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[h=2]Damit niemand sagen kann, er sei nicht gewarnt worden[/h]Immer neue Zahlen über Salafisten und ausgereiste Dschihadisten werden veröffentlicht. Wie viele es genau sind, können selbst die deutschen Sicherheitsbehörden nicht sagen. Aber sie machen sich Sorgen. Und weisen deshalb immer stärker auf die Gefahren hin.
31.10.2014, von ECKART LOHSE, BERLIN
Selbst geübte Mathematiker oder zumindest routinierte Protokollanten haben ihre Not, noch hinterherzukommen. Wie viele Salafisten sind gerade in Deutschland aktiv? 6000 oder schon 7000? Wie viele radikalisierte Islamisten haben das Land Richtung Syrien und Irak verlassen? 450 oder schon mehr als tausend?Autor: Eckart Lohse, Jahrgang 1963, politischer Korrespondent in Berlin. Folgen:
Noch am Wochenende hatte der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Hans-Georg Maaßen, im Radio die Zahl der Salafisten nach oben korrigiert von mehr als 6200 auf weit über 6300. Es gibt jedoch Hinweise, dass zu dem Zeitpunkt diese Zahl schon nicht mehr aktuell war, weil es die Werte von Anfang Oktober waren. Tatsächlich sollen es jetzt schon 6700 sein.
Aber seit dieser Mitteilung sind auch schon wieder ein paar Tage vergangen. Organisiert sein sollen sie jedenfalls in mehr als hundert salafistischen Netzwerken. Manche von diesen bestehen allerdings aus nicht mehr als zehn Personen. Angesichts solcher Steigerungsraten ist es fraglich, ob die Prognose von 7000 in Deutschland aktiven Salafisten für das Jahresende nicht auch bereits überholt ist. Immerhin sind es noch zwei Monate bis Silvester. Vor zwei Jahren waren es noch nicht einmal 4000 Salafisten, die die Sicherheitsbehörden gezählt haben.
Ähnlich verhält es sich mit den ausreisenden Dschihadisten, jungen Männern und ebenso einigen Frauen, die entweder schon Muslime sind oder zum Islam übertreten, sich radikalisieren und versuchen, in die Kampfgebiete im Norden Syriens oder des Iraks zu gelangen. Vor gut einem Jahr schlugen etwa 170 überwiegend junge Menschen in Deutschland diesen Weg ein, der für sie selbst leicht mit dem Tod enden kann, der aber vor allem die Gefahr mit sich bringt, dass sie mit einem mörderischen Anschlagsplan zurückkehren.
Im Lauf dieses Jahres stiegen die Zahlen, die die Behörden verkündeten, in großen Schritten. Von offizieller Seite, dem Bundesamt für Verfassungsschutz oder dem Bundesinnenministerium, werden 450 reisende Dschihadisten als gesichert gemeldet. Allerdings wird auf eine Dunkelziffer hingewiesen; sie könnte ziemlich hoch sein. Die kürzlich aufgetauchte Zahl 1800 wurde zwar in Berlin nicht bestätigt, aber die Ungewissheit wird zugegeben.
Was sollen die ständigen Wasserstandsmeldungen, wenn sie doch nicht belastbar sind? Kürzlich trafen sich in Berlin nahezu alle, die Verantwortung für die innere Sicherheit in Deutschland tragen, Ehemalige noch dazu. Es war eine Feierstunde anlässlich des zehnten Gründungstages des „Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums“ (GTAZ). Das Ganze wirkte nicht nur wie eine Feierstunde, sondern auch wie eine Selbstvergewisserung in schwierigen Zeiten.
Bundesinnenminister Thomas de Maizière sprach zu den Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Bundeskriminalamtes und der Bundespolizei; der Militärische Abschirmdienst und Generalbundesanwalt Harald Range waren da. Kurzum, es waren alle Behörden vertreten, mit denen es ein Islamist, der als gefährlich eingestuft wird, zu tun bekommt.
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De Maizière relativierte die Bedeutung der Zahlenangaben über diesen Personenkreis. Ja, vielleicht reisten auch 800 oder 1000 aus. Es gebe eben die Dunkelziffer. Und da ist man schon mitten im Problem. Wenn jetzt etwas passiere, sagte der Innenminister, dann werde es heißen: „Ihr kanntet die doch. Warum habt Ihr nichts unternommen?“
[h=2]Erfolge gehen unter – Beschwerden gibt es viele[/h]Die Sorge geht um in den deutschen Sicherheitskreisen, dass es irgendwann eben doch passiert und dann sofort gefragt wird, warum man die Wege des Täters nicht erkannt und verfolgt und diesen an seinem Treiben gehindert habe. „Die Sicherheit, dass es in Deutschland nicht zu einem Anschlag kommt, kann es nicht geben“, sagte de Maizière. „Wir sind sorgenvoll, aber nicht ängstlich. Wir handeln, aber wir können keine Erfolgsgarantie geben.“
Sicherheitsbehörden haben ein grundsätzliches Problem. Was immer sie zur Gefahrenabwehr tun, wird von der Öffentlichkeit kaum beachtet. Wann immer jedoch etwas passiert, ist der Aufschrei groß, und die Frage folgt auf dem Fuße, wie das geschehen konnte. Als die Bundespolizei im Juni am Berliner Flughafen Tegel einen Franzosen verhaftete und später an Frankreich auslieferte, der aus Syrien zurückkehrte und als gefährlicher Islamist galt, wurde das kaum zur Kenntnis genommen, obwohl kurz vorher ein ähnlich gelagerter Fall zu einem vierfachen Mord im jüdischen Museum von Brüssel geführt hatte.
Als die deutsche Sicherheitselite dagegen am Dienstag in Berlin-Treptow den Geburtstag des GTAZ feierte, lief schon seit zwei Tagen eine lautstarke öffentliche Debatte, warum die sogenannte Demonstration von Hooligans und Rechtsextremen in Köln, bei der es zu zahlreichen Gewalttaten gekommen war, nicht rechtzeitig als entsprechend gefährlich eingeschätzt worden sei.
Die Redner, die bei der Zehn-Jahr-Feier des Gemeinsamen Terrorismusabwehrzentrums auftraten, lobten die Arbeit dieser Koordinierungs- und Kommunikationsplattform, an der 40 Behörden mitwirken. Tatsächlich hat es bisher keinen großen Terroranschlag in Deutschland gegeben. Dennoch wissen alle, dass es seit der Jahrtausendwende zwei große Versäumnisse gegeben hat. Die Vorbereitung der Anschläge des 11. September 2001 in Hamburg wurde nicht entdeckt und die rechtsextremistisch motivierten Morde des Nationalsozialistischen Untergrunds ebenfalls nicht.
Vielleicht ist das der Grund dafür, dass die Chefs zumindest einiger Sicherheitsbehörden eine starke öffentliche oder halböffentliche Präsenz zeigen. Besonders Verfassungsschutz-Chef Maaßen, dessen Haus dafür zuständig ist, möglichst früh die Vorbereitung schwerster, gar die staatliche Sicherheit gefährdender Straftaten zu erkennen, ist unermüdlich. Mal spricht er vor der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag über die islamistische Bedrohung, kurz darauf vor einem Ausschuss des Bundestages.
Zu Beginn der Woche nahm sich Maaßen einen ganzen Abend Zeit, um zusammen mit dem Präsidenten des Bundesnachrichtendienstes, Gerhard Schindler, Auskunft zu geben. Beide versuchten gar nicht erst, ein beruhigendes Bild zu zeichnen, weder von der Lage in Syrien und im Irak noch von der Entwicklung der islamistischen Szene in Deutschland. Zumindest kann niemand sagen, es sei nicht gewarnt worden.