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Wer ist Jude? Kulturkampf in Israel

John Wayne

Keyboard Turner
06.01.2012 · Ultraorthodoxe Juden erheben in Israel Forderungen, wie man sie so bisher nur aus islamischen Ländern kannte. War es nur eine Frage der Zeit, bis auch das stark vom Religionsgesetz geprägte, darin dem Islam nicht unähnliche Judentum solche Tendenzen zeigte?

Wer ist Jude? Die Frage wird in der Regel durch den Hinweis beantwortet, Jude sei, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde. Doch damit ist die Frage nur verschoben, denn was machte die Mutter (und die Mütter davor) zu Juden?


Seit seiner Entstehung im Jahre 1948 wird die Frage auch in Israel gestellt, und man debattiert oft darüber, zum Beispiel im Zusammenhang mit Übertritten zum Judentum. Viel wichtiger aber wird das Thema, wenn es um den Charakter des Staates Israel geht, der von Theodor Herzl, dem politisch einflussreichen Begründer des Zionismus, als Staat der Juden entworfen wurde. „Der Judenstaat“ - so lautete der Titel seiner schmalen, aber wirkmächtigen Programmschrift.


Herzl war ein säkularer Jude aus Mitteleuropa, dem Religion nicht viel bedeutete. Und die meisten der Gründungsväter Israels, allen voran Ben Gurion, waren ebenfalls säkular, viele von ihnen auch Sozialisten. Trotzdem ist Israel bis heute zwar eine pluralistische Demokratie, aber kein wirklich säkularer Staat. Es kennt keine Zivilehe, sondern nur die Heirat vor einem Rabbiner; religiöse Belange sind in Israel unvergleichlich wichtiger als in anderen Demokratien, bis hinein in die archäologische Forschung, die im „verheißenen Land“ unweigerlich biblische Ereignisse mehr als nur berührt: Sie geht an den Kern der Dinge, religiös wie politisch.

Der Modus vivendi war nie spannungsfrei

Das jüdische Volk definiert sich als jene Gemeinschaft, mit der Gott den Bund geschlossen hat, von dem die Hebräische Bibel, das Alte Testament künden. Wenn Israel, wie das bis heute seine Politiker verkünden, ein jüdischer Staat ist und bleiben soll, ist sein Charakter mit der jüdischen Religion untrennbar verbunden. Auch der Säkularist und Sozialist Ben Gurion zitierte ständig die biblischen Propheten und Patriarchen.


In den Jahrzehnten seither hatten säkulare, orthodoxe und „ultraorthodoxe“ Juden einen Modus vivendi gefunden; aber der war niemals spannungsfrei, im Gegenteil. Ausdruck dessen ist der Antagonismus zwischen Jerusalem und Tel Aviv. Jerusalem, das ist mehr und mehr die Stadt der Frommen geworden, während in dem erst hundert Jahre jungen Tel Aviv die Säkularen ihre Heimat finden. Das Verhältnis beider Städte ist von Polemik nicht frei, denn in den Augen der Orthodoxen ist die Stadt am Mittelmeer ein wahres Sündenbabel, während umgekehrt die Frommen, vor allem die „Ultraorthodoxen“ in Jerusalem den säkularen Israelis außerhalb häufig als Vertreter eines schieren Obskurantismus gelten.


Viele Säkulare ärgern sich schon lange darüber, dass die bisweilen aggressiv-fromme Minderheit von etwa zehn, maximal fünfzehn Prozent der Bevölkerung dem Rest immer mehr Privilegien abtrotze; und die politischen Erpressungsversuche der religiösen Parteien, etwa bei Regierungsbildungen, rufen bei den Säkularen Zorn hervor, bevor sie im Zweifel dann doch erfüllt werden, und zwar von allen Regierungen.

Immer aggressivere Forderungen

Nun droht dem Land ein Kulturkampf, den viele so nicht mehr für möglich hielten: Ultraorthodoxe - der Begriff findet auch in Israel selbst inzwischen Verwendung, obwohl man eigentlich nicht orthodoxer als orthodox sein kann - erheben immer stärker und aggressiver Forderungen, wie man sie bisher allenfalls aus Teheran, Afghanistan und anderen Zentren des Islamismus, eines fundamentalistischen Islams, kannte: Männer und Frauen sollen, nicht nur in der Synagoge, in der Öffentlichkeit wieder weitgehend getrennt werden, in Bussen etwa oder an Badestränden. Immer häufiger werden Plakate abgerissen, auf denen Frauen abgebildet sind, keineswegs nur in werblicher Absicht. Sollen Frauen überhaupt singen dürfen?, fragen diese Ultras der Religion.


Es erübrigt sich zu sagen, dass der oft libertäre Lebensstil den Frommen missfällt. Ihr Druck ist so stark geworden, dass sich die Säkularen mit Gegendemonstrationen zu Wort melden, Staatspräsident Peres eingeschlossen. Sie fürchten, die Offenheit der israelischen Gesellschaft könnte in Gefahr geraten, abgesehen davon, dass es in Israel auch Muslime, Drusen, Christen, Bahai und andere Religionsgemeinschaften gibt, die Religion des „neuen Atheismus“ nicht zu vergessen.

Allzu lange hatte man dem Thema Fundamentalismus nur im Kontext mit dem Islam oder allenfalls den christlichen Evangelikalen Aufmerksamkeit gewidmet. Doch die „Rache Gottes“ (so vor vielen Jahren Gilles Kepel) ist in fast allen Religionen zu beobachten. Selbst der religiös eigentlich tolerante Hinduismus hat im Zusammenstoß mit der modernen Welt hier und da wieder fanatische, politisch-radikale Züge entwickelt. War es nur eine Frage der Zeit, bis auch das stark vom Religionsgesetz geprägte, darin dem Islam nicht unähnliche Judentum solche Tendenzen zeigte?


Über die Gründe wird so schnell kein einheitliches Urteil zu finden sein. Sie dürften vom Einfluss politischer Krisen bis hin zu Fragen der Identität im Zeitalter der Globalisierung reichen. In Israel mit seiner engen Verflechtung von jüdischer Religion und Staatsverständnis hat auch die - religiös begründete - Duldung der Siedlungspolitik im biblischen „Judäa und Samaria“ daran ihren Anteil.

Wer ist Jude?: Kulturkampf in Israel - Politik - FAZ

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