Erdogans Wahlsieg: Islamist, Reformer, Autokrat
Der türkische Regierungschef Recep Tayyip Erdogan hat sich in seiner Karriere immer wieder neu erfunden - jetzt hat er die Laufbahn mit einem fulminanten Wahlsieg gekrönt. Doch trotz des historischen Erfolgs steht er unter Druck. Gelingt ihm der Wandel noch einmal?
Die Wandlung des Recep Tayyip Erdogan hat einen Ort und ein Datum: Ankara, 30. Juli 2008. An diesem Tag sprachen die elf obersten Richter des türkischen Verfassungsgerichts den Ministerpräsidenten nicht schuldig. Haltlos sei der Vorwurf der Staatsanwaltschaft, Erdogan arbeite am islamistischen Umsturz in der Türkei.
Das Urteil war knapp, sechs zu fünf Stimmen. Doch es genügte: Erdogan blieb im Amt. Er hatte es geschafft, wieder einmal.
Erdogan hat sie alle niedergerungen, die Opposition, die ihn als Islamisten denunzierte, die Journalisten, die ihn als Straßenköter verspotteten, die Generäle, die gegen ihn putschten. Nun also auch die Justiz. Das gesamte alte, säkulare Establishment.
Bei der Parlamentswahl am Sonntag hat Erdogan nun erneut triumphiert. Seine muslimisch-konservative AK Partei gewann mehr als 50 Prozent der Stimmen, so viele wie kaum eine andere Partei in der türkischen Geschichte. Die angestrebte Zwei-Drittel-Mehrheit, die es ihm ermöglicht hätte, eigenhändig die Verfassung zu ändern, hat Erdogan jedoch verpasst. Er wird mit unbequemen Oppositionellen - den Ultrarechten und den Kurden - im Parlament arbeiten müssen. Trotzdem belegt das Ergebnis, wie unangefochten Erdogan die Türkei regiert.
Wie aus einem Reformer ein Autokrat wurde
Dem Premier sind nach fast einem Jahrzehnt an der Macht die Gegner abhandengekommen. Zweimal haben ihn die Wähler im Amt bestätigt, sie haben ihn 2007 vor einem Militärputsch geschützt und im Juli 2008 vor einem Staatsstreich durch die Justiz. Doch Erdogan hat den Sieg über das Regime nicht zum Anlass genommen, die Demokratie zu stärken. Ohne ernsthaften Konkurrenten hat er sich vom Reformer zum Autokraten entwickelt.
Wie konnte es dazu kommen? Wer ist der Mann, dem Millionen Türken bereitwillig folgen?
Erdogan zog 2003 als Außenseiter in den Regierungspalast ein. In der Türkei hatten nach der Gründung des Staates durch Mustafa Kemal Atatürk 87 Jahre lang Generäle das Sagen. Sie übten ihre Macht oft gnadenlos aus: Sie verbannten die Religion aus der Öffentlichkeit, unterdrückten Minderheiten, führten Krieg gegen die Kurden im Südosten des Landes.
Erdogans Aufstieg begrüßten viele Türken als Gegenrevolution: Kein Vertreter der säkularen Elite, kein Schüler des Galatasaray Lycee, kein Erbe Atatürks regiert das Land. Der Sohn eines Fischers aus Anatolien. Männer seiner Herkunft putzten in der alten Türkei Schuhe vor dem Grand Hotel de Londres.
Erdogan glaube an Gott, aber er traue ihm nicht - sagt sein religiöser Lehrer
Erdogan hatte und hat den unbedingten Willen zur Macht. Er wollte raus aus Kasimpasa, den rauen Istanbuler Docklands, in denen er aufwuchs.
Er spielte Fußball, studierte Theologie an der Marmara Universität. Sein Vater überredete ihn, Politiker zu werden. Erdogan trat dem konservativen Naskibendi-Orden bei und engagierte sich in der islamistischen Refah-Partei des späteren Ministerpräsidenten Necmettin Erbakan.
Für den greisen Parteiführer gab er den Scharfmacher, unter ihm stieg er zum Bürgermeister Istanbuls auf: "Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten", sagte er in den neunziger Jahren bei einer Rede in der ostanatolischen Stadt Siirt. Er wurde zu zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt. Als Erbakan in der Partei an Rückhalt verlor, putschte Erdogan. "Tayyip hat den Ehrgeiz und die Ausdauer, die nur Außenseiter mitbringen", sagt Turgut Kazan, der frühere Präsident der Istanbuler Anwaltsunion, der Erdogan seit vielen Jahren begleitet.
Erdogan ist nicht der Ideologe, als den ihn seine Gegner häufig darstellen. Er ist ein kühl kalkulierender Machtpolitiker, ein Populist, voller Argwohn, bereit, selbst die engsten Freunde zu opfern. "Tayyip glaubt an Gott - aber er traut ihm nicht", sagt sein religiöser Lehrer.
In den ersten Jahren seiner Amtszeit hat Erdogan die Europäer umarmt, weil sie ihm nützlich erschienen im Ringen gegen die alte Staatselite, gegen die Generäle und Richter. Mit Hilfe der Europäischen Union verbannte er das Militär aus der Politik und erstritt mehr Rechte für religiöse Gruppen, auch für Christen. Doch der Machtkampf ist entschieden. Und mit jedem Wahlsieg wird deutlicher: Erdogan braucht Europa nicht mehr.
Erdogan botet die Eliten aus - auch international
Der türkische Premier vollzieht auf internationaler Ebene, was ihm zuvor schon auf nationaler Ebene gelungen ist: Er botet die Eliten in Berlin und Paris aus, die ihm misstrauen. Erdogan will die Türkei als Regionalmacht etablieren. Ihn treibt, was ihn sein Leben lang getrieben hat: der Ehrgeiz des Außenseiters. Europa wird sich auf weitere Alleingänge der Türkei einstellen müssen, wie zuletzt beim Atom-Deal mit dem Iran.
Manche Politiker lässt Erfolg gelassen werden, souverän. Bei Erdogan hat er jedoch dazu geführt, dass er machtgierig wird, dünnhäutig, unempfänglich für Kritik.
Der Ministerpräsident führt Prozesse gegen Hunderte Bürger, angeblich weil sie ihn beleidigt haben. Er hat einen Karikaturisten verklagt, der ihn als Katze gezeichnet hatte. Ebenso Anhänger des Fußballclubs Galatasaray, die buhten, als der Premier im Stadion erschien. Und Straßenmusiker, die auf einem Festival den "Tayyip Blues" sangen. Unter Erdogan ist die Türkei im Index für Pressefreiheit der Organisation "Reporter ohne Grenzen" auf Rang 138 abgesackt und liegt nun hinter Ländern wie dem Irak. In der Türkei sitzen mehr Journalisten im Gefängnis als in China.
Das Ergebnis vom Sonntag wird Erdogan in seiner Einschätzung bestärken, unverzichtbar zu sein für die Türkei. "Die Nation hat einen Sieg errungen", sagte er unmittelbar nach dem Wahlsieg. Doch wenn er in seiner dritten Legislaturperiode erfolgreich sein will, muss er stärker auf die Opposition zugehen als bisher. Mit dem Brachial-Stil der vergangenen Jahre wird er sein Ziel, die Verfassung zu ändern, nicht erreichen - nicht unter den neuen Mehrheitsverhältnissen im Parlament. Erdogan muss sich wieder einmal neu erfinden.
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