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Yunan
Guest
13.06.2012
Krawalle in Tunesien
Krieg der Islamisten
Von Raniah Salloum
Straßenschlachten und Schießereien: Radikale Salafisten und al-Qaida attackieren die islamistische Regierung Tunesiens, die sie für zu gemäßigt halten. Doch die neue Staatsführung schlägt hart zurück.
Berlin - Es waren die größten Straßenschlachten, die Tunesien seit seiner Revolution im vergangenen Jahr erlebte. In der Hauptstadt brannte am Dienstag eine Polizeistation im Reichenviertel La Marsa, Straßenbarrikaden wurden erreichtet, die Polizei gab Warnschüsse ab und verhaftete mindestens 162 Menschen. Am Mittwoch wurde bekannt, dass in der Hafenstadt Sousse sogar ein Demonstrant erschossen wurde. Der 22-Jährige habe einen Kopfschuss erlitten, teilte ein Krankenhaus der Stadt mit.
Die Regierung verhängte eine Ausgangssperre: Zwischen 21.00 und 5.00 Uhr soll sie im Großraum Tunis und weiteren Bezirken bis auf weiteres gelten - aus Furcht vor neuen Zusammenstößen.Die Fronten verlaufen dieses Mal aber nicht zwischen Revolutionären und dem alten Regime. Islamistische Radikale kämpfen gegen die demokratisch gewählte und von der islamistischen Partei Ennahda geführte Koalitionsregierung.
Die Ausschreitungen sind die bisher größte Herausforderung für das nordafrikanische Land. Bislang klappt der demokratische Übergang: Nachdem im Januar Machthaber Zine el-Abedine Ben Aliverjagt wurde, wählten die Tunesier in ersten freien Wahlen im Oktober mit 40 Prozent die islamistische Partei Ennahda an die Macht.
Doch nun befürchtet Tunesiens Innenminister Ali Larayedh neue Unruhen. "Wir gehen davon aus, dass es die nächsten Tage so weiter geht." Für den Freitag haben die radikalen Islamisten zu einer Demonstration aufgerufen.
Der Ennahda-Partei misslingt zunehmend ihr Spagat zwischen zwei Fronten. Einerseits will sie es sich nicht mit der säkularen Elite des Landes verderben, die ihr vorwirft, nicht hart genug gegen radikale Islamisten vorzugehen. Andererseits will die Partei auch konservative Mitglieder ihrer eigenen Anhängerschaft nicht vor den Kopf stoßen.
Der Islamisten-Partei misslingt der Spagat zwischen den Fronten
Herausgekommen ist dabei bisher ein politischer Eiertanz. So hielt sich Ennahda an ihr Wahlversprechen und verzichtete jüngst darauf, sich für einen Bezug auf die Scharia - die islamische Gesetzgebung - in der Verfassung einzusetzen. Diese Entscheidung stößt beim radikaleren Teil ihrer Anhängerschaft auf Unverständnis und Protest.
Gleichzeitig aber hat Ennahda auch Liberale verärgert. So wurden im April zwei junge Tunesier zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil sie Cartoons des Propheten Mohammeds auf Facebook gepostet hatten, die diesen nackt zeigten. Ein Sprecher des Justizministeriums bezeichnete dies als "Verstoß gegen die Moral und eine Störung der öffentlichen Ordnung".
Außerdem wurde der Chef eines Fernsehsenders zu einem Bußgeld verurteilt, weil er den Zeichentrickfilm "Persepolis" ausgestrahlt hatte. An diesem Film hatte sich im vorigen Jahr der Kulturstreit zwischen Tunesiens liberaler Elite und der gläubigen Bevölkerung erstmals heftig entzündet. In einer Szene des Films wird Gott als alter Mann auf einer Wolke dargestellt. Für radikale Islamisten kam dies Blasphemie gleich, da der Islam keine bildliche Darstellung von Gott oder dem Propheten Mohammed vorsieht. Das Hauptquartier des Fernsehsenders wurde daraufhin ebenso wie die Privatwohnung des Fernsehsenderchefs angegriffen.
Al-Qaida und tunesische Radikal-Prediger schüren den Konflikt
Die jüngsten Krawalle löste eine Kunst-Ausstellung in Tunis aus. Dort wurde das Wort "Allah" buchstabiert mithilfe von Insekten, was radikale Islamisten als blasphemisch bezeichneten. Auch manche gemäßigte Tunesier sahen die Ausstellung als unnötige Provokation der Radikalen in dem tief gespaltenen Land.
In den Streit hat sich nun auch noch al-Qaida eingemischt. In einer am Sonntag veröffentlichten Audiobotschaft wandte sich ihr Chef Aiman al-Sawahiri an die "echten tunesischen Muslime" und forderte sie auf, gegen die von Ennahda angeführte Koalitionsregierung aufzubegehren. Er warf der islamistischen Partei vor, einen falschen Islam zu vertreten - den des "US-Außenministeriums, der Europäischen Union und der Scheichtümer vom Golf, ein Islam der Casinos und FKK-Strände erlaubt".
Zudem schürt der radikale tunesische Prediger Abu Ayoub Ettounsi den Konflikt. In einer Videobotschaft ruft er die "wahren Gläubigen" Tunesiens auf, am Freitag ihrer Wut auf die Regierung freien Lauf zu lassen. Er hatte bereits im Streit um den Zeichentrickfilm "Persepolis" zu den Protesten aufgerufen, die in Gewalt endeten.
Die Reaktionen von Ennahda sind bisher erneut nicht eindeutig. Die Partei geht zwar nun hart vor und verhaftete in den vergangenen Tagen im ganzen Land mehr als 162 Salafisten, eine konservative Strömung des Islam. Sie sollen nach der Anti-Terror-Gesetzgebung verurteilt werden, die noch der gestürzte Ben Ali 2003 einführte und zur Verfolgung seiner Gegner nutzte. Tunesiens Salafisten-Bewegung steht nicht geschlossen hinter den Krawallen. Ein Teil hat sie ausdrücklich verurteilt. Lediglich ein radikaler Zweig begrüßt die Gewalt.Gleichzeitig will Ennahda jedoch auch ein Zugeständnis an die konservative Basis machen. Die Partei verspricht sich für ein "Blasphemie-Verbot" in der neuen Verfassung einzusetzen. Diese soll im Laufe des Jahres beschlossen werden, bevor es 2013 unter dem neuen Regierungssystem zu Wahlen kommt.
Zur Unzufriedenheit und den Ausschreitungen trägt auch die anhaltende Wirtschaftsmisere bei. Mit dem Sieg der Islamisten hatten viele Tunesier die Hoffnung verknüpft, dass ein Teil der Millionen des verjagten Präsidenten auch bei ihnen ankommen würde. Doch die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch. Die Lebensmittelpreise steigen. Tunesiens Wirtschaft leidet unter der schwachen Konjunktur des wichtigsten Handelspartners, der Europäischen Union, und unter den ausbleibenden Tourismus-Einnahmen.
Krawalle in Tunesien
Krieg der Islamisten
Von Raniah Salloum
Straßenschlachten und Schießereien: Radikale Salafisten und al-Qaida attackieren die islamistische Regierung Tunesiens, die sie für zu gemäßigt halten. Doch die neue Staatsführung schlägt hart zurück.
Berlin - Es waren die größten Straßenschlachten, die Tunesien seit seiner Revolution im vergangenen Jahr erlebte. In der Hauptstadt brannte am Dienstag eine Polizeistation im Reichenviertel La Marsa, Straßenbarrikaden wurden erreichtet, die Polizei gab Warnschüsse ab und verhaftete mindestens 162 Menschen. Am Mittwoch wurde bekannt, dass in der Hafenstadt Sousse sogar ein Demonstrant erschossen wurde. Der 22-Jährige habe einen Kopfschuss erlitten, teilte ein Krankenhaus der Stadt mit.
Die Ausschreitungen sind die bisher größte Herausforderung für das nordafrikanische Land. Bislang klappt der demokratische Übergang: Nachdem im Januar Machthaber Zine el-Abedine Ben Aliverjagt wurde, wählten die Tunesier in ersten freien Wahlen im Oktober mit 40 Prozent die islamistische Partei Ennahda an die Macht.
Doch nun befürchtet Tunesiens Innenminister Ali Larayedh neue Unruhen. "Wir gehen davon aus, dass es die nächsten Tage so weiter geht." Für den Freitag haben die radikalen Islamisten zu einer Demonstration aufgerufen.
Der Ennahda-Partei misslingt zunehmend ihr Spagat zwischen zwei Fronten. Einerseits will sie es sich nicht mit der säkularen Elite des Landes verderben, die ihr vorwirft, nicht hart genug gegen radikale Islamisten vorzugehen. Andererseits will die Partei auch konservative Mitglieder ihrer eigenen Anhängerschaft nicht vor den Kopf stoßen.
Der Islamisten-Partei misslingt der Spagat zwischen den Fronten
Herausgekommen ist dabei bisher ein politischer Eiertanz. So hielt sich Ennahda an ihr Wahlversprechen und verzichtete jüngst darauf, sich für einen Bezug auf die Scharia - die islamische Gesetzgebung - in der Verfassung einzusetzen. Diese Entscheidung stößt beim radikaleren Teil ihrer Anhängerschaft auf Unverständnis und Protest.
Gleichzeitig aber hat Ennahda auch Liberale verärgert. So wurden im April zwei junge Tunesier zu sieben Jahren Haft verurteilt, weil sie Cartoons des Propheten Mohammeds auf Facebook gepostet hatten, die diesen nackt zeigten. Ein Sprecher des Justizministeriums bezeichnete dies als "Verstoß gegen die Moral und eine Störung der öffentlichen Ordnung".
Außerdem wurde der Chef eines Fernsehsenders zu einem Bußgeld verurteilt, weil er den Zeichentrickfilm "Persepolis" ausgestrahlt hatte. An diesem Film hatte sich im vorigen Jahr der Kulturstreit zwischen Tunesiens liberaler Elite und der gläubigen Bevölkerung erstmals heftig entzündet. In einer Szene des Films wird Gott als alter Mann auf einer Wolke dargestellt. Für radikale Islamisten kam dies Blasphemie gleich, da der Islam keine bildliche Darstellung von Gott oder dem Propheten Mohammed vorsieht. Das Hauptquartier des Fernsehsenders wurde daraufhin ebenso wie die Privatwohnung des Fernsehsenderchefs angegriffen.
Al-Qaida und tunesische Radikal-Prediger schüren den Konflikt
Die jüngsten Krawalle löste eine Kunst-Ausstellung in Tunis aus. Dort wurde das Wort "Allah" buchstabiert mithilfe von Insekten, was radikale Islamisten als blasphemisch bezeichneten. Auch manche gemäßigte Tunesier sahen die Ausstellung als unnötige Provokation der Radikalen in dem tief gespaltenen Land.
In den Streit hat sich nun auch noch al-Qaida eingemischt. In einer am Sonntag veröffentlichten Audiobotschaft wandte sich ihr Chef Aiman al-Sawahiri an die "echten tunesischen Muslime" und forderte sie auf, gegen die von Ennahda angeführte Koalitionsregierung aufzubegehren. Er warf der islamistischen Partei vor, einen falschen Islam zu vertreten - den des "US-Außenministeriums, der Europäischen Union und der Scheichtümer vom Golf, ein Islam der Casinos und FKK-Strände erlaubt".
Zudem schürt der radikale tunesische Prediger Abu Ayoub Ettounsi den Konflikt. In einer Videobotschaft ruft er die "wahren Gläubigen" Tunesiens auf, am Freitag ihrer Wut auf die Regierung freien Lauf zu lassen. Er hatte bereits im Streit um den Zeichentrickfilm "Persepolis" zu den Protesten aufgerufen, die in Gewalt endeten.
Die Reaktionen von Ennahda sind bisher erneut nicht eindeutig. Die Partei geht zwar nun hart vor und verhaftete in den vergangenen Tagen im ganzen Land mehr als 162 Salafisten, eine konservative Strömung des Islam. Sie sollen nach der Anti-Terror-Gesetzgebung verurteilt werden, die noch der gestürzte Ben Ali 2003 einführte und zur Verfolgung seiner Gegner nutzte. Tunesiens Salafisten-Bewegung steht nicht geschlossen hinter den Krawallen. Ein Teil hat sie ausdrücklich verurteilt. Lediglich ein radikaler Zweig begrüßt die Gewalt.Gleichzeitig will Ennahda jedoch auch ein Zugeständnis an die konservative Basis machen. Die Partei verspricht sich für ein "Blasphemie-Verbot" in der neuen Verfassung einzusetzen. Diese soll im Laufe des Jahres beschlossen werden, bevor es 2013 unter dem neuen Regierungssystem zu Wahlen kommt.
Zur Unzufriedenheit und den Ausschreitungen trägt auch die anhaltende Wirtschaftsmisere bei. Mit dem Sieg der Islamisten hatten viele Tunesier die Hoffnung verknüpft, dass ein Teil der Millionen des verjagten Präsidenten auch bei ihnen ankommen würde. Doch die Arbeitslosigkeit ist nach wie vor hoch. Die Lebensmittelpreise steigen. Tunesiens Wirtschaft leidet unter der schwachen Konjunktur des wichtigsten Handelspartners, der Europäischen Union, und unter den ausbleibenden Tourismus-Einnahmen.