein Urteil verkündet werden.
[h=2]Verbrechen als gute Taten[/h]Ein anderer Ort, ein anderer Tag. Im Besucherraum in Ziegenhain schildert Ivan Markow seine kriminelle Karriere. Der Russe spricht leise und bedächtig. An keiner Stelle lässt er so etwas wie Reue oder Mitgefühl für seine Opfer erkennen. Und dass er fast sein halbes Leben lang inhaftiert war, erst 15 Jahre in der UdSSR und Russland, dann noch einmal so lange in Deutschland – das empfindet er als Ehre.
Der Habitus von Markow ist bezeichnend für "Diebe im Gesetz". Sie verstehen ihre Verbrechen als gute Taten, fühlen sich Normalbürgern moralisch überlegen und halten ihre Bruderschaft für den wertvollsten Teil der Gesellschaft. Es ist eine Welt, in der alle gängigen Werte kopfstehen. Wer das begreifen will, muss tief in die Geschichte der Sowjetunion eintauchen.
Dort empfanden sich nicht wenige "Diebe" als Gegner des Systems. Sie verklärten das Abgleiten in die Unterwelt zum antikommunistischen Widerstand. Was Markow erzählt, passt dazu. Als Sohn eines hohen Moskauer KPdSU-Genossen hätten ihm viele Türen offen gestanden: "Ich lebte gottlob in einer für sowjetische Begriffe sehr wohlhabenden Familie." Der Studienplatz an einer Eliteuniversität sei quasi schon im Kindesalter reserviert gewesen, dazu die Aussicht auf "eine Wohnung, ein Auto, Klamotten aus dem Ausland". Aber Markow wollte nicht wie sein Vater werden. Doppelmoral sei "das Hauptprinzip des Lebenswandels der hochrangigen Funktionäre" gewesen.
Er habe zeitweise bei seiner Großmutter außerhalb Moskaus gelebt, erzählt Markow, und dort Menschen getroffen, die ihn in ihren Bann gezogen hätten. Einfache und unangepasste Burschen, die sich frei fühlten und niemandem untertan. "Aus unklaren Gründen wurden sie Knastis und Kriminelle genannt. Sie meinten, was sie sagten", erklärt Markow. Er selbst sei mit zwölf Jahren den "Dieben" beigetreten.
[h=2]Der Mythos vom ehrenwerten Ganoven[/h]Solche Erweckungserzählungen sind typisch für die Bruderschaft, die einst sogar religiöse Legenden verbreitete, um ihr Berufsverbrechertum zu legitimieren. Eine geht so: Bei der Kreuzigung Jesu Christi fiel ein Nagel zu Boden, den ein Dieb listig entwendete. Angeblich segnete Jesus diesen Mann – ein Bild, tief eingegraben in die russische Seele. Den Mythos vom ehrenwerten Ganoven popularisierten Autoren wie Dostojewski, Tschechow oder Solschenizyn. In dieser Tradition sieht sich auch Markow.
Allerdings findet sich in den Akten deutscher Gerichte und Staatsanwaltschaften wenig Christliches über ihn. Da heißt es, er habe seine Opfer "mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel" dazu genötigt, ihm Vermögen zu überlassen. Beschrieben wird, wie er mit einem Kabelstrang ins Gesicht eines Mannes schlug, um dessen Willen zu brechen. Im Dezember 1999 stiftete Markow zwei junge Männer an, ein Schmuckgeschäft in Kassel auszurauben. Sie erdrosselten beide Angestellte mit einer Drahtschlinge und schnitten ihnen die Kehlen durch. Markow sieht keinen Grund, sich dafür zu entschuldigen oder es gar zu bereuen.
Stolz erzählt er von seiner Flucht 1992 aus Russland. Freunde hätten eine Hochzeitsgesellschaft in der Eisenbahn inszeniert, die ihn in ein anderes Gefängnis bringen sollte. "Bräutigam und Braut, die eingeweiht waren, luden meine Bewacher zum Feiern, Musizieren, Wodkatrinken ein. Die Party endete wie erhofft. Durch das Betäubungsmittel im Schnaps schlief das Wachpersonal ein", erzählt Markow, der nach diesem Coup in Deutschland Asyl beantragte und erhielt.
[h=2]"Achtbare Menschen"[/h]Sein Leben hat Markow dem aus Leningrad stammenden und heute in Berlin lebenden Historiker Dmitrij Chmelnizki geschildert. Beide wollen ein Buch veröffentlichen, das tiefe Einblicke in die Innenwelt der "Diebesorganisation" gewähren soll. Den Titel hat Markow selbst gewählt: "Achtbare Menschen".
Rund 600 solcher achtbaren Menschen erfassen die Computer von Interpol, alles hochrangige Mitglieder. In keiner anderen Metropole residieren so viele wie in Moskau, der "Welthauptstadt der ,Diebe'", wie es ein deutscher Fahnder nennt. Sie pflegen Kontakte zu Musikern, Schriftstellern, Politikern, um ihr kriminelles Tun zu tarnen. Sie führen ein weithin unbehelligtes Leben mit luxuriösen Anwesen und Autos. Aus Moskau werden Verbrecherbanden in ganz Europa gesteuert. Das erschwert die Arbeit deutscher Behörden – in Russland haben sie keine Ermittlungsbefugnisse.
[h=2]Gefängnis in Georgien, Kultstatus in Russland[/h]Für die Bundesregierungist das heikel. Würde der für Verbrechensbekämpfung zuständige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) den Laissez-faire-Stil der Russen im Umgang mit den "Dieben" offen kritisieren, könnte dies das heikle Verhältnis zum Kreml weiter belasten. Vielleicht will darum keiner aus seinem Haus mit der "Welt" über organisierte Kriminalität im Reich Wladimir Putins sprechen.
Geht es um Straftäter aus Russlands Nachbarstaaten, tritt de Maizière weniger zurückhaltend auf. Anfang April dieses Jahres traf er in Berlin seinen georgischen Amtskollegen, um über Strategien bei der Kriminalitätsbekämpfung zu beraten. In Anwesenheit seines Gastes wurde de Maizière deutlich: "Es ist nicht hinzunehmen, dass reisende Banden in Deutschland auf Beutetour gehen."

Foto: Getty Images
Mit Panzerpatronen hingerichtet: Das Grab von "Opa Hassan" alias Aslan Ussojan

Laut einem vertraulichen BKA-Papier ist mehr als jeder zweite von 6328 Georgiern, die 2015 und im ersten Quartal 2016 nach Deutschland kamen, einer Straftat verdächtig. Nicht wenige sind vermutlich im Auftrag der "Diebe" auf die Reise geschickt worden. Doch die Drahtzieher des kriminellen Tourismus dürften meist nicht in Georgien anzutreffen sein. Denn die Regierung in Tiflis verfolgt sie schon seit einigen Jahren mit äußerster Härte. Vermögen wird rigoros konfisziert, "gekrönte Häupter" landen allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Organisation bis zu zehn Jahre lang im Gefängnis. "Alle ,Diebe im Gesetz' verbüßen entweder ihre Strafe in Georgien oder sind aus dem Land geflohen", erklären georgische Behörden.
Ganz anders als in Russland, wo sie ungestört ihren Geschäften nachgehen können und teilweise Kultstatus genießen. In den Untergrund verbannt sind sie längst nicht mehr. Mit dem Internetportal "primecrime.ru" verfügen sie sogar über eine Art "Bunte", eine elektronische Hauszeitung. Dort kann man lesen, an welchen Orten sich "Diebe" aufhalten und wer in der Hierarchie auf- oder absteigt. Garniert ist das alles mit Klatsch und Tratsch. Der Einfluss der kriminellen Krake reicht bis in staatliche Strukturen hinein. Aber auch mit der russischen Wirtschaft, beispielsweise mit Energiekonzernen, soll die Bruderschaft bestens vernetzt sein, weshalb von einer politisch geduldeten "Kreml-Mafia" gesprochen wird.
[h=2]Berlin ist der Hotspot der "Diebe"[/h]Aus solchen Verhältnissen haben die deutschen Sicherheitsbehörden ihre Schlüsse gezogen. "Heiße Informationen tauschen wir nicht mehr aus", sagt ein Ermittler. Die Polizei habe bei Telefonüberwachungen die Erfahrung gemacht, dass eine Anfrage an russische Dienststellen über einen "Dieb" binnen zwei Stunden bei eben diesem gelandet sei.
Hochburgen der "Diebe" in Deutschland sind Städte wie Baden-Baden, Göttingen, Hannover und einige Gemeinden im Hunsrück, in denen viele russischsprachige Mitbürger leben. Doch Hotspot der Organisation der "Diebe" ist die Hauptstadt. Berlins oberster Kämpfer gegen die organisierte Kriminalität, Dirk Jacob, sitzt in seinem Büro im Gebäude des Landeskriminalamtes (LKA) gegenüber dem stillgelegten Tempelhofer Flughafen. Der 50-Jährige erläutert, welch überragende Rolle die regionalen Statthalter bei den "Dieben" spielen: "Jeder entscheidet in seiner Stadt, womit Geld gemacht wird. Hauptsache, es wird Geld gemacht." Den Residenten werde von Russland aus nicht hineingeredet, sagt der Kriminaldirektor.
Jacob erinnert sich, dass die "Diebe" zunächst versucht hätten, im Straßenhandel mit Drogen Fuß zu fassen. Sie seien aber an der Übermacht arabischer und türkischer Banden gescheitert. Daraufhin habe sich die Gruppierung auf Eigentumsdelikte spezialisiert. Die Taten würden von gut ausgebildeten "Soldaten" begangen: "Ihnen wird gezeigt, wie man sich einem Gebäude unauffällig nähert. Wie man sich im Fall einer Festnahme verhält und was man bei der Vernehmung sagen muss." Jacob hält diese Leute für gefährlich: "Sie können eiskalt sein und nehmen auf Menschenleben keine Rücksicht."
[h=2]Mit den "Dieben" legt man sich besser nicht an[/h]Wie brutal vorgegangen wird, zeigt die Erpressung reicher Geschäftsleute. Diese werden laut Jacob von "russischsprachigen Personen besucht, die ihnen nahelegen, einen Teil ihres Einkommens abzutreten. Meist genügten solche Drohungen, um Opfer gefügig zu machen: "Mit den ,Dieben' legt man sich besser nicht an. Das begreift jeder sehr schnell."
Die Organisation verfügt zudem über ein Heer versierter Ladendiebe. Es klaut nicht nur Omas Tafelsilber, sondern alles, was sich irgendwo verkaufen lässt. "Sie stehlen Parfums, Rasierklingen und Deodorants. Oft bemerken die Betreiber erst bei der Inventur, welche Werte ihnen abhandengekommen sind", sagt Jacob. Da sei die Ware aber längst über Marktplätze wie Ebay verkauft worden. Die Polizei sei "nicht mehr in der Lage, diese Vertriebswege über das Internet zu überwachen. Dafür fehlen uns die Leute." Zwar hat Berlin die bundesweit einzige Ermittlungsstelle, die sich speziell mit russischsprachiger organisierter Kriminalität befasst. Doch Jacob klingt ernüchtert: "Unsere Ermittlungen sind durch fehlende rechtliche und technische Möglichkeiten erschwert."
Letzte Frage. Was hat Ivan Markow eigentlich bewogen, einen kleinen Einblick in den Kosmos der "Diebe" zu gewähren? Die Antwort ist allzu menschlich. Er will seine Lebensgeschichte nicht mit ins Grab nehmen. Trotz über 30 Jahren hinter Gittern ist Markow keineswegs verbittert. Er steckt voller Tatendrang und versprüht – ja, er versprüht Lebensfreude, er sagt: "Ich bin ein glücklicher Mensch." Kein Polizist, kein Knast, kein Richter, daran lässt er keinen Zweifel, könne ihn von den "Dieben" trennen. Es ist eine Liebe bis zum Tod.


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sehr interessanter Artikel
obwohl ich nur die Überschrift gelesen habe
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Ok, ich entferne das unnötige Zitieren des Artikels und ersuche darum, dies zu vermeiden.
 
Die gleiche Struktur die Diebe im Gesetz hat hat auch die Ndrangheta und Camorra ich denke das die 3 auch Geschäfte zusammen machen.
 
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