Kroatien - Ein ökonomischer Versager
Die Europäische Union beginnt Beitrittsgespräche mit Kroatien – ein unerklärlicher Fehler meint der Balkan-Experte Wolf Oschlies. Die Wirtschaftsdaten des kleinen Landes an der Südgrenze der EU sprächen eine deutliche Sprache: Kroatien steuert auf eine allseitige Rezession zu.
Von Wolf Oschlies
EM 10-05 · 31.10.2005
Unfähig und unwillig zu Reformen
Vor allem aber hat der Rummel verhindert, Kroatien als einen Staat zu erkennen, der für alle Reformen, die die EU von Beitrittskandidaten fordert, unfähig und unwillig ist und in dieser Blockadehaltung bis hin zum ökonomischen Kollaps verharrt.
Kroatien ist mit 56.538 Quadratkilometern und knapp 4,5 Millionen Einwohnern an Fläche und Volk mehr als doppelt so groß wie Slowenien (20.273 Quadratkilometer, 1,9 Millionen Einwohner). Im ökonomischen Vergleich aber kehrt sich das Bild um. Es zeigt ein starkes Slowenien, das seit Mai 2004 als bislang einziger Nachfolgestaat Jugoslawiens Mitglied in der EU ist, und ein chronisch krankes Kroatien, das erst 2004 wieder sein Wirtschaftsniveau von 1989 erreichen konnte. Aber auch dieses wird Zagreb infolge stark rückläufiger Wachstumsraten vermutlich nicht halten können.
Das relativ große Kroatien hinkt in allen Wirtschaftsdaten kläglich hinter seinem kleinen Nachbarn im Norden hinterher. In den ersten fünf Monaten im Jahr 2005 hat Slowenien Exporte im Wert von 5,7 Milliarden Euro getätigt, Kroatien nur für 2,6 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum importierte Slowenien für 5,9, Kroatien für 5,7 Milliarden Euro. Mit anderen Worten: Der Außenhandel ist für Slowenien eine ausgeglichene Sache und damit Motor für die Entwicklung des kleinen Industrielandes. Für Kroatien ist er die Quelle eines gefährlich wachsenden Defizits, zumal sein Export etwa auf dem Niveau von Mitte der 1980er Jahre stagniert.
Kroatiens Industriepotential ist in den vergangenen 15 Jahren um 40 Prozent zurückgegangen und generell veraltet – das slowenische hat sich vergrößert, vor allem aber modernisiert. Slowenien betreibt eine flexible Währungspolitik, die heimische Waren auf dem slowenischen Markt mit Importgütern konkurrieren läßt. Kroatien hält seit dem Herbst 1993 an seiner um rund 30 Prozent überbewerteten „Kuna“fest, die Exporte „bestraft“, Importe „belohnt“. Importierte Waren sind auf dem einheimischen Markt dadurch billiger als eigene Produkte. Der kroatische Botschafter in Bonn war in den neunziger Jahren ein Wirtschaftswissenschaftler, der die Kuna-Überbewertung als „Währungsstabilisierung“ verteidigte. Im Jahr 2001 charakterisierte der inzwischen pensionierte Diplomat sie als das, was sie ist: monetärer Unsinn mit verheerenden Folgen.
Kroatien wäre der „unterentwickeltste Teil“ der EU
Slowenien hat sein BIP in den letzten Jahren um 40 Prozent gesteigert – Kroatien konnte, wie erwähnt, erst jüngst an seine Leistungen von 1989 anknüpfen.
Das slowenische BIP betrug 14.500 Euro per capita im Jahr 2004 (75 Prozent des EU-Durchschnitts), das kroatische kam lediglich auf 6.220 Euro (38 Prozent). Der Import-Export-Saldo lag in den ersten fünf Monaten des Jahres 2005 für Slowenien bei 96 Prozent, für Kroatien bei 47 Prozent. Dieses gefährliche Mißverhältnis ist sogar noch geschönt, da in ihm Einnahmen aus dem Tourismus berücksichtigt werden. Tatsächlich stehen diese aber nur auf dem Papier, weil Staatskassen von ihnen kaum noch profitieren: Die besten Hotels sind in ausländischem Besitz, während kroatische Anbieter sich meist im „grauen“ Bereich bewegen und so gut wie keine Steuern zahlen.
In Slowenien beträgt die Arbeitslosigkeit 10 Prozent, in Kroatien offiziell 18 Prozent – dieser Wert ist jedoch das Ergebnis statistischer Tricks. Die tatsächliche Rate ist mit Sicherheit deutlich höher.
Die Auslandsverschuldung Sloweniens beträgt 54 Prozent des BIP, im Falle Kroatiens sind es 83 Prozent. Das slowenische Budget ist seit Jahren nahezu ausgeglichen, die Kroaten konnten Mitte Juli ihr Haushaltsdefizit erst nach umständlichen Rechenoperationen auf 6,8 Prozent des BIP drücken. Die Devisenreserven der slowenischen Staatsbank liegen um 500 Millionen Euro über denen der kroatischen.
Dennoch meint der kroatische Politiker Boris Vujcic: „Kroatien könnte gemäß seiner jetzigen Wirtschaftslage bereits in der EU sein. Hinsichtlich seiner ökonomischen Entwicklung gehört Kroatien zu der Gruppe Länder, die der EU bereits beigetreten sind.“ Und so einer ist stellvertretender Verhandlungsführer Kroatiens in Brüssel! Warum nahm man nicht den Wirtschaftsexperten Ivo Jakovljevic, dessen Analyse in der Tageszeitung „Novi list“ (6.10.2005) unerbittlich ist: „Würde Kroatien morgen früh vollwertiges EU-Mitglied, dann wäre es dessen unterentwickeltster Teil und eine Zusatzbelastung für Brüsseler Kassen – etwa so wie das Kosovo in Ex-Jugoslawien.“
Das Gros der EU-Länder will Kroatien nicht aufnehmen
Warum drängt Kroatien eigentlich in die EU? Der Großteil der EU-Länder will Kroatien kaum haben, nur in Schweden (68%), Griechenland (58%) und Deutschland (51%) stößt der Beitritt des Landes auf Zustimmung. In anderen Staaten wird eine EU-Mitgliedschaft Kroatiens nur von einer Minderheit befürwortet: Niederlande (40%), Frankreich (42%), Österreich (46%), Finnland und Luxemburg (je 49%). Dabei ist das europäische Votum noch freundlich – verglichen mit der kroatischen Vox populi zur EU. Laut einer Repräsentativ-Umfrage von Anfang September würden 50,1 Prozent aller Kroaten, „wenn heute ein Referendum für oder gegen einen EU-Beitritt Kroatiens wäre“, dagegen stimmen! 9,5 Prozent waren noch unentschieden. Nur rund 40 Prozent befürworteten einen EU-Beitritt ihres Landes. Als Anfang Oktober das positive Urteil aus Brüssel vorlag, stieg dieser Wert zwar um 10 Prozent an, lag aber immer noch bei mageren 50,7 Prozent. 40,9 Prozent verneinten, daß „Kroatien bereit ist, sich in den nächsten zwei, drei Jahren den EU-Standards anzupassen“, 55,9 Prozent erwarteten, daß „Kroatien bis 2009 vollberechtigtes EU-Mitglied werden wird.“
Nicht wenige kroatische Kommentatoren wundern sich über die Entschlossenheit der kroatischen Regierungen seit 2000, also seit dem Sturz des nationalistischen, kriegerischen Tudjman-Regimes, mit aller Macht und größter Eile in die EU zu kommen. In diesem Eifer haben die Machthaber so viel Zeit mit Antichambrieren vergeudet, daß für konstruktive Politik kaum etwas übrig blieb. Und das ständige Insistieren auf der Losung „Für Kroatien gibt es keine Alternative zur EU“ hat in der Bevölkerung so etwas wie eine Stampede verursacht: Wir mögen die EU zwar nicht, aber hinein wollen wir!
Wer so etwas als infantil ansieht, mag Recht haben, sofern er berücksichtigt, daß die aktuelle kroatische Politik von identischem Zuschnitt ist. Seit November 2003 ist die nationalistische Tudjman-Bewegung „Kroatische Demokratische Union“ (HDZ) wieder an der Macht, ihr Vorsitzender Ivo Sanader amtiert als Premier. Er weiß natürlich, daß die jetzt anstehenden „Verhandlungen“ keine sind, sondern eine harsche Vergatterung des Landes auf die Verpflichtungen, die ein EU-Beitritt nach sich zieht.
„Xenophobe Isolationisten“
Aber das alles interessiert die Kroaten und ihren Regierungschef nur am Rande. Am wichtigsten ist es ihnen, die Verpflichtung zu vermeiden, kroatische Immobilien auch an fremde Staatsangehörige verkaufen zu müssen. Auf der Halbinsel Istrien, wo seit Jahren ganze Dörfer von Ausländern besiedelt sind, läuft derzeit die lärmende Kampagne „Cije je moje?“ (Wem gehört Meins?). In Umfragen haben sich 74 Prozent der Kroaten gegen solche Verkäufe ausgesprochen. Einen Effekt wird so etwas nicht haben, denn was in Kroatien etwas taugt – Banken, Teile des Handels- und Mediennetzes, Pharmazie, Immobilien, Hotels etc. –, gehört längst Ausländern. Sie haben daraus erst etwas gemacht. Und was gar Istrien betrifft, so scheint die Kampagne eine große Heuchelei zu sein. Die Halbinsel verzeichnet derzeit einen Boom an Immobilienverkäufen: Im Jahr 2005 sind im Vergleich zum Vorjahr 29,2 Prozent mehr Grundstücke an Ausländer verkauft worden. Tendenz steigend.
Kroaten sind xenophobe Isolationisten, rügte der Kommentator Miomir Strbac in der Tageszeitung „Slobodna Dalmacija“. Sie meinen, „daß es für uns viel besser wäre, Barrikaden gegen fremde Investoren zu errichten und selber die profitablen Früchte eigener Werke und Banken zu ernten. Denn unsere Leute sind doch nicht unfähiger als die Ausländer“. Aber sie sind es doch, fährt Strbac fort. Schließlich seien die kroatischen Banken und Werke jahrelang im Besitz von Kroaten gewesen und hätten nur Milliardenverluste produziert. Profitabel seien sie erst geworden, als sie in den Besitz von Ausländern kamen. Seit 93 Prozent aller kroatischen Banken „und fast das ganze nationale Sparaufkommen“ in ausländischem Besitz sind, könne man in diesem Wirtschaftsbereich wieder von Gewinn reden.
Ganz ähnlich ist es mit anderen Bereichen, die Ausländer nach anderthalb Jahrzehnten kroatischer Erfolglosigkeit auf Profitkurs brachten. Gegen den Profit haben die Kroaten nichts, das fremde Türschild aber empfinden sie als nationale Schande. Die Folgen hat unlängst eine österreichische Bank berechnet: Kroatien benötigt zur Stabilisierung seiner Zahlungsbilanz ausländische Investitionen von 150 bis 200 Millionen Euro
pro Quartal – derzeit bekommt es nur 100 bis 150 Mio. Euro
im Jahr!
Kroatische Bauern müßten den höchsten Preis für einen EU-Beitritt zahlen
Das kroatische Verhandlungsteam unter Vladimir Drobnjak wird versuchen, im
acquis communautaire der EU mit seinen weit über 40.000 Paragraphen „Ausnahmeregelungen“ für Interessengruppen im eigenen Land zu fixieren – für istrische Grundstückbesitzer beispielsweise und für kroatische Landwirte. Letztere können einem jetzt schon leid tun, ob die Ausnahmeregelungen Wirklichkeit werden oder nicht. Denn die kroatischen Bauern sind an staatliche Subventionen gewöhnt, die künftig im Zeichen der Marktwirtschaft kräftig zurückgestutzt werden, und sie sind nicht an die hohen EU-Standards für Hygiene bei Nahrungsmitteln und Ökologie in der Landschaft gewöhnt, die unweigerlich auf sie zukommen. Die Folgen sind absehbar: Die kroatischen Bauern werden den höchsten Preis für die EU-Mitgliedschaft zahlen, Höfe müssen aufgegeben werden, ungezählte Arbeitsplätze verloren gehen.
Dennoch haben sich die kroatischen Bauern als unerwartete Realisten erwiesen, bekundete Kolinda Grabar-Kitarovic, kroatische Ministerin für auswärtige Angelegenheiten und Europa-Fragen: Sie wissen, daß ihnen die EU-Integration Kroatiens sehr viel abverlangen wird, sind aber beileibe nicht euroskeptischer als andere Bevölkerungsgruppen. Eben dieses Wissen läßt sie gelassen reagieren: Nur die Anfänge werden hart sein, dann geht es uns bald besser – wie den polnischen oder den tschechischen Bauern, unter denen die Euroskepsis vor dem EU-Beitritt ihrer Länder am stärksten war. Inzwischen aber beziehen sie befriedigt höhere Einkommen und registrieren verbesserte Perspektiven für die Landwirtschaft generell. Das zuständige kroatische Ministerium hat diesen Stimmungswandel mit eigenen Umfragen erkundet – und die unveränderte Anti-Stimmung derer, die vergleichbare Einsichten nicht haben.
Neven Mimica, Ex-Europaminister und heutiger Chef des „Komitees für Eurointegration“ im kroatischen Sabor (Parlament), machte auf einen Umstand aufmerksam, den außer ihm wohl noch niemand bedacht hat: Kroatien hat es mit der auf 25 Mitgliedsstaaten erweiterten EU zu tun. Von den neuen Mitgliedern erstritten einige mit viel Mühe ein paar Ausnahmeregelungen für sich – Malta 70, Polen 40, Litauen 30. Alle wollten mehr, aber generell ist das Thema ausgereizt. Brüssel wird Kroatien überhaupt keine Ausnahmen mehr konzedieren. Dazu Mimica: Die neuen EU-Länder, „die noch nicht ihre Traumata aus dem Verhandlungsprozeß verschmerzt haben“, werden nicht bereit sein, dem Neuling von der Adria auch nur eine Erleichterung zu geben, um die sie sich vergeblich bemühten.
Premier Ivo Sanader: ein Virtuose in Verheißungen
Mit der Partikel ce wird im Serbokroatischen das Futur gebildet, die beliebteste Aussageform notorischer Nichtskönner. Die früheren Kommunisten erwiesen sich als wahre Meister in Verheißungen, was alles sein werde, wenn erst einmal die aktuellen Schwierigkeiten überwunden sein werden. Auch Ivo Sanader ist ein Virtuose auf der Ce-Taste. Vor zwei Jahren erklärte er noch in der Nacht nach seinem Wahlsieg, daß er sich natürlich weiter um eine Integration in NATO und EU bemühen werde. Vorrang aber hätten ökonomische Leistungen, etwa die Verdoppelung des BIP, die Hebung der Kaufkraft kroatischer Familien etc.
Sanaders HDZ ist nicht mehr die alte Tudjman-Partei. Nach Ansicht der Politologin Mladenka Saric hat diese „Ende des 20. Jahrhunderts mit ihrem räuberischen Privatisierungskonzept den kroatischen Reichtum vernichtet, die Wirtschaft wertlos gemacht und den kroatischen Menschen erniedrigt.“ Gewiß hat Sanader die HDZ reformiert, da er anderenfalls nicht einmal in die Nähe eines EU-Beitritts gekommen wäre. Aber das Tudjman-Erbe wiegt so schwer, daß es (noch) nicht zu schultern ist. Bislang hat Sanader keines seiner Wirtschaftsversprechen einlösen können, weil er sich ausschließlich um die EU-Integration kümmerte: Diese erwies sich als der geeignetste Weg, der kroatischen Gesellschaft das Bild des erfolgreichen Staatsmannes Ivo Sanader vorzugaukeln.
Gäbe es morgen in Kroatien Parlamentswahlen, würde die HDZ diese rundum verlieren. 31 Prozent der Kroaten gaben bei jüngsten Umfragen an, sie seien mit der Regierung „potpuno nezadovoljno“ (völlig unzufrieden), 63 Prozent waren „wenig oder mäßig zufrieden“. Der Verhandlungsbeginn mit der EU hat die Umfrageergebnisse gewiß noch etwas verbessert zu Gunsten der HDZ. Aber mehr als einen unverbindlichen Prestigeerfolg wollten die Kroaten ihrem Premier nicht gutschreiben. Ihre wirklich drückenden Sorgen bestehen nach wie vor: hohe Arbeitslosigkeit, starkes Anwachsen bewaffneter Kriminalität, Korruption im Staatsapparat, schlechte Wirtschaftslage, Auslandsverschuldung, Rentner-Elend.
Schiffsbau und Eisenbahn sind am Ende
Sofort am ersten Tag der EU-Verhandlungen wurde Kroatien ins Aufgabenheft geschrieben, sechsmal mehr für Wissenschaft und Forschung auszugeben als es das bisher tat. Und das ist erst der Anfang. Ende Oktober mußte Kroatien in Brüssel den nahezu vollständigen Zusammenbruch seine Schiffsbaus – einst eine „Goldgrube“ – eingestehen. Mit Milliarden-Investitionen kann er frühestens 2010 wieder konkurrenzfähig sein. Selbst wenn Kroatien diese Mittel hätte, dürfte es diese nicht einsetzen, da Brüssel strenge Sätze für Staatssubventionen hat. Vermutlich noch höhere Subventionen werden die kroatischen Eisenbahnen erfordern, die so marode sind, daß Eisenbahner bereits Wetten abschließen, wann welcher Zug entgleist – sagt Nenad Mrgan, Chef der Gewerkschaft kroatischer Lokführer.
Die Sanader-Regierung liegt seit ihrem Amtsantritt im Clinch mit den kroatischen Rentnern, bei denen sie immense Schulden hat, die sie erst jetzt zögernd zurückzahlt. Auf der anderen Seite hat sie keine Bedenken, den „Verteidigern“ aus dem „Vaterländischen Krieg“ – gemeint sind die 370.000 Soldaten, die der Diktator Tudjman Anfang der 1990er Jahre aufbot, um den von ihm zusammen mit Milosevic losgetretenen Krieg zu führen – immer neue Privilegien zuzuschanzen. Warum? Weil die HDZ keine Angst vor Rentnern, aber große vor „Verteidigern“ hat. Letztere sind schon seit Jahren dabei, sich in politische Desperados zu verwandeln und im Verbund mit nationalistischen Parteien soziale Unruhen zu schüren.
In Kroatien bestehen zwei Optionen für die Zukunft des Landes und seine EU-Integration. Die eine ist die optimistisch-politische, wonach „das Schwerste bereits hinter uns liegt“ und bis spätestens 2009 mit der vollen Mitgliedschaft gerechnet werden kann. Die andere Option ist die realistisch-technische. Gemäß ihr liegt „das Schwerste noch vor uns“ und das Land tritt erst 2015 der EU bei. Die Verfechter, die diese Entwicklungsmöglichkeit für wahrscheinlich halten, haben eine einfache aber gnadenlose Sichtweise auf die Wirklichkeit: Kroatiens Wirtschaft liegt derzeit bei 46 Prozent des EU-Durchschnitts, womit es nicht mit einem EU-Beitritt rechnen kann. Erforderlich sind mindestens 60 Prozent, optimal 70 Prozent. Beide Raten sind nicht zu erreichen mit einer Fiskal- und Privatisierungspolitik, die Industrie und Export vernachlässigt. Wenn die
Kuna nicht wenigstens um 20 Prozent abgewertet wird, ändert sich daran auch nichts.
Kroatien steuert auf eine Rezession zu
In dieser verfahrenen Lage sind einmal mehr die Ce-Herolde aktiv. Bereits Anfang August verabschiedete die Regierung eine „Richtlinie für die Wirtschafts- und Fiskalpolitik bis 2008“, die ein frappantes Zeugnis politischer Realitätsverdrängung ist: Angestrebt werden u.a. über vier Prozent Wirtschaftswachstum jedes Jahr, ein Anstieg des BIP
per capita auf 8.250 Euro und die Senkung der Auslandsverschuldung auf unter 80 Prozent des BIP. Das alles mutet wie Pfeifen im dunklen Walde an. Denn die Kaufkraft der Kroaten ist gefallen, ein Durchschnittseinkommen reicht gerade für 38 Prozent des Verbraucherkorbs einer Familie. Das Wirtschaftswachstum fiel von 5,2 Prozent (2002) über 4,3 Prozent (2003) und 3,0 Prozent (2004) auf gegenwärtig 1,5 Prozent.
Ein Drittel aller Kroaten sind nach offiziellen Kriterien „arm“ und 70 Prozent von ihnen fühlen sich subjektiv als arm. Das Außenhandelsdefizit liegt im Jahr 2005 bei 7,4 Milliarden Euro, die Auslandsverschuldung bei 83,2 Prozent des BIP. Die Staatsinvestitionen gingen von 17 Prozent (2003) auf 4,4 Prozent (2004) zurück. Die Beschäftigungslosigkeit wird nur mit allerlei statistischen Tricks unterhalb der mental wichtigen Rate von 400.000 Arbeitslosen gehalten, liegt aber deutlich darüber. Zudem arbeiten 400.000 Kroaten „schwarz“, was dem Staat jährliche Steuerverluste von ca. 15 Milliarden Kuna bringt. Die Industrieproduktion stieg bei den zehn neuen EU-Mitgliedern im Jahr 2004 um zehn Prozent, in Kroatien um 3,7 Prozent, wozu im ersten Quartal 2005 nur magere 0,2 Prozent kamen. Über den technologischen Rückstand der kroatischen Industrie ist damit aber noch nichts gesagt. Kroatien steuert auf eine allseitige Rezession zu.
Sanader verschleiert die hohe Schuldenlast
Ein schmerzliches Thema ist die immense Verschuldung der Republik Kroatien, deren Kontrolle der Internationale Währungsfonds (IMF) schon mehrfach vergeblich anmahnte. Sie ist seit Jahren höher als die Gesamtschuld des notorisch klammen Ex-Jugoslawiens. Und sie steigt noch immer rapide: Von elf Milliarden US-Dollar Ende 2000 auf 33 Milliarden US-Dollar Ende April 2005. Im Jahr 2003 gewann die HDZ die Wahlen u.a. deswegen, weil sie der Koalitionsregierung unter Ivica Racan vorwarf, sie habe die Schulden auf 23 Milliarden US-Dollar hochgetrieben. Doch auch der Wahlsieger Sanader hat die Schuldenlast weiter angehoben, was er vor der Öffentlichkeit mit einer „obmana“ (Betrügerei) verschleiert, wie Wirtschaftsexperte Branko Podgornik meint. Man gebe die Schulden in Kuna, Dollar oder Euro an, je nachdem ob man sie höher oder niedriger aussehen lassen will, so daß am Ende niemand mehr durchblicke. Details wird man zum Jahresende erfahren, wenn Kroatien voraussichtlich nicht einmal mehr den Schuldendienst bewältigt, geschweige denn die Rückzahlungen.
Kroatien scheint kein Gefühl für Art und Umfang von Schulden zu haben. Beispielsweise hat sich der Import zwischen 2000 und Ende 2004 von 10 Milliarden US-Dollar auf 20 Milliarden verdoppelt und steigt weiter mit Jahresraten von 15 bis 30 Prozent. Dahinter steht die ungebremste Lust von Staat und Gesellschaft, sich mittels Krediten zu verschulden, woher man diese auch immer bekommen kann. Die Kroaten sind, so eine besorgte Warnung der Kroatischen Nationalbank (HNB) vom Juli 2005, „gefährlich verschuldet“: Ihre Verschuldungsrate stieg im Vergleich zu ihren Einkommen von 52,7 Prozent im Jahr 2001 auf 95 Prozent, im Vergleich zu ihren Spareinlagen von 69,4 Prozent auf 115 Prozent.
Weiß die EU von diesen Daten? Wenn ja, wie konnte sie ein derart bankrottes Land überhaupt mit dem Beginn von Beitrittsgesprächen adeln? Wenn nein, warum hat sie sich nicht besser informiert? In Kroatien gibt es noch ausreichend Medien und Analytiker, die ein ungeschminktes Bild ihres Landes zeichnen. Ihre Urteile werden sogar zunehmend schärfer, da Kroatien durch ignorante, arrogante und illusionäre Politiker an den Rand des Abgrunds gesteuert wird.
*
Der Autor: Prof. Dr. Dr. h.c. Wolf Oschlies (geb. 1941) ist Osteuropa- und Balkanexperte und lehrt an der Universität Gießen.