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Vor 100 Jahren verkündete die österreichisch-ungarische Monarchie offiziell die Annexion von Bosnien-Herzegowina – dadurch erreichte eine lang schon schwelende Krise ihren Höhepunkt
[h1]Landnahme auf dem Balkan[/h1]
Österreichische Soldaten in Bosnien-Herzegowina, Fotografie von A. Rickert, Sarajewo 1908. Foto: aus Peter Csendes (Hg.): Das Zeitalter Kaiser Franz Joseph I., Brandstätter Verlag, Wien.
Von Franz Schausberger
Vor 130 Jahren besetzte Österreich-Ungarn die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina, vor 100 Jahren wurde das Gebiet von der k.u.k. Monarchie annektiert, allerdings nur für ein Jahrzehnt. Grund genug, sich dieser historischen Ereignisse zu erinnern, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.
In den Jahren 1875/76 hatte die Orientkrise einen Höhepunkt erreicht. Aufstände in Bosnien und Bulgarien gegen die osmanische Herrschaft hatten zum Krieg Serbiens und Montenegros gegen das Osmanische Reich geführt, das den Sieg davontrug. Daraufhin trat das russische Zarenreich, das sich als Schutzmacht der orthodoxen Slawen auf dem Balkan verstand, in den Krieg ein und schlug die osmanischen Truppen. Russland zwang nun den osmanischen Sultan am 3. März 1878 zur Unterzeichnung des Friedensvertrages von San Stefano. Das Osmanische Reich musste die volle Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros anerkennen, außerdem sollte ein großer bulgarischer Staat geschaffen werden, der im Süden bis an die Ägäis und im Westen bis an den Ohridsee reichen sollte. Das wurde vor allem von Österreich und Großbritannien abgelehnt, da Russland bestrebt war, die Vorherrschaft auf dem Balkan und einen direkten Zugang zum Mittelmeer zu erlangen.
Der Kongress in Berlin
Zur Korrektur des Friedens von San Stefano schlug der Außenminister Österreich-Ungarns, Gyula Andrássy, einen diplomatischen Kongress unter deutscher Vermittlung vor, weil Deutschland als einzige Großmacht keine eigenen Interessen auf dem Balkan verfolgte.
Auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck trafen sich die europäischen Diplomaten am 13. Juni 1878 in Berlin. Sie tagten genau einen Monat lang. Die volle Souveränität Serbiens, Rumäniens und Montenegros wurde bestätigt. Der neue bulgarische Staat wurde mit gewissen Einschränkungen seiner Souveränität auf das Gebiet zwischen der unteren Donau und dem Balkangebirge beschränkt. Makedonien wurde wieder dem Osmanischen Reich unterstellt und blieb bis 1912 dessen zentrale europäische Provinz. Serbien erhielt Gebietserweiterungen an seiner Südgrenze, Montenegro wurde um mehr als ein Drittel seiner Fläche vergrößert.
Rumänien erhielt die Dobrudscha mit dem Schwarzmeerhafen Constanta zugesprochen und trat dafür Gebiete im südlichen Bessarabien an Russland ab. Die russischen Gebietsgewinne in Transkaukasien wurden bestätigt. Großbritannien erhielt Zypern als Flottenbasis.
Um den russischen Machtzuwachs auf dem Balkan auszugleichen – Bulgarien wurde nicht zu Unrecht als Vasall des Zarenreiches angesehen –, wurde Österreich-Ungarn unter dem Protest der Hohen Pforte und zum Missfallen Serbiens die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Stationierung von Truppen im Sandschak von Novi Pazar zugestanden. Dieses islamisch geprägte Gebiet zwischen Zentralserbien und Montenegro bildete eine "Brücke" zwischen den Moslems von Bosnien und Herzegowina und jenen im Kosovo. Allerdings verblieben diese Gebiete formal und offiziell unter der Oberhoheit des Osmanischen Reiches. Eine Konstruktion, die auf Dauer nicht gut gehen konnte.
Russlands Niederlage
Russland erlitt in Berlin eine diplomatische Niederlage, da es weder seine politischen Vorstellungen von Südosteuropa durchsetzen konnte, noch den ersehnten direkten Zugang zum Mittelmeer erhielt. Die Rivalität Österreichs und Russlands auf dem Balkan wuchs an, und auch das deutsch-russische Verhältnis verschlechterte sich, da Russland das ungünstige Verhandlungsergebnis nicht zuletzt dem Wirken Bismarcks anlastete. Das Bündnis zwischen den drei europäischen Kaiserreichen zerbrach schließlich. Deutschland schloss 1879 mit Österreich-Ungarn den Zweibund, während Russland sich Frankreich annäherte.
Für Österreich-Ungarn war der Berliner Kongress jedoch nur vordergründig ein Erfolg. Nicht nur hatten sich die Beziehungen zu Russland und Serbien (das sich damals, wie so oft in der Geschichte, von seinem großen Verbündeten Russland im Stich gelassen fühlte) entscheidend verschlechtert, es ergaben sich auch große innenpolitische Probleme aufgrund der Besetzung Bosnien-Herzegowinas.
Integrationsprobleme
Am 29. Juli 1878 marschierten österreichisch-ungarische Truppen in Bosnien-Herzegowina ein – und sahen sich mit heftigem Widerstand vor allem der Muslims, aber auch der Serbisch-Orthodoxen, konfrontiert. Zwar konnte am 19. August Sarajevo eingenommen werden, doch es dauerte bis zum 20. Oktober, ehe die militärische Macht in ganz Bosnien-Herzegowina etabliert war.
Und jetzt begannen die Schwierigkeiten der inneren Integration des rund 50.000 Quadratkilometer großen Gebietes in das Habsburgerreich. In der ungarischen Reichshälfte begrüßte man zwar die stärkere Abhängigkeit der Balkan-Slawen von der k.u.k. Monarchie, nahm aber die Vermehrung des slawischen Elementes innerhalb der Monarchie mit gemischten Gefühlen auf, weil man darin eine Gefährdung der dualistischen Reichsstruktur und also auch der eigenen Position sah. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Die okkupierten Gebiete wurden dem gemeinsamen Österreichisch-Ungarischen Finanzministerium unterstellt, für das wiederum ein "Büro für die Angelegenheiten Bosniens und der Herzegowina" federführend war. Als Landeschef führte ein General das besetzte Gebiet. Anfang 1880 wurden die Provinzen in das gemeinsame Zollgebiet eingegliedert, im November 1881 die Wehrpflicht eingeführt.
Die Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn empörte die expansiv gesinnte serbische Nationalstaatlichkeit. Für den nationalromantischen "Panserbismus" waren Bosnien-Herzegowina nämlich "ur-serbische" Gebiete. (Mit der gleichen serbisch-nationalistischen Propaganda begründete rund 100 Jahre später Slobodan Miloševiæ seine großserbischen Bestrebungen, die schließlich zum jugoslawischen Bürgerkrieg führten.)
Die Österreichisch-Ungarische Besatzungsmacht begann sofort mit einem umfassenden Modernisierungsprogramm für Bosnien-Herzegowina, welches das Gebiet von einer religiös dominierten dörflichen Lebensweise in die westliche Moderne führen sollte. Die nur 40 Jahre dauernde habsburgische Herrschaft hinterließ in Bosnien-Herzegowina ein Straßennetz von 2025 Kilometern Haupt- und 2381 Kilometern Bezirksstraßen, sowie ein Eisenbahnnetz von 1479 Kilometern Länge. Die Industrialisierung, der Abbau von Bodenschätzen und die Alphabetisierung wurden energisch vorangetrieben. Das kulturelle Leben blühte vor allem in den Städten auf, wo sich ein gewisser Wohlstand breitmachte.
In den besetzten Gebieten wurde volle Religionsfreiheit zugesichert. Um aber die muslimische Bevölkerung von ihrem politisch-religiösen Zentrum Istanbul zu trennen, wurden ihre religiösen Führer enger an die Monarchie gebunden. Ähnliches galt für die serbische Orthodoxie in Bosnien-Herzegowina, die vom serbischen Nationalstaat abgekoppelt werden sollte. Diese Bestrebungen und der Versuch, das Schulwesen durch Reformen fest in den Griff der Österreichisch-Ungarischen Verwaltung zu bekommen, führte 1882 zum "Ostherzegowinischen Aufstand" – Serben und Muslims kämpften gemeinsam gegen das k.u.k. Militär. Man befürchtete eine "Kroatisierung" und "Katholisierung" Bosniens. Durch die Forcierung der lateinischen Schrift sahen Serben und Muslims die kyrillische bzw. arabische Schrift bedroht, die bei der Vermittlung ihrer Religionen eine wichtige Rolle spielten.
Nach der Ermordung des eher habsburg-freundlichen serbischen Königs Aleksandar Obrenoviæ gewann unter dem neuen König Petar Karadjordjeviæ die anti-österreichische Radikale Volkspartei Serbiens entscheidenden Einfluss. (In ihrer Tradition sieht sich die heutige Serbische Radikale Partei von Vojislav Šešelj.)
Der "Schweinekrieg"
Auf Grund der zunehmenden Feindseligkeiten von Seiten Serbiens tauchten immer wieder Pläne auf, nicht nur das okkupierte Bosnien und Herzegowina zu annektieren, sondern gleich auch Serbien. Diese Idee fand vor allem beim Thronfolger Franz Ferdinand Anklang. Vorerst aber startete man im Februar 1906 einen fünf Jahre dauernden Zollkrieg gegen Serbien, den sogenannten "Schweinekrieg". Serbien war mit seinem Außenhandel, fast ausschließlich landwirtschaftlichen Exporten, praktisch total an die österreichisch-ungarische Monarchie gebunden. Nach der Sperre der Ausfuhr nach Österreich-Ungarn erschloss sich Serbien allerdings schnell andere neue Märkte: Frankreich und Deutschland profitierten von dem Zollkrieg, Österreich aber hatte das Nachsehen und den Schaden.
Im Jänner 1908 gab der Österreichisch-Ungarische Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal die Absicht der Monarchie bekannt, auf dem Westbalkan eine Eisenbahnlinie in Nord-Süd-Richtung, die sogenannte "Sandschakbahn" zu bauen. Russland und Serbien erhoben heftige Proteste, die in Österreich die alten Pläne zur Klärung der Situation durch die Annektion Bosniens und Herzegowinas aktuell werden ließen, zumal der provisorische staatsrechtliche Charakter der Provinzen für die serbischen Einheitsbestrebungen eine ständige Herausforderung und Ermunterung war. Dies wurde durch die jungtürkische Revolution im Osmanischen Reich, die im Juli 1908 ausbrach, noch gesteigert. Die jungtürkischen Offiziere erzwangen vom Sultan die Wiedereinführung der Verfassung von 1876. Nun sollten Parlamentswahlen stattfinden – auch in den formell noch immer zum Osmanischen Reich gehörenden Provinzen Bosnien und Herzegowina.
Österreich-Ungarn musste darauf reagieren und verkündete, die innere Schwäche des Osmanischen Reiches ausnützend, am 7. Oktober 1908 die offizielle Annexion Bosnien-Herzegowinas. Am selben Tag erklärte Bulgarien seine Unabhängigkeit. Beides waren klare Verstöße gegen den Berliner Vertrag von 1878. Schon am 16. September hatte Aehrenthal seinen russischen Kollegen Iswolski im südtschechischen Schloss Buchlau über die Pläne Österreich-Ungarns informiert. Das Zarenreich signalisierte Zustimmung, wenn im Gegenzug die Meerengen für russische Kriegsschiffe geöffnet würden.
Die dadurch ausgelöste Krise führte Europa an den Rand eines Krieges, der nur durch das Einschreiten Deutschlands verhindert werden konnte. Die Zustimmung der Türkei zur Annexion konnte sich Österreich-Ungarn durch eine Zahlung von 2,5 Millionen türkischer Pfund erkaufen. In Russland war die Empörung groß, denn die Briten hatten die Öffnung der Meerengen für die Russen abgelehnt. Die jahrzehntelange Interessen-Partnerschaft zwischen Russland und Österreich-Ungarn zerbrach. Der größte Sturm gegen die Annexion aber brach in Serbien aus: Das Land steigerte seine Agitation gegen Österreich-Ungarn und bezeichnete Bosnien-Herzegowina als "serbische Kernlandschaft" und "Herz des serbischen Volkes" . (Bezeichnungen, die man auch aus den Balkankriegen der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts kennt.)
Unterstützt vom Deutschen Reich, forderte Wien im März 1909 Serbien ultimativ auf, die Annexion anzuerkennen und das Verhältnis zu Österreich-Ungarn zu verbessern. Da auch Großbritannien, Frankreich und Italien zu einer Abänderung des Berliner Vertrages bereit waren, nahm die serbische Regierung im letzten Moment das Ultimatum an und unterzeichnete am 31. März 1909 die vorgelegte Erklärung.
Auf dem Weg zum Krieg
Die serbisch-nationalistischen Aktivitäten in Bosnien-Herzegowina nahmen in der Folge jedoch ständig zu. So forderte etwa der unter dem Namen "Schwarze Hand" bekannte Geheimbund "Vereinigung oder Tod" die Vereinigung des Serbentums durch revolutionären Kampf in allen serbischen Provinzen, allen voran Bosnien-Herzegowina. Weltbekannt wurde diese nationalistische Gruppe, als am 28. Juni 1914 der Geheimbündler Gavrilo Princip in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau ermordete. Durch dieses Ereignis wurde der Erste Weltkrieg ausgelöst.
Heute verweist man in Sarajevo mit Nachdruck darauf, dass Princip nicht aus Bosnien-Herzegowina, sondern aus dem Königreich Serbien stammte, und betont, dass die zum Tatort führende, früher nach Gavrilo Princip benannte Brücke längst einen anderen Namen erhalten hat.
Am 29. Oktober 1918 endete schließlich die vierzigjährige Herrschaft des Habsburger-Reiches über Bosnien-Herzegowina, als sich die Südslawen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Zagreb mit den Serben zu einem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen verbanden.
Franz Schausberger ist Universitätsdozent für Neuere Österreichische Geschichte und Vorstand des Instituts der Regionen Europas (IRE).
Lexikon
Zeitgeschichte, die den heutigen Konflikt erklärt....
[h1]Landnahme auf dem Balkan[/h1]
Von Franz Schausberger
Vor 130 Jahren besetzte Österreich-Ungarn die osmanischen Provinzen Bosnien und Herzegowina, vor 100 Jahren wurde das Gebiet von der k.u.k. Monarchie annektiert, allerdings nur für ein Jahrzehnt. Grund genug, sich dieser historischen Ereignisse zu erinnern, deren Auswirkungen bis in die Gegenwart reichen.
In den Jahren 1875/76 hatte die Orientkrise einen Höhepunkt erreicht. Aufstände in Bosnien und Bulgarien gegen die osmanische Herrschaft hatten zum Krieg Serbiens und Montenegros gegen das Osmanische Reich geführt, das den Sieg davontrug. Daraufhin trat das russische Zarenreich, das sich als Schutzmacht der orthodoxen Slawen auf dem Balkan verstand, in den Krieg ein und schlug die osmanischen Truppen. Russland zwang nun den osmanischen Sultan am 3. März 1878 zur Unterzeichnung des Friedensvertrages von San Stefano. Das Osmanische Reich musste die volle Unabhängigkeit Rumäniens, Serbiens und Montenegros anerkennen, außerdem sollte ein großer bulgarischer Staat geschaffen werden, der im Süden bis an die Ägäis und im Westen bis an den Ohridsee reichen sollte. Das wurde vor allem von Österreich und Großbritannien abgelehnt, da Russland bestrebt war, die Vorherrschaft auf dem Balkan und einen direkten Zugang zum Mittelmeer zu erlangen.
Der Kongress in Berlin
Zur Korrektur des Friedens von San Stefano schlug der Außenminister Österreich-Ungarns, Gyula Andrássy, einen diplomatischen Kongress unter deutscher Vermittlung vor, weil Deutschland als einzige Großmacht keine eigenen Interessen auf dem Balkan verfolgte.
Auf Einladung des deutschen Reichskanzlers Otto von Bismarck trafen sich die europäischen Diplomaten am 13. Juni 1878 in Berlin. Sie tagten genau einen Monat lang. Die volle Souveränität Serbiens, Rumäniens und Montenegros wurde bestätigt. Der neue bulgarische Staat wurde mit gewissen Einschränkungen seiner Souveränität auf das Gebiet zwischen der unteren Donau und dem Balkangebirge beschränkt. Makedonien wurde wieder dem Osmanischen Reich unterstellt und blieb bis 1912 dessen zentrale europäische Provinz. Serbien erhielt Gebietserweiterungen an seiner Südgrenze, Montenegro wurde um mehr als ein Drittel seiner Fläche vergrößert.
Rumänien erhielt die Dobrudscha mit dem Schwarzmeerhafen Constanta zugesprochen und trat dafür Gebiete im südlichen Bessarabien an Russland ab. Die russischen Gebietsgewinne in Transkaukasien wurden bestätigt. Großbritannien erhielt Zypern als Flottenbasis.
Um den russischen Machtzuwachs auf dem Balkan auszugleichen – Bulgarien wurde nicht zu Unrecht als Vasall des Zarenreiches angesehen –, wurde Österreich-Ungarn unter dem Protest der Hohen Pforte und zum Missfallen Serbiens die Okkupation Bosnien-Herzegowinas und die Stationierung von Truppen im Sandschak von Novi Pazar zugestanden. Dieses islamisch geprägte Gebiet zwischen Zentralserbien und Montenegro bildete eine "Brücke" zwischen den Moslems von Bosnien und Herzegowina und jenen im Kosovo. Allerdings verblieben diese Gebiete formal und offiziell unter der Oberhoheit des Osmanischen Reiches. Eine Konstruktion, die auf Dauer nicht gut gehen konnte.
Russlands Niederlage
Russland erlitt in Berlin eine diplomatische Niederlage, da es weder seine politischen Vorstellungen von Südosteuropa durchsetzen konnte, noch den ersehnten direkten Zugang zum Mittelmeer erhielt. Die Rivalität Österreichs und Russlands auf dem Balkan wuchs an, und auch das deutsch-russische Verhältnis verschlechterte sich, da Russland das ungünstige Verhandlungsergebnis nicht zuletzt dem Wirken Bismarcks anlastete. Das Bündnis zwischen den drei europäischen Kaiserreichen zerbrach schließlich. Deutschland schloss 1879 mit Österreich-Ungarn den Zweibund, während Russland sich Frankreich annäherte.
Für Österreich-Ungarn war der Berliner Kongress jedoch nur vordergründig ein Erfolg. Nicht nur hatten sich die Beziehungen zu Russland und Serbien (das sich damals, wie so oft in der Geschichte, von seinem großen Verbündeten Russland im Stich gelassen fühlte) entscheidend verschlechtert, es ergaben sich auch große innenpolitische Probleme aufgrund der Besetzung Bosnien-Herzegowinas.
Integrationsprobleme
Am 29. Juli 1878 marschierten österreichisch-ungarische Truppen in Bosnien-Herzegowina ein – und sahen sich mit heftigem Widerstand vor allem der Muslims, aber auch der Serbisch-Orthodoxen, konfrontiert. Zwar konnte am 19. August Sarajevo eingenommen werden, doch es dauerte bis zum 20. Oktober, ehe die militärische Macht in ganz Bosnien-Herzegowina etabliert war.
Und jetzt begannen die Schwierigkeiten der inneren Integration des rund 50.000 Quadratkilometer großen Gebietes in das Habsburgerreich. In der ungarischen Reichshälfte begrüßte man zwar die stärkere Abhängigkeit der Balkan-Slawen von der k.u.k. Monarchie, nahm aber die Vermehrung des slawischen Elementes innerhalb der Monarchie mit gemischten Gefühlen auf, weil man darin eine Gefährdung der dualistischen Reichsstruktur und also auch der eigenen Position sah. Schließlich einigte man sich auf einen Kompromiss: Die okkupierten Gebiete wurden dem gemeinsamen Österreichisch-Ungarischen Finanzministerium unterstellt, für das wiederum ein "Büro für die Angelegenheiten Bosniens und der Herzegowina" federführend war. Als Landeschef führte ein General das besetzte Gebiet. Anfang 1880 wurden die Provinzen in das gemeinsame Zollgebiet eingegliedert, im November 1881 die Wehrpflicht eingeführt.
Die Besetzung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn empörte die expansiv gesinnte serbische Nationalstaatlichkeit. Für den nationalromantischen "Panserbismus" waren Bosnien-Herzegowina nämlich "ur-serbische" Gebiete. (Mit der gleichen serbisch-nationalistischen Propaganda begründete rund 100 Jahre später Slobodan Miloševiæ seine großserbischen Bestrebungen, die schließlich zum jugoslawischen Bürgerkrieg führten.)
Die Österreichisch-Ungarische Besatzungsmacht begann sofort mit einem umfassenden Modernisierungsprogramm für Bosnien-Herzegowina, welches das Gebiet von einer religiös dominierten dörflichen Lebensweise in die westliche Moderne führen sollte. Die nur 40 Jahre dauernde habsburgische Herrschaft hinterließ in Bosnien-Herzegowina ein Straßennetz von 2025 Kilometern Haupt- und 2381 Kilometern Bezirksstraßen, sowie ein Eisenbahnnetz von 1479 Kilometern Länge. Die Industrialisierung, der Abbau von Bodenschätzen und die Alphabetisierung wurden energisch vorangetrieben. Das kulturelle Leben blühte vor allem in den Städten auf, wo sich ein gewisser Wohlstand breitmachte.
In den besetzten Gebieten wurde volle Religionsfreiheit zugesichert. Um aber die muslimische Bevölkerung von ihrem politisch-religiösen Zentrum Istanbul zu trennen, wurden ihre religiösen Führer enger an die Monarchie gebunden. Ähnliches galt für die serbische Orthodoxie in Bosnien-Herzegowina, die vom serbischen Nationalstaat abgekoppelt werden sollte. Diese Bestrebungen und der Versuch, das Schulwesen durch Reformen fest in den Griff der Österreichisch-Ungarischen Verwaltung zu bekommen, führte 1882 zum "Ostherzegowinischen Aufstand" – Serben und Muslims kämpften gemeinsam gegen das k.u.k. Militär. Man befürchtete eine "Kroatisierung" und "Katholisierung" Bosniens. Durch die Forcierung der lateinischen Schrift sahen Serben und Muslims die kyrillische bzw. arabische Schrift bedroht, die bei der Vermittlung ihrer Religionen eine wichtige Rolle spielten.
Nach der Ermordung des eher habsburg-freundlichen serbischen Königs Aleksandar Obrenoviæ gewann unter dem neuen König Petar Karadjordjeviæ die anti-österreichische Radikale Volkspartei Serbiens entscheidenden Einfluss. (In ihrer Tradition sieht sich die heutige Serbische Radikale Partei von Vojislav Šešelj.)
Der "Schweinekrieg"
Auf Grund der zunehmenden Feindseligkeiten von Seiten Serbiens tauchten immer wieder Pläne auf, nicht nur das okkupierte Bosnien und Herzegowina zu annektieren, sondern gleich auch Serbien. Diese Idee fand vor allem beim Thronfolger Franz Ferdinand Anklang. Vorerst aber startete man im Februar 1906 einen fünf Jahre dauernden Zollkrieg gegen Serbien, den sogenannten "Schweinekrieg". Serbien war mit seinem Außenhandel, fast ausschließlich landwirtschaftlichen Exporten, praktisch total an die österreichisch-ungarische Monarchie gebunden. Nach der Sperre der Ausfuhr nach Österreich-Ungarn erschloss sich Serbien allerdings schnell andere neue Märkte: Frankreich und Deutschland profitierten von dem Zollkrieg, Österreich aber hatte das Nachsehen und den Schaden.
Im Jänner 1908 gab der Österreichisch-Ungarische Außenminister Alois Lexa von Aehrenthal die Absicht der Monarchie bekannt, auf dem Westbalkan eine Eisenbahnlinie in Nord-Süd-Richtung, die sogenannte "Sandschakbahn" zu bauen. Russland und Serbien erhoben heftige Proteste, die in Österreich die alten Pläne zur Klärung der Situation durch die Annektion Bosniens und Herzegowinas aktuell werden ließen, zumal der provisorische staatsrechtliche Charakter der Provinzen für die serbischen Einheitsbestrebungen eine ständige Herausforderung und Ermunterung war. Dies wurde durch die jungtürkische Revolution im Osmanischen Reich, die im Juli 1908 ausbrach, noch gesteigert. Die jungtürkischen Offiziere erzwangen vom Sultan die Wiedereinführung der Verfassung von 1876. Nun sollten Parlamentswahlen stattfinden – auch in den formell noch immer zum Osmanischen Reich gehörenden Provinzen Bosnien und Herzegowina.
Österreich-Ungarn musste darauf reagieren und verkündete, die innere Schwäche des Osmanischen Reiches ausnützend, am 7. Oktober 1908 die offizielle Annexion Bosnien-Herzegowinas. Am selben Tag erklärte Bulgarien seine Unabhängigkeit. Beides waren klare Verstöße gegen den Berliner Vertrag von 1878. Schon am 16. September hatte Aehrenthal seinen russischen Kollegen Iswolski im südtschechischen Schloss Buchlau über die Pläne Österreich-Ungarns informiert. Das Zarenreich signalisierte Zustimmung, wenn im Gegenzug die Meerengen für russische Kriegsschiffe geöffnet würden.
Die dadurch ausgelöste Krise führte Europa an den Rand eines Krieges, der nur durch das Einschreiten Deutschlands verhindert werden konnte. Die Zustimmung der Türkei zur Annexion konnte sich Österreich-Ungarn durch eine Zahlung von 2,5 Millionen türkischer Pfund erkaufen. In Russland war die Empörung groß, denn die Briten hatten die Öffnung der Meerengen für die Russen abgelehnt. Die jahrzehntelange Interessen-Partnerschaft zwischen Russland und Österreich-Ungarn zerbrach. Der größte Sturm gegen die Annexion aber brach in Serbien aus: Das Land steigerte seine Agitation gegen Österreich-Ungarn und bezeichnete Bosnien-Herzegowina als "serbische Kernlandschaft" und "Herz des serbischen Volkes" . (Bezeichnungen, die man auch aus den Balkankriegen der 90-er Jahre des 20. Jahrhunderts kennt.)
Unterstützt vom Deutschen Reich, forderte Wien im März 1909 Serbien ultimativ auf, die Annexion anzuerkennen und das Verhältnis zu Österreich-Ungarn zu verbessern. Da auch Großbritannien, Frankreich und Italien zu einer Abänderung des Berliner Vertrages bereit waren, nahm die serbische Regierung im letzten Moment das Ultimatum an und unterzeichnete am 31. März 1909 die vorgelegte Erklärung.
Auf dem Weg zum Krieg
Die serbisch-nationalistischen Aktivitäten in Bosnien-Herzegowina nahmen in der Folge jedoch ständig zu. So forderte etwa der unter dem Namen "Schwarze Hand" bekannte Geheimbund "Vereinigung oder Tod" die Vereinigung des Serbentums durch revolutionären Kampf in allen serbischen Provinzen, allen voran Bosnien-Herzegowina. Weltbekannt wurde diese nationalistische Gruppe, als am 28. Juni 1914 der Geheimbündler Gavrilo Princip in Sarajevo den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und dessen Frau ermordete. Durch dieses Ereignis wurde der Erste Weltkrieg ausgelöst.
Heute verweist man in Sarajevo mit Nachdruck darauf, dass Princip nicht aus Bosnien-Herzegowina, sondern aus dem Königreich Serbien stammte, und betont, dass die zum Tatort führende, früher nach Gavrilo Princip benannte Brücke längst einen anderen Namen erhalten hat.
Am 29. Oktober 1918 endete schließlich die vierzigjährige Herrschaft des Habsburger-Reiches über Bosnien-Herzegowina, als sich die Südslawen der Österreichisch-Ungarischen Monarchie in Zagreb mit den Serben zu einem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen verbanden.
Franz Schausberger ist Universitätsdozent für Neuere Österreichische Geschichte und Vorstand des Instituts der Regionen Europas (IRE).
Lexikon
Zeitgeschichte, die den heutigen Konflikt erklärt....