TigerS
Kosovo-Thailänder
[h=2]"Unsere Neger, unsere Gegner" - Vladimir Arsenijević[/h]
BELGRAD
Für alle Exjugoslawen, insbesondere aber für uns Serben, waren die Kosovo-Albaner einst vor allem »unsere Neger«. Inzwischen gelten sie als Serbiens Erzfeinde, und die nationalistischen Politiker meines Landes nutzen diesen Mythos bis in die aktuelle Gegenwart der Verhandlungen um die Zukunft der seit 1999 von den UN verwalteten südserbischen Provinz Kosovo skrupellos aus. Wer sich im Westen Europas fragt, wie all das geschehen konnte, dem kann ich antworten. Denn ich habe diese Geschichte in meinem Land gesehen und gehört.
Mein früheres Land, das ehemalige Jugoslawien, wies eine enorme ethnische und kulturelle Vielfalt auf. Marschall Josip Broz Tito beschwor diese Vielfalt als unseren jugoslawischen melting pot, doch in Wahrheit ist sie das nie gewesen. Nach Titos Tod wurde diese Vielfalt auf tragische Weise instrumentalisiert. Gesellschaftlich zerklüftet, gespalten in ethnische und kulturelle Subgruppen und außerdem geprägt durch eine Hierarchie wirtschaftlich überlegener wie unterlegener Landesteile, bewegte sich Jugoslawien nach Tito sprichwörtlich auf einer europäischen Vertikale.
Oben auf dieser Vertikale, im äußersten Norden, fand sich an der Grenze zu Österreich die am weitesten entwickelte Republik, Slowenien. Sie repräsentierte gewissermaßen das dauerhafte »Hoch« der damaligen
gemeinsamen Heimat. Weiter ging es dann über Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien im Zentrum, bis hin zu Montenegro und Makedonien im äußersten Süden, dem chronischen »Tief« unseres damaligen Landes. »Je südlicher, desto betrüblicher« (»Što južnije, to tužnije«), so beschrieb der Volksmund die Stufenleiter des spezifisch jugoslawischen Rassismus, der stets gegen jene gerichtet war, die sich geografisch und ökonomisch unmittelbar »unter« einem befanden. So zeigten also die Slowenen ihre Verachtung für die Bauerntrampel, Faulenzer oder Versager der anderen Republiken am deutlichsten den Kroaten, die Kroaten ihrerseits gaben es den Serben, und diese wiederum machten sich mit Vergnügen über Mazedonier oder Montenegriner lustig. Bosnier, als Bewohner der zentralen jugoslawischen Republik, waren hingegen bestimmt zum Gegenstand allseitigen Gespötts.
Kosovo-Albaner – das waren für uns primitive Onkel Toms. Aber dann gab es da noch die Albaner der südserbischen Provinz Kosovo. Ihre Muttersprache war nicht slawisch geprägt. Sie waren ärmer als wir anderen. Ihre Kultur war uns weitgehend fremd. Im bunten Gemisch unterschiedlichster Jugoslawen waren sie als südlichste ethnische Gruppe dazu verurteilt, die Rolle des absoluten Außenseiters zu spielen.
Was wir anderen im ehemaligen Jugoslawien jemals über die Albaner zu wissen glaubten, war zusammengeklittert aus beleidigenden Klischees. Abfällig nannten wir sie im Alltag nur »Schiptaren«, also Skipetaren. Wenn wir die »Schiptaren« nicht offen gehasst haben, dann nur darum, weil wir sie nicht einmal unseres Hasses für würdig befanden. Zwischen »denen« und »uns« gab es selbst zu besten Zeiten keinen Dialog.
Kosovo-Albaner: Das waren für uns lauter primitive, sich klaglos schlagen lassende, allerhöchstens mitunter mal komisch wirkende Onkel Toms. Sie waren unsere Neger. So wenig aber die Anwesenheit der verachteten Albaner ins Bewusstsein des durchschnittlichen Jugoslawen der Tito-Zeit gedrungen war, so sehr erscheint der lässige Kultur-Rassismus von damals aus heutiger Perspektive geradezu harmlos, verglichen mit dem tätlichen, mörderischen Hass auf die »Schiptaren«, wie er die Serben nach dem Tod Titos und den ersten »Unruhen« im Kosovo am Ende des vergangenen Jahrhunderts ergriff. Besonders intensiv wurde dieses Ressentiment in der Phase der anschwellenden Nationalismen aller Republiken, während der serbischen Gewaltherrschaft Slobodan
Miloševićs und dessen unbarmherzigem Auseinanderreißen des gemeinsamen Staates. In den neunziger Jahren begannen auch Politiker und Medien den kolloquialen und abfälligen Begriff »Schiptaren« zu verwenden. Mehr und mehr gerannen diese zu unserem paranoiden Objekt. Mehr und mehr war von ihnen die Rede, als existierten sie allein aus dem Grund, uns Serben zu zermalmen und zu vernichten.
Zur Legende der unter Milošević reformierten Nachrichten gehörte auch ein historischer Mythos, der so oder ähnlich erscholl: »Einst gab es im Kosovo erheblich weniger Albaner als Serben. Mit den Jahren aber sind sie (durch ein nie gänzlich aufgeklärtes Wunder! V. A.) aus Albanien über die Grenzen eingedrungen und haben sich hier bei uns, vor unser aller Augen, einfach so mir nichts, dir nichts, angesiedelt.« Ausgestattet mit aus unserer Sicht geradezu viehischen Fähigkeiten, entwickelten sie die kollektive Beharrlichkeit von Termiten und vermehrten
sich überdies wie die Karnickel. Vor ihrer unkontrollierbaren Virilität und überaus hohen Geburtenrate fröstelte uns, man schüttelte sich vor Abscheu. Zugleich wurde öffentlich unablässig von jedem Serben eingefordert, sich zum Hass gegen »Schiptaren« zu bekennen. Wer diesen Hass nicht hegte, der dürfe sich in keinem Fall einen echten Serben nennen – und war wahrscheinlich auch keiner. So erklärte man die »Schiptaren« mittels der Propaganda serbischer Politik in der Ära Milošević und der sie stets stützenden Medien zum archetypischen Feind,
ohne den die Existenz der Serben wiederum selbst praktisch undenkbar war. Denn: Was wäre schon Batman
ohne seinen Joker? Nun waren die »Schiptaren« keine lächerlichen Onkel Toms mehr, ganz im Gegenteil. Sie
hatten sich verwandelt in furchterregende, gefährliche Dämonen, renitent und beharrlich in ihrer Absicht,
unsere historischen Territorien zu übernehmen, uns Serben Kosovo Polje, das Amselfeld, zu entreißen, »die
Wiege unserer Kultur«, unsere Mythen zu stehlen, uns zu rauben, was uns gemäß historischem Recht zustand.
Entschlossen mit diesen »Schiptaren« ein für alle Mal abzurechnen, fasste unser Präsident Milošević einen fantastischen Plan. In seinem obskuren Reich des Üblen, der Armut, des ethnischen Hasses und der Hyperinflation sollten Armee und Polizei mit Hilfe der Massenmedien ungestraft die Kosovo-Albaner diskriminieren und erniedrigen dürfen. Man durfte sie jetzt willkürlich entlassen oder verhaften, ihren Besitz brandschatzen und Familien und Dörfer auslöschen. Von jeglicher Verantwortung freigesprochen, bestärkt durch die Popularität in der Bevölkerung, setzte der Präsident seinen Plan jahrelang gewissenhaft in die Tat um, indem er Gewalt und Zerstörung zuerst ins Kosovo, dann aber über das ganze Territorium Jugoslawiens brachte. Nach dem Abkommen von Dayton im Dezember 1995 gab es eine kleine Feuerpause. Doch 1999 führte diese Spirale der Gewalt Milošević zum Schluss erneut dahin, wo alles begonnen hatte – zurück zum Kosovo. Es wurde für ihn auch zu dem Ort, an dem sein Ende eingeläutet werden sollte. Nach dreizehn Jahren der Destruktion. Als die Nato Ende März 1999 begann, Serbien-Montenegro, den hauptschuldigen Akteur, zu bombardieren, wurde zwar zusätzlich Infrastruktur zerstört, und es gab Hunderte ziviler Opfer. Doch es folgte darauf auch das Ende serbischer Staatsmacht in der Provinz Kosovo. Zugleich setzte an diesem unglückseligen Ort ein Rollenwechsel zwischen Opfer und Täter ein. Es kam zum Exodus Tausender von Serben und Roma, zum rachsüchtigen Wüten der »Sieger«, und noch einmal sollten die Opfer fast ausschließlich unschuldige Zivilisten sein. Aus war es mit der
Hoffnung, dass in absehbarer Zeit ein Leben miteinander, Normalität zwischen ganz gewöhnlichen Menschen, Serben und Albanern, möglich wäre.
Unsere jungen Leute hassen wieder mit Leichtfertigkeit und Genuss Derart listig hatte Milošević sein Spiel betrieben, dass nur eine Sorte Epilog möglich war. Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Exjugoslawien in Den
Haag. Allerdings gelang es Milošević, dem Ort potenzieller Gerechtigkeit zu entfliehen, wenn auch nur durch seinen Herztod. Er hat sich dem Recht entzogen und uns die Frage nach der Schuld hinterlassen. Nicht zuletzt deshalb belasten Schuld und Scham uns alle, die Bürger Serbiens, ob wir das akzeptieren oder nicht.
Vor wenigen Jahren berichteten die serbischen Medien monatelang von Massengräbern, deren Tote die Forensiker als Kosovo-Albaner identifizierten. Zu den vielleicht erschütterndsten Bildern gehörte das eines
Kühllastwagens, aus dessen Heck ermordete kosovo-albanische Frauen, Kinder und Greise geborgen wurden, nahe der Mündung des Flusses Derventa in den Perucac-See. Auf dem Bildschirm sahen wir, wie halbverweste, bekleidete Leichen aus dem Wasser gezogen wurden, wir hörten das schockierende Bekenntnis des Fahrers, der die Toten aus dem Kosovo forttransportieren sollte, um Verbrechen zu vertuschen. Damals brachte ein Belgrader Fernsehsender ein kurzes Interview mit einem Mann, der ungerührt in diesem wunderschönen See badete, aus dessen grünem Wasser man eben erst die Leichen gefischt hatte. Als ihn die Reporterin fragte, ob ihn das nicht störe, schüttelte dieser Simplicissimus den Kopf, während das Seewasser von ihm abtropfte. »Ehrlich gesagt, ich
glaube das alles gar nicht«, sagte er eiskalt in die Kamera, unschuldig zwinkernd, lakonisch lächelnd.
Stolz sprang er wieder ins Wasser. Verrückt, mag man denken. Aber das Gegenteil stimmt. Die Reaktion des Mannes ist vollkommen verständlich. Wir serbischen Bürgerinnen und Bürger haben ein Jahrzehnt brainwashing durch Politik und Medien hinter uns, ein Jahrzehnt der Lektion darüber, wie unaufhörliches Lügen dazu führen kann, dass jemand die eigenen Lügen glaubt. Der badende Mann bediente sich lediglich dieser Kunstfertigkeit, die man bei uns leicht erwerben konnte.
Leugnen ist eine der zentralen, neuen serbischen Qualitäten. So neu, dass wir nicht einmal über eine passende Bezeichnung dafür verfügen und es unter Aufgeklärten mit dem englischen Wort denial benennen.
Dieses denial, die Kälte angesichts menschlichen Leids, die Unfähigkeit, elementares Mitgefühl zu zeigen, beweist, dass wir als Gesellschaft im Nirgendwo stecken. Manchmal wirkt es, als wollten wir dem Strudel der Vergangenheit nicht entkommen. Die Frage nach dem Status des Kosovos und, mindestens ebenso wichtig, nach unserem künftigen Verhältnis zu den Kosovo-Albanern zählen zu den entscheidendsten überhaupt, an denen sich politisches Heranreifen beweisen könnte. Dass wir sie nicht konstruktiv angehen, hat tiefere Gründe. Die serbische Gesellschaft der Gegenwart ist politikverdrossen. Sie ist ermüdet von verlorenen Kriegen, erschöpft von
chronischer Armut und dem Gefühl, sich entweder als Opfer oder als Schuldige fühlen zu müssen, sie fürchtet Veränderungen und scheut Verantwortung.
Es ist also dafür gesorgt, dass unser Blick auf die Kosovo-Albaner aller Voraussicht nach noch lange unverändert bleibt. Dem tradierten Ressentiment hat sich lediglich der unterschwellige Groll des Verlierers zugesellt, der sich in Selbstmitleid Luft macht und sich mit der mystischen Idee paaren kann, immer im Recht zu sein. Ja, der unumgängliche »Verlust« der einstigen südserbischen Provinz Kosovo wird in gewissen Kreisen unserer Gesellschaft als geradezu apokalyptisch wahrgenommen. Unlängst war das Zentrum Belgrads mit Plakaten beklebt, die uns weismachen wollten: »Es gibt kein Serbien ohne Kosovo!« Wer das sagt, der lügt, was im Grunde viele wissen – denn trotz alledem wird evident, dass der Status des Kosovos eine zusehends marginale Rolle für den Alltag und die Sorgen der Serben hat. Im Grunde genommen scheinen viele Bürger, enttäuscht von allen Seiten, beschlossen zu haben, dass sie an gar nichts mehr glauben – ähnlich wie der badende Simplicissimus am See.
Aber was kann man von einer Generation erwarten, die in Krieg und Zerstörung aufgewachsen ist und mit der
Politik offenen Hasses gestillt wurde, die keine Visa erhält, um andere Länder, freiere, kennenzulernen?
Wohl nicht allzu viel, leider. Unsere jungen Leute von heute hassen wieder und ohne Hemmung, mit Leichtfertigkeit und Genuss. Umfragen unter Schülern lassen einem die Haare zu Berge stehen – und bestätigen Eindrücke aus dem Alltag. Über dreißig Prozent der serbischen Mittelschüler sind der Auffassung, man solle sich »mit Albanern weder anfreunden noch sie besuchen«. Fast ein Drittel der Jugendlichen meint, dass man den Chinesen – der einzigen relativ großen Gruppe von Ausländern in unserem Land – die Aufenthaltserlaubnis entziehen sollte, selbst wenn sie die Gesetze beachten. Gegenüber Homosexuellen und HIV-Infizierten zeigt
jeder dritte Jugendliche und jede zweite Jugendliche eine ausgesprochen ablehnende Haltung.
Erschreckend der Gedanke, mit welch morbidem Erfolg die zeitgenössische serbische Gesellschaft das Denken
und die Emotionen junger Menschen verunstalten. Vielleicht ist die Lösung stoisches Dulden und Abwarten. Vielleicht muss man einfach nur hoffen, dass eine neue, andere Generation unter ruhigeren und gesünderen Umständen aufwächst. Vielleicht bleibt uns wirklich nur noch zu glauben, dass erst unsere Enkelkinder unsere wahren Kinder sein werden.
Von Vladimir Arsenijević
Übersetzung aus dem Serbischen: Aleksandar Jakovlevic und Ana Andric
Vladimir Arsenijević wurde 1965 geboren. Seine preisgekrönten Bücher wurden in zahlreiche Sprachen
übersetzt. Er lebt in Belgrad.
DIE ZEIT Nr. 39 vom 20. September 2007
Manman man , wie lange ich diesen Text gesucht habe...
gruß
BELGRAD
Für alle Exjugoslawen, insbesondere aber für uns Serben, waren die Kosovo-Albaner einst vor allem »unsere Neger«. Inzwischen gelten sie als Serbiens Erzfeinde, und die nationalistischen Politiker meines Landes nutzen diesen Mythos bis in die aktuelle Gegenwart der Verhandlungen um die Zukunft der seit 1999 von den UN verwalteten südserbischen Provinz Kosovo skrupellos aus. Wer sich im Westen Europas fragt, wie all das geschehen konnte, dem kann ich antworten. Denn ich habe diese Geschichte in meinem Land gesehen und gehört.
Mein früheres Land, das ehemalige Jugoslawien, wies eine enorme ethnische und kulturelle Vielfalt auf. Marschall Josip Broz Tito beschwor diese Vielfalt als unseren jugoslawischen melting pot, doch in Wahrheit ist sie das nie gewesen. Nach Titos Tod wurde diese Vielfalt auf tragische Weise instrumentalisiert. Gesellschaftlich zerklüftet, gespalten in ethnische und kulturelle Subgruppen und außerdem geprägt durch eine Hierarchie wirtschaftlich überlegener wie unterlegener Landesteile, bewegte sich Jugoslawien nach Tito sprichwörtlich auf einer europäischen Vertikale.
Oben auf dieser Vertikale, im äußersten Norden, fand sich an der Grenze zu Österreich die am weitesten entwickelte Republik, Slowenien. Sie repräsentierte gewissermaßen das dauerhafte »Hoch« der damaligen
gemeinsamen Heimat. Weiter ging es dann über Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Serbien im Zentrum, bis hin zu Montenegro und Makedonien im äußersten Süden, dem chronischen »Tief« unseres damaligen Landes. »Je südlicher, desto betrüblicher« (»Što južnije, to tužnije«), so beschrieb der Volksmund die Stufenleiter des spezifisch jugoslawischen Rassismus, der stets gegen jene gerichtet war, die sich geografisch und ökonomisch unmittelbar »unter« einem befanden. So zeigten also die Slowenen ihre Verachtung für die Bauerntrampel, Faulenzer oder Versager der anderen Republiken am deutlichsten den Kroaten, die Kroaten ihrerseits gaben es den Serben, und diese wiederum machten sich mit Vergnügen über Mazedonier oder Montenegriner lustig. Bosnier, als Bewohner der zentralen jugoslawischen Republik, waren hingegen bestimmt zum Gegenstand allseitigen Gespötts.
Kosovo-Albaner – das waren für uns primitive Onkel Toms. Aber dann gab es da noch die Albaner der südserbischen Provinz Kosovo. Ihre Muttersprache war nicht slawisch geprägt. Sie waren ärmer als wir anderen. Ihre Kultur war uns weitgehend fremd. Im bunten Gemisch unterschiedlichster Jugoslawen waren sie als südlichste ethnische Gruppe dazu verurteilt, die Rolle des absoluten Außenseiters zu spielen.
Was wir anderen im ehemaligen Jugoslawien jemals über die Albaner zu wissen glaubten, war zusammengeklittert aus beleidigenden Klischees. Abfällig nannten wir sie im Alltag nur »Schiptaren«, also Skipetaren. Wenn wir die »Schiptaren« nicht offen gehasst haben, dann nur darum, weil wir sie nicht einmal unseres Hasses für würdig befanden. Zwischen »denen« und »uns« gab es selbst zu besten Zeiten keinen Dialog.
Kosovo-Albaner: Das waren für uns lauter primitive, sich klaglos schlagen lassende, allerhöchstens mitunter mal komisch wirkende Onkel Toms. Sie waren unsere Neger. So wenig aber die Anwesenheit der verachteten Albaner ins Bewusstsein des durchschnittlichen Jugoslawen der Tito-Zeit gedrungen war, so sehr erscheint der lässige Kultur-Rassismus von damals aus heutiger Perspektive geradezu harmlos, verglichen mit dem tätlichen, mörderischen Hass auf die »Schiptaren«, wie er die Serben nach dem Tod Titos und den ersten »Unruhen« im Kosovo am Ende des vergangenen Jahrhunderts ergriff. Besonders intensiv wurde dieses Ressentiment in der Phase der anschwellenden Nationalismen aller Republiken, während der serbischen Gewaltherrschaft Slobodan
Miloševićs und dessen unbarmherzigem Auseinanderreißen des gemeinsamen Staates. In den neunziger Jahren begannen auch Politiker und Medien den kolloquialen und abfälligen Begriff »Schiptaren« zu verwenden. Mehr und mehr gerannen diese zu unserem paranoiden Objekt. Mehr und mehr war von ihnen die Rede, als existierten sie allein aus dem Grund, uns Serben zu zermalmen und zu vernichten.
Zur Legende der unter Milošević reformierten Nachrichten gehörte auch ein historischer Mythos, der so oder ähnlich erscholl: »Einst gab es im Kosovo erheblich weniger Albaner als Serben. Mit den Jahren aber sind sie (durch ein nie gänzlich aufgeklärtes Wunder! V. A.) aus Albanien über die Grenzen eingedrungen und haben sich hier bei uns, vor unser aller Augen, einfach so mir nichts, dir nichts, angesiedelt.« Ausgestattet mit aus unserer Sicht geradezu viehischen Fähigkeiten, entwickelten sie die kollektive Beharrlichkeit von Termiten und vermehrten
sich überdies wie die Karnickel. Vor ihrer unkontrollierbaren Virilität und überaus hohen Geburtenrate fröstelte uns, man schüttelte sich vor Abscheu. Zugleich wurde öffentlich unablässig von jedem Serben eingefordert, sich zum Hass gegen »Schiptaren« zu bekennen. Wer diesen Hass nicht hegte, der dürfe sich in keinem Fall einen echten Serben nennen – und war wahrscheinlich auch keiner. So erklärte man die »Schiptaren« mittels der Propaganda serbischer Politik in der Ära Milošević und der sie stets stützenden Medien zum archetypischen Feind,
ohne den die Existenz der Serben wiederum selbst praktisch undenkbar war. Denn: Was wäre schon Batman
ohne seinen Joker? Nun waren die »Schiptaren« keine lächerlichen Onkel Toms mehr, ganz im Gegenteil. Sie
hatten sich verwandelt in furchterregende, gefährliche Dämonen, renitent und beharrlich in ihrer Absicht,
unsere historischen Territorien zu übernehmen, uns Serben Kosovo Polje, das Amselfeld, zu entreißen, »die
Wiege unserer Kultur«, unsere Mythen zu stehlen, uns zu rauben, was uns gemäß historischem Recht zustand.
Entschlossen mit diesen »Schiptaren« ein für alle Mal abzurechnen, fasste unser Präsident Milošević einen fantastischen Plan. In seinem obskuren Reich des Üblen, der Armut, des ethnischen Hasses und der Hyperinflation sollten Armee und Polizei mit Hilfe der Massenmedien ungestraft die Kosovo-Albaner diskriminieren und erniedrigen dürfen. Man durfte sie jetzt willkürlich entlassen oder verhaften, ihren Besitz brandschatzen und Familien und Dörfer auslöschen. Von jeglicher Verantwortung freigesprochen, bestärkt durch die Popularität in der Bevölkerung, setzte der Präsident seinen Plan jahrelang gewissenhaft in die Tat um, indem er Gewalt und Zerstörung zuerst ins Kosovo, dann aber über das ganze Territorium Jugoslawiens brachte. Nach dem Abkommen von Dayton im Dezember 1995 gab es eine kleine Feuerpause. Doch 1999 führte diese Spirale der Gewalt Milošević zum Schluss erneut dahin, wo alles begonnen hatte – zurück zum Kosovo. Es wurde für ihn auch zu dem Ort, an dem sein Ende eingeläutet werden sollte. Nach dreizehn Jahren der Destruktion. Als die Nato Ende März 1999 begann, Serbien-Montenegro, den hauptschuldigen Akteur, zu bombardieren, wurde zwar zusätzlich Infrastruktur zerstört, und es gab Hunderte ziviler Opfer. Doch es folgte darauf auch das Ende serbischer Staatsmacht in der Provinz Kosovo. Zugleich setzte an diesem unglückseligen Ort ein Rollenwechsel zwischen Opfer und Täter ein. Es kam zum Exodus Tausender von Serben und Roma, zum rachsüchtigen Wüten der »Sieger«, und noch einmal sollten die Opfer fast ausschließlich unschuldige Zivilisten sein. Aus war es mit der
Hoffnung, dass in absehbarer Zeit ein Leben miteinander, Normalität zwischen ganz gewöhnlichen Menschen, Serben und Albanern, möglich wäre.
Unsere jungen Leute hassen wieder mit Leichtfertigkeit und Genuss Derart listig hatte Milošević sein Spiel betrieben, dass nur eine Sorte Epilog möglich war. Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Exjugoslawien in Den
Haag. Allerdings gelang es Milošević, dem Ort potenzieller Gerechtigkeit zu entfliehen, wenn auch nur durch seinen Herztod. Er hat sich dem Recht entzogen und uns die Frage nach der Schuld hinterlassen. Nicht zuletzt deshalb belasten Schuld und Scham uns alle, die Bürger Serbiens, ob wir das akzeptieren oder nicht.
Vor wenigen Jahren berichteten die serbischen Medien monatelang von Massengräbern, deren Tote die Forensiker als Kosovo-Albaner identifizierten. Zu den vielleicht erschütterndsten Bildern gehörte das eines
Kühllastwagens, aus dessen Heck ermordete kosovo-albanische Frauen, Kinder und Greise geborgen wurden, nahe der Mündung des Flusses Derventa in den Perucac-See. Auf dem Bildschirm sahen wir, wie halbverweste, bekleidete Leichen aus dem Wasser gezogen wurden, wir hörten das schockierende Bekenntnis des Fahrers, der die Toten aus dem Kosovo forttransportieren sollte, um Verbrechen zu vertuschen. Damals brachte ein Belgrader Fernsehsender ein kurzes Interview mit einem Mann, der ungerührt in diesem wunderschönen See badete, aus dessen grünem Wasser man eben erst die Leichen gefischt hatte. Als ihn die Reporterin fragte, ob ihn das nicht störe, schüttelte dieser Simplicissimus den Kopf, während das Seewasser von ihm abtropfte. »Ehrlich gesagt, ich
glaube das alles gar nicht«, sagte er eiskalt in die Kamera, unschuldig zwinkernd, lakonisch lächelnd.
Stolz sprang er wieder ins Wasser. Verrückt, mag man denken. Aber das Gegenteil stimmt. Die Reaktion des Mannes ist vollkommen verständlich. Wir serbischen Bürgerinnen und Bürger haben ein Jahrzehnt brainwashing durch Politik und Medien hinter uns, ein Jahrzehnt der Lektion darüber, wie unaufhörliches Lügen dazu führen kann, dass jemand die eigenen Lügen glaubt. Der badende Mann bediente sich lediglich dieser Kunstfertigkeit, die man bei uns leicht erwerben konnte.
Leugnen ist eine der zentralen, neuen serbischen Qualitäten. So neu, dass wir nicht einmal über eine passende Bezeichnung dafür verfügen und es unter Aufgeklärten mit dem englischen Wort denial benennen.
Dieses denial, die Kälte angesichts menschlichen Leids, die Unfähigkeit, elementares Mitgefühl zu zeigen, beweist, dass wir als Gesellschaft im Nirgendwo stecken. Manchmal wirkt es, als wollten wir dem Strudel der Vergangenheit nicht entkommen. Die Frage nach dem Status des Kosovos und, mindestens ebenso wichtig, nach unserem künftigen Verhältnis zu den Kosovo-Albanern zählen zu den entscheidendsten überhaupt, an denen sich politisches Heranreifen beweisen könnte. Dass wir sie nicht konstruktiv angehen, hat tiefere Gründe. Die serbische Gesellschaft der Gegenwart ist politikverdrossen. Sie ist ermüdet von verlorenen Kriegen, erschöpft von
chronischer Armut und dem Gefühl, sich entweder als Opfer oder als Schuldige fühlen zu müssen, sie fürchtet Veränderungen und scheut Verantwortung.
Es ist also dafür gesorgt, dass unser Blick auf die Kosovo-Albaner aller Voraussicht nach noch lange unverändert bleibt. Dem tradierten Ressentiment hat sich lediglich der unterschwellige Groll des Verlierers zugesellt, der sich in Selbstmitleid Luft macht und sich mit der mystischen Idee paaren kann, immer im Recht zu sein. Ja, der unumgängliche »Verlust« der einstigen südserbischen Provinz Kosovo wird in gewissen Kreisen unserer Gesellschaft als geradezu apokalyptisch wahrgenommen. Unlängst war das Zentrum Belgrads mit Plakaten beklebt, die uns weismachen wollten: »Es gibt kein Serbien ohne Kosovo!« Wer das sagt, der lügt, was im Grunde viele wissen – denn trotz alledem wird evident, dass der Status des Kosovos eine zusehends marginale Rolle für den Alltag und die Sorgen der Serben hat. Im Grunde genommen scheinen viele Bürger, enttäuscht von allen Seiten, beschlossen zu haben, dass sie an gar nichts mehr glauben – ähnlich wie der badende Simplicissimus am See.
Aber was kann man von einer Generation erwarten, die in Krieg und Zerstörung aufgewachsen ist und mit der
Politik offenen Hasses gestillt wurde, die keine Visa erhält, um andere Länder, freiere, kennenzulernen?
Wohl nicht allzu viel, leider. Unsere jungen Leute von heute hassen wieder und ohne Hemmung, mit Leichtfertigkeit und Genuss. Umfragen unter Schülern lassen einem die Haare zu Berge stehen – und bestätigen Eindrücke aus dem Alltag. Über dreißig Prozent der serbischen Mittelschüler sind der Auffassung, man solle sich »mit Albanern weder anfreunden noch sie besuchen«. Fast ein Drittel der Jugendlichen meint, dass man den Chinesen – der einzigen relativ großen Gruppe von Ausländern in unserem Land – die Aufenthaltserlaubnis entziehen sollte, selbst wenn sie die Gesetze beachten. Gegenüber Homosexuellen und HIV-Infizierten zeigt
jeder dritte Jugendliche und jede zweite Jugendliche eine ausgesprochen ablehnende Haltung.
Erschreckend der Gedanke, mit welch morbidem Erfolg die zeitgenössische serbische Gesellschaft das Denken
und die Emotionen junger Menschen verunstalten. Vielleicht ist die Lösung stoisches Dulden und Abwarten. Vielleicht muss man einfach nur hoffen, dass eine neue, andere Generation unter ruhigeren und gesünderen Umständen aufwächst. Vielleicht bleibt uns wirklich nur noch zu glauben, dass erst unsere Enkelkinder unsere wahren Kinder sein werden.
Von Vladimir Arsenijević
Übersetzung aus dem Serbischen: Aleksandar Jakovlevic und Ana Andric
Vladimir Arsenijević wurde 1965 geboren. Seine preisgekrönten Bücher wurden in zahlreiche Sprachen
übersetzt. Er lebt in Belgrad.
DIE ZEIT Nr. 39 vom 20. September 2007
Manman man , wie lange ich diesen Text gesucht habe...
gruß