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TIRANA UND IHR HAUSBERG

skenderbegi

Ultra-Poster
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7. Dezember 2006, Neue Zürcher Zeitung





Die Rückeroberung von Tiranas Hausberg
Albanien kämpft um seinen Ruf

Die nach dem Systemwechsel in Albanien entfesselte Dynamik ist schwer kontrollierbar. Anhaltender innenpolitischer Zank hindert die EU-Integration. Gleichzeitig bildet sich im Lande ein demokratisches Bewusstsein, und Tirana ist zur stolzen Metropole erblüht.




Graffitti an der Hauswand der Organisation Mjaft! (albanisch: Genug!) in Tirana, Albanien, am Samstag, 2. Oktober 2004. (Bild key)


Tirana, Ende Oktober


Von unserem Südosteuropa-Korrespondenten Martin Woker

Egal wie klein er auch sein mag, eine rechte Stadt hat ihren Hausberg. Albaniens Hauptstadt Tirana macht da keine Ausnahme. Der Berg heisst Dajti, ist 1612 Meter hoch und begrenzt den östlichen Horizont der etwa 800 000 Einwohner zählenden Metropole. Nach dem Systemwechsel vor 15 Jahren und dem damit verbundenen allgemeinen Niedergang verlor der Berg seine Bedeutung als Ausflugsziel. Löchrig war die dahin führende Strasse, und die in luftiger Höhe in lichtem Wald gebauten Erholungsheime zerfielen allmählich. Seit dem vergangenen Jahr führt nun aber eine moderne Gondelbahn über Olivenhaine und Felsschründe hinweg zum Dajti hinauf. Die Tiraner haben ihren Hausberg wieder, und die Stadt ist um eine weitere Attraktion reicher.

Einseitig geprägte Wahrnehmung
Für unsere Mitpassagiere in der Panorama-Gondel ist diese Art der Beförderung offensichtlich ein Novum. Doch sie lassen sich ihre Angst nicht anmerken. Auch alle andern Ausflügler an diesem sonnigen Herbsttag tun so, als sei die Fahrt mit dem «Sky Train» zum Dajti die normalste Sache der Welt, ein simples Vergnügen, das Väter ihren Kleinfamilien am Wochenende gönnen. Solch demonstrierte Selbstverständlichkeit unbeschwerten Freizeitverhaltens irritiert in einem Land, das während der vergangenen Jahre auf Negativschlagzeilen abonniert gewesen war. Menschenhandel, Drogenschmuggel und Blutrache prägten die internationale Wahrnehmung Albaniens. Exotik aus Europas rückständigster Ecke liess sich auf Redaktionen gut verkaufen. Andern Stoff, so bestand eine weitverbreitete Meinung, gab Albanien nicht her.

Wie einfach sich solche Vorurteile doch widerlegen liessen. Im laufenden Jahr verzeichnete Albanien erstmals über eine halbe Million Touristen. Viele von ihnen sind Albaner aus Kosovo und Mazedonien, die im Sommer ans Meer fahren. Doch eine wachsende Zahl übriger Europäer hat Albanien als eine Destination entdeckt, die mehr als nur Abenteuerferien verspricht. Im bergigen Norden befindet sich eine örtlich angepasste Infrastruktur für Wandertourismus im Aufbau, und die übers ganze Land verteilten erstrangigen Bauzeugen aus griechischer, römischer und osmanischer Zeit werden für den Fremdenverkehr allmählich erschlossen. Das einst katastrophale Strassennetz wurde stark verbessert, gute Unterkünfte findet man fast überall, und kulinarisch schlägt Albanien den üblichen balkanischen Einheitsbrei um Längen. Wie aber verhält es sich mit der angeblich «ganz anderen Mentalität» der Bewohner? Sie ist tatsächlich anders. Albanien hat, wer weiss das schon, die weitaus aktivste und mitgliederstärkste Vereinigung für biologischen Landbau auf dem ganzen Balkan. Und Albanien hat weiter die im gesamten osteuropäischen Vergleich einflussreichste Bürgerrechtsbewegung.
Aktive Bürgerrechtsbewegung
Die Organisation heisst Mjaft! (albanisch: Genug!) und hat in der gut dreijährigen Geschichte ihres Bestehens Albaniens Innenpolitik massgeblich beeinflusst. Das Durchschnittsalter der mehrheitlich aus dem studentischen Milieu stammenden Mjaft-Aktivisten liegt bei 26 Jahren. «Ihr habt die Ruhe gebrochen und die Stimme der Bürger zur mutigsten Institution Albaniens werden lassen», beschied der Staatspräsident Moisiu im Frühling der Bewegung. Zu den prominenten Fürsprechern von Mjaft zählen Albaniens bekanntester Schriftsteller, Ismail Kadare, sowie einige der einflussreichsten in Tirana akkreditierten ausländischen Botschafter. Mjaft versteht sich primär als eine regierungskritische Organisation. Doch im Unterschied zu andern Bürgerrechtsbewegungen in der Region ist Mjaft nicht einfach eine ausserparlamentarische Oppositionskraft und hat darum auch den Regierungswechsel im Sommer letzten Jahres problemlos überstanden. Öffentlicher Protest oder Spektakel sind die wichtigsten Kampfmittel der Bewegung. Ihre Themen reichen vom Umweltschutz zu Alphabetisierung und Monitoring des Parlaments sowie Menschenschmuggel bis zur Hilfe für Tsunami-Opfer.

Hilfe für Tsunami-Opfer? Dabei habe es sich um eine Imagewerbung für Albanien gehandelt, räumt ein Mjaft-Aktivist ein. Die fünf von Mjaft in die Krisenregion entsandten und mit albanischer Flagge ausgerüsteten Ärzte hätten Albaniens Wahrnehmung in der Welt verändert, aus dem Hilfeempfänger sei ein Helfer geworden. Abgesehen von der Überwindung kollektiver Apathie, dem Hauptziel von Mjaft, ist die Verbesserung von Albaniens Ansehen ein Hauptanliegen der Bewegung.

Zu spüren bekam dies etwa die in London erscheinende «Sunday Times». In dem Blatt erschien unlängst eine Art Reisebericht über Albanien, verfasst in der sattsam bekannten Machart des New Journalism, süffig geschrieben und primär dem Ego des Autors gerecht werdend. Die Albaner und ihr Land erscheinen in dem mit Negativklischees gespickten Bericht als schrullige Eingeborene und exotische Hinterwäldler. Mjaft empfand den Artikel zu Recht als kollektive Beleidigung und schaltete ihre in London ansässigen albanischen Aktivisten ein. Sie erreichten bisher eine halbherzige Entschuldigung des zuständigen Chefredaktors. In den albanischen Medien aber schlug die Sache hohe Wellen, und die Volksmeinung war klar: Wenn's schon die Regierung nicht tut, so setzt sich wenigstens Mjaft für unser Ansehen in der Welt ein.

«Albanien ist wie eine ansteckende Krankheit», sagt Erion Veliaj, Direktor von Mjaft und herausragende Führerfigur der Bewegung. Nach einem Studium im westlichen Ausland kehrte der junge Politologe in seine Heimat zurück. Gleich wie manche seiner Mitstreiter fühlt er sich seinem Land gegenüber verpflichtet und fand die Möglichkeit zu direktem Eingreifen in die Politik. Die grosse Popularität von Mjaft führt er darauf zurück, dass die Bewegung ihre ganze Kraft in Aktionen einsetze und keine Energie in jenen unsäglichen Demokratisierungs-Seminaren verpuffe, welche dem Balkan von gutmeinenden westlichen Geldgebern seit 15 Jahren in anhaltend hoher Dosis verabreicht würden.
Politische Unkultur
Mjaft sei nichts für Mütter und Väter, sagt Veliaj. Er selbst werde in drei Jahren sicher nicht mehr bei der Bewegung sein. Es müssten jüngere Kräfte übernehmen. An hoffnungsvollem Nachwuchs bestehe kein Mangel. Mjaft werde weiter bestehen, vielleicht in anderer Form, doch mit denselben Zielen. Zerfallen werde die Struktur allein schon darum nicht, weil über die Hälfte der Aktivisten Frauen seien, sagt einer der Mitstreiter. Darin unterscheide sich die Bewegung grundsätzlich von allen etablierten Parteien, und dies sei auch der Grund für die geringen internen Reibungsverluste.

Mit dieser Analyse liegen die jungen Aktivisten wohl richtig. Der Frauenanteil unter Albaniens Politikern ist selbst im regionalen Vergleich sehr gering. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems, in dem Frauen die ihnen garantierten Stellungen eingenommen hatten, wird Albaniens Innenpolitik weniger von Parteiprogrammen als vielmehr von Hahnenkämpfen geprägt. Es sind ausschliesslich Männer, die sich auf der politischen Bühne in den vergangnen 15 Jahren verbal und teilweise auch tätlich zerfleischen. Obwohl von Seiten Brüssels die weitere Annäherung an die EU von einer Beruhigung des innenpolitischen Kleinkriegs abhängig gemacht wurde, lässt Besserung auf sich warten. Der jüngste Streit zwischen Regierung und Opposition dreht sich um die anstehenden Lokalwahlen. Pandeli Majko, ehemaliger Regierungschef und Generalsekretär der Sozialisten, nimmt für die Führung seiner Partei in Anspruch, im Unterschied zu den regierenden Demokraten den Generationenwechsel vollzogen zu haben.

Tiranas international bekannter Bürgermeister Edi Rama, der die Sozialisten seit einem Jahr anführt, pflichtet diesem Befund bei. Gleichzeitig beharrt er darauf, dass die Bedingungen für einen fairen Verlauf der Wahlen nicht gegeben seien. Obwohl er im Gespräch das Gegenteil behauptet, fällt dem innovativen ehemaligen Künstler die Knochenarbeit eines Parteichefs offensichtlich schwerer als die Aufgabe des Stadtvaters. Der unkonventionelle Hüne, der Tirana innert weniger Jahre mit genialen Ideen vom Chaos befreit und zur attraktiven Hauptstadt umgemodelt hat, wirkt müde und ausgebrannt. Seine Stellung an der Spitze der Sozialisten ist ungefestigt.

Weiter ist es ihm bisher auch nicht gelungen, das zersplitterte, aus diversen Linksparteien bestehende Oppositionslager zu vereinen. Dies wäre aber darum nötig, weil die seit dem Sommer des Vorjahres regierenden Demokraten von Sali Berisha und deren Koalitionspartner bisher über Erwarten gut über die Runden gekommen sind. Erstaunlich ist dies darum, weil mit Berisha wieder ein Populist alter Schule die Zügel führt. Seine Gegner sehen in ihm einen Stalinisten in demokratischem Mantel. Die Fähigkeit zum politischen Kompromiss ist seine Sache nicht. Wird das Land unter seiner Führung weiterkommen?

Im Urteil ausländischer Diplomaten herrscht Abwarten vor. Im Kampf gegen Korruption und organisiertes Verbrechen seien Erfolge zu verzeichnen, heisst es. Doch kaum jemand mag die vielen Versprechen der Regierung zum vollen Nennwert nehmen. Wüsteste Angriffe Berishas auf die Justiz im Allgemeinen und den Generalstaatsanwalt im Besondern prägen seit Wochen die Schlagzeilen. Von einem «europäischen Verhalten», wie seitens der EU gefordert, kann nicht die Rede sein. Warum sind Albaniens Politiker zum Überwinden solcher Unkultur nicht in der Lage? Genc Pollo, Chef der kleinen Koalitionspartei Neue Demokraten, führt das Ministerium für Bildung und Wissenschaft und zählt zur selben jungen Generation wie Majko und Rama. Er relativiert den lähmenden innenpolitischen Streit und gibt zu, dass es dabei weniger um Ideologie als vielmehr um Macht gehe. Er fordert für das Land eine neue Moral und postuliert als Vorbild den Politiker als einen Diener des Volks.

Die Macht des Faktischen
Wird diese ebenso richtige wie abstrakte Forderung 15 Jahre nach dem Zusammenbruch des rigiden kommunistischen Regimes von der Bevölkerung verstanden? Kaum. Es ist die Macht des Faktischen, die das Verhalten der Albaner massgeblich prägt und zu einer positiven Entwicklung beiträgt. Edi Ramas radikale gestalterische und raumplanerische Eingriffe zur Verschönerung des Stadtbilds haben unter den Bewohnern Tiranas Stolz geweckt und einen bisher nicht gekannten Bürgersinn entstehen lassen. Private Hauseigentümer haben längst die von den Stadtbehörden initiierte künstlerische Bemalung ganzer Strassenzüge übernommen und Tirana zur farbigsten Hauptstadt des Balkans werden lassen; und auch zu einer der saubersten. Offensichtlich beginnen sich Einzelne fürs Ganze verantwortlich zu fühlen. «Ownership» nennen Politologen diesen im Balkan oft holprig verlaufenden Prozess, der in Albanien besser als anderswo abläuft und den Einwohnern Tiranas wieder zu ihrem Hausberg verholfen hat.
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EGAL WO WIR LEBEN WIR BLEIBEN IMMER ALBANER

NICHT DER KRIEG,DER FRIEDEN IST DER VATER ALLER DINGE.
(willy brandt)
 
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