Schiptar
Geek
In diesem Thread würde ich gerne über die Frage diskutieren, ob die jugoslawischen Teilrepubliken juristisch die Möglichkeit hatten, sich legal von der Bundesrepublik Jugoslawien abzuspalten, was ja seitens mancher Serben hier gern bestritten wird.
Im Rahmen dieser Diskussion möchte ich keine unfundierten Meinungsäußerungen sehen; wer etwas behauptet, sollte dies mit Quellen oder seriöser Fachliteratur begründen können. Dazu appelliere ich besonders an die Moderatoren, unqualifizierte Beiträge sofort zu löschen, bevor der ganze Thread wieder zu einer primitiven nationalistischen Beleidigungsorgie verkommt.
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Ich fange mal an mit zwei Beispielen aus der Fachliteratur.
Zunächst aus dem Sachbuch "Jugoslawiens Erben" von Viktor MEIER, der über 30 Jahre lang Südosteuropa-Korrespondent der FAZ und NZZ war.
"Häufig wird im Westen die skeptische Frage gestellt, ob sich das Aufgeben Jugoslawiens "gelohnt" habe oder ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der frühere Staat erhalten geblieben wäre. Diese Frage richtet sich meistens, oft sogar polemisch, an die Adresse der Slowenen und, etwas weniger, an die der Kroaten, die durch ihre Unabhängigkeitserklärungen 1991 den Anstoß zum Zerfall Jugoslawiens gegeben hatten. Die Frage ist indessen unrealistisch. Jugoslawien war, hauptsächlich wegen der Politik Milosevics, im Sommer 1991 für die nichtserbischen Nationalitäten unbewohnbar geworden. Es lag im nationalen Interesse Sloweniens und Kroatiens, den eigenen Weg zu suchen. Diese beiden Staaten haben ihren damaligen Entschluß nicht zu bereuen. Sie haben ihr Selbstbestimmungsrecht mit der Waffe verteidigt. Der Vorwurf, den etwa der damalige amerikanische Botschafter in Belgrad, Zimmermann, an die Adresse der Slowenen richtet, nämlich daß sie nur an sich gedacht und die übrigen 20 Millionen Jugoslawen "vergessen" hätten, verkennt erstens den stets nur bedingten Charakter des jugoslawischen Staatsgedankens und zweitens die Tatsache, daß Staaten und Nationen eben keine philanthropischen Institutionen sind, sondern sich von ihren Interessen leiten lassen. Diese mußten sich infolge der Entwicklung im Gesamtstaat bei Slowenen und Kroaten damals völlig legitim auf eine eigene Staatlichkeit richten. Bosnien und das Kosovo wurden vom Serbien Milosevics mit Krieg überzogen. Sowohl die Makedonier wie die bosnischen Muslime hätten im übrigen nichts gegen ein Weiterbestehen Jugoslawiens gehabt, sofern dieses auf Gleichberechtigung gegründet gewesen wäre. Montenegro entschied sich damals für ein Zusammengehen mit Serbien, aber das bedeutete keine Preisgabe der Selbstbestimmung. Die bosnischen Muslime mußten es bitter bereuen, daß ihre Führung fast bis zuletzt an ein Jugoslawien geglaubt hatte.
Manch einer mag darüber verwundert sein, in diesem Zusammenhang auch das Kosovo als eigene staatliche Einheit behandelt zu finden. Zu den "konstitutiven Faktoren", die unter der Verfassung von 1974 den jugoslawischen Gesamtstaat bildeten, zählten neben den sechs Republiken auch die beiden zu Serbien gehörenden autonomen Regionen Kosovo und Vojvodina. Deren Autonomie, obschon durch die Bundesverfassung garantiert, wurde 1989 von Serbien unter Anwendung außerkonstitutioneller Maßnahmen liquidiert."
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Nun zu Kathrin BOECKHs Artikel "Jugoslawien" im "Studienhandbuch Östliches Europa". (Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Osteuropa-Instituts München und Redakteurin der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas):
"Jugoslawien unter Tito
[...] Der sozialistische Umbau des Landes war bis Ende 1945 im wesentlichen abgeschlossen. Nach manipulierten Wahlen im November 1945 wurde noch im selben Monat die Volksrepublik ausgerufen. Die im Januar 1946 verab schiedete Verfassung war republikanisch und föderalistisch ausgerichtet. Die Idee, neben den Republiken Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro auch Makedonien einen Republikstatus zuzugestehen, beabsichtigte einmal mehr, nationale Gegensätze abzuschwächen. Letztlich wurden aber die wichtigsten politischen Rechte (wie Landesverteidigung, Außenpolitik, Verkehr, Seewesen, Post- und Telegrafenverwaltung, Außenhandel, Finanzen, Jurisdiktion, Industrie) dem Bund zugestanden, während die sechs Republiken nur wenige Bereiche in ihrer Kompetenz besaßen (dazu gehörten Gesundheits- und Bildungswesen sowie Soziales). Die Republiken, denen de jure das Recht auf Austritt aus dem Bundesstaat zustand, besaßen zwar eigene Verfassungen, waren aber de facto der Zentrale unterstellt.
[...]
Jugoslawien nach Tito
Waren dies bereits deutliche Zeichen für die innere Uneinigkeit Jugoslawiens, so geriet das System endgültig ins Wanken, als sein charismatischer Präsident Tito 1980 starb. Das daraufhin eingesetzte kollektive Staatspräsidium erwies sich als unfähig, die divergierenden nationalen und wirtschaftlichen Interessen zu überbrücken. Die Lage war nun einerseits durch vermehrte innenpolitische Repressionen (die Zahl politischer Gefangener nahm zu, Unruhen im Kosovo ab 1981 wurden blutig unterdrückt), andererseits durch eine schwere Wirtschaftskrise gekennzeichnet. 1988 trat - zum ersten Mal im Nachkriegs-Jugoslawien - die gesamte Regierung zurück, eine reformorientierte Regierung unter dem Kroaten Ante Markovic verlor zunehmend an Durchsetzungsvermögen. Als die Forderungen serbischer Nationalisten immer drängender wurden, begann Slobodan Milosevic seinen politischen Siegeszug. 1987 wurde er Parteichef in Serbien. 1988 stürzte er die Regierungen der autonomen Provinzen Kosovo und Wojwodina und ersetzte sie durch Anhänger, bis er 1989 ihren autonomen Status aufhob. Im November 1989 wurde er zum Republikspräsidenten gewählt, gewann mit seinen großserbischen Parolen im Dezember 1990 erneut die Wahlen. Nach den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 setzte er die jugoslawische Armee in Bewegung. Der Krieg gegen die "Bruderrepubliken", die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Ressourcen unverzichtbar waren, weitete sich im Juni 1992 auf Bosnien-Herzegowina aus, das sich als letzte Republik für unabhängig erklärte."
Im Rahmen dieser Diskussion möchte ich keine unfundierten Meinungsäußerungen sehen; wer etwas behauptet, sollte dies mit Quellen oder seriöser Fachliteratur begründen können. Dazu appelliere ich besonders an die Moderatoren, unqualifizierte Beiträge sofort zu löschen, bevor der ganze Thread wieder zu einer primitiven nationalistischen Beleidigungsorgie verkommt.
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Ich fange mal an mit zwei Beispielen aus der Fachliteratur.
Zunächst aus dem Sachbuch "Jugoslawiens Erben" von Viktor MEIER, der über 30 Jahre lang Südosteuropa-Korrespondent der FAZ und NZZ war.
"Häufig wird im Westen die skeptische Frage gestellt, ob sich das Aufgeben Jugoslawiens "gelohnt" habe oder ob es nicht besser gewesen wäre, wenn der frühere Staat erhalten geblieben wäre. Diese Frage richtet sich meistens, oft sogar polemisch, an die Adresse der Slowenen und, etwas weniger, an die der Kroaten, die durch ihre Unabhängigkeitserklärungen 1991 den Anstoß zum Zerfall Jugoslawiens gegeben hatten. Die Frage ist indessen unrealistisch. Jugoslawien war, hauptsächlich wegen der Politik Milosevics, im Sommer 1991 für die nichtserbischen Nationalitäten unbewohnbar geworden. Es lag im nationalen Interesse Sloweniens und Kroatiens, den eigenen Weg zu suchen. Diese beiden Staaten haben ihren damaligen Entschluß nicht zu bereuen. Sie haben ihr Selbstbestimmungsrecht mit der Waffe verteidigt. Der Vorwurf, den etwa der damalige amerikanische Botschafter in Belgrad, Zimmermann, an die Adresse der Slowenen richtet, nämlich daß sie nur an sich gedacht und die übrigen 20 Millionen Jugoslawen "vergessen" hätten, verkennt erstens den stets nur bedingten Charakter des jugoslawischen Staatsgedankens und zweitens die Tatsache, daß Staaten und Nationen eben keine philanthropischen Institutionen sind, sondern sich von ihren Interessen leiten lassen. Diese mußten sich infolge der Entwicklung im Gesamtstaat bei Slowenen und Kroaten damals völlig legitim auf eine eigene Staatlichkeit richten. Bosnien und das Kosovo wurden vom Serbien Milosevics mit Krieg überzogen. Sowohl die Makedonier wie die bosnischen Muslime hätten im übrigen nichts gegen ein Weiterbestehen Jugoslawiens gehabt, sofern dieses auf Gleichberechtigung gegründet gewesen wäre. Montenegro entschied sich damals für ein Zusammengehen mit Serbien, aber das bedeutete keine Preisgabe der Selbstbestimmung. Die bosnischen Muslime mußten es bitter bereuen, daß ihre Führung fast bis zuletzt an ein Jugoslawien geglaubt hatte.
Manch einer mag darüber verwundert sein, in diesem Zusammenhang auch das Kosovo als eigene staatliche Einheit behandelt zu finden. Zu den "konstitutiven Faktoren", die unter der Verfassung von 1974 den jugoslawischen Gesamtstaat bildeten, zählten neben den sechs Republiken auch die beiden zu Serbien gehörenden autonomen Regionen Kosovo und Vojvodina. Deren Autonomie, obschon durch die Bundesverfassung garantiert, wurde 1989 von Serbien unter Anwendung außerkonstitutioneller Maßnahmen liquidiert."
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Nun zu Kathrin BOECKHs Artikel "Jugoslawien" im "Studienhandbuch Östliches Europa". (Die Autorin ist wissenschaftliche Mitarbeiterin des Osteuropa-Instituts München und Redakteurin der Jahrbücher für Geschichte Osteuropas):
"Jugoslawien unter Tito
[...] Der sozialistische Umbau des Landes war bis Ende 1945 im wesentlichen abgeschlossen. Nach manipulierten Wahlen im November 1945 wurde noch im selben Monat die Volksrepublik ausgerufen. Die im Januar 1946 verab schiedete Verfassung war republikanisch und föderalistisch ausgerichtet. Die Idee, neben den Republiken Serbien, Kroatien, Slowenien, Bosnien-Herzegowina und Montenegro auch Makedonien einen Republikstatus zuzugestehen, beabsichtigte einmal mehr, nationale Gegensätze abzuschwächen. Letztlich wurden aber die wichtigsten politischen Rechte (wie Landesverteidigung, Außenpolitik, Verkehr, Seewesen, Post- und Telegrafenverwaltung, Außenhandel, Finanzen, Jurisdiktion, Industrie) dem Bund zugestanden, während die sechs Republiken nur wenige Bereiche in ihrer Kompetenz besaßen (dazu gehörten Gesundheits- und Bildungswesen sowie Soziales). Die Republiken, denen de jure das Recht auf Austritt aus dem Bundesstaat zustand, besaßen zwar eigene Verfassungen, waren aber de facto der Zentrale unterstellt.
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Jugoslawien nach Tito
Waren dies bereits deutliche Zeichen für die innere Uneinigkeit Jugoslawiens, so geriet das System endgültig ins Wanken, als sein charismatischer Präsident Tito 1980 starb. Das daraufhin eingesetzte kollektive Staatspräsidium erwies sich als unfähig, die divergierenden nationalen und wirtschaftlichen Interessen zu überbrücken. Die Lage war nun einerseits durch vermehrte innenpolitische Repressionen (die Zahl politischer Gefangener nahm zu, Unruhen im Kosovo ab 1981 wurden blutig unterdrückt), andererseits durch eine schwere Wirtschaftskrise gekennzeichnet. 1988 trat - zum ersten Mal im Nachkriegs-Jugoslawien - die gesamte Regierung zurück, eine reformorientierte Regierung unter dem Kroaten Ante Markovic verlor zunehmend an Durchsetzungsvermögen. Als die Forderungen serbischer Nationalisten immer drängender wurden, begann Slobodan Milosevic seinen politischen Siegeszug. 1987 wurde er Parteichef in Serbien. 1988 stürzte er die Regierungen der autonomen Provinzen Kosovo und Wojwodina und ersetzte sie durch Anhänger, bis er 1989 ihren autonomen Status aufhob. Im November 1989 wurde er zum Republikspräsidenten gewählt, gewann mit seinen großserbischen Parolen im Dezember 1990 erneut die Wahlen. Nach den Unabhängigkeitserklärungen Sloweniens und Kroatiens im Juni 1991 setzte er die jugoslawische Armee in Bewegung. Der Krieg gegen die "Bruderrepubliken", die aufgrund ihrer wirtschaftlichen Ressourcen unverzichtbar waren, weitete sich im Juni 1992 auf Bosnien-Herzegowina aus, das sich als letzte Republik für unabhängig erklärte."