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Leitartikel Wirtschaft
Integrationsmotor Strom und Gas
Ein gemeinsamer Energiemarkt in Südosteuropa / Von Carola Kaps, Brüssel
20. Juni 2005 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Genau zu dem Zeitpunkt, an dem Brüssel künftigen Erweiterungsrunden mehr als zurückhaltend gegenübersteht, schickt sich Südosteuropa an, durch eine intensivere regionale Zusammenarbeit die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu schaffen. Nach dem Vorbild der europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft - des frühen Nukleus der europäischen Integration - will Südosteuropa mit Strom und Gas das Fundament einer dauerhaften und fruchtbaren regionalen Zusammenarbeit legen. In der Energie-Kooperation sieht man die große Chance, die von Krieg und Haß geschlagenen Wunden zu heilen, das Zusammenleben zu normalisieren und die Region näher an die Europäische Union zu rücken. Den Anstoß gab der Stabilitätspakt für Südosteuropa. Im Rahmen des sogenannten Athen-Prozesses wurde seit 2002 gemeinsam mit der EU über den gemeinsamen Energiemarkt verhandelt.
Jetzt liegt der regionale Energievertrag auf dem Tisch. Zehn Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges und fünf Jahre nachdem die blutigen Auseinandersetzungen im Kosovo beendet worden sind, ist dies fast ein Wunder. In Brüssel hat zu Beginn der Verhandlungen niemand geglaubt, ehemalige Kriegsgegner und mißtrauische Nachbarn ließen sich an einen Verhandlungstisch bringen und vom Nutzen einer intensiven Zusammenarbeit im Energiesektor überzeugen. Insofern war der Mentalitätswandel, der sich in relativ kurzer Zeit eingestellt hat, mehr als überraschend. Dies heißt freilich nicht, daß die Paraphierung des Energievertrages aus Albanern, Bulgaren, Bosniern, Kroaten, Mazedoniern, Serben, Montenegrinern, Rumänen, Türken und Kosovaren jetzt die besten Freunde gemacht hätte; insgeheim würden es wohl die meisten nach wie vor vorziehen, energiepolitisch unabhängig zu bleiben.
Ein ehrlicher Blick auf die eigene Versorgungslage und die in Zukunft anfallenden Kosten hat die Staaten jedoch eines Besseren belehrt. Denn: Im gemeinsamen südosteuropäischen Energiemarkt müssen während der nächsten zehn Jahre Investitionen von rund 20 Milliarden Euro für die Modernisierung der bestehenden Kraftwerke, deren Anpassung an europäische Standards sowie den Aufbau neuer grenzüberschreitender Energienetze getätigt werden. Diese Summe würde voraussichtlich auf mehr als 30 Milliarden Euro steigen, sollten die Länder den Alleingang vorziehen, schreibt die Weltbank. Ein weiteres kommt hinzu: Rapide abnehmende eigene Gasvorkommen und die wachsende Versorgungsabhängigkeit von Rußland und Iran schüren die Angst, zum Spielball dieser großen Energieexporteure zu werden.
Vor diesem Hintergrund fiel der Gedanke, gemeinsam mit der EU eine starke rechtliche Basis für einen regionalen Energiemarkt auszuarbeiten und die EU gleichsam als Schutzpatron und potenten Partner zu gewinnen, auf fruchtbaren Boden. Darüber hinaus war für Länder wie Bosnien-Hercegovina oder auch Kroatien die vertragliche Einbindung Serbiens ein zusätzlicher Pluspunkt, da sie ihr Gas vorwiegend aus serbischen Pipelines erhalten. Ein weiterer Anreiz war für die Südosteuropäer auch der freie Zugang zum europäischen Markt. Dank großer Braunkohlevorkommen und viel Wasserkraft ist vor allem in den sechs Staaten des ehemaligen Jugoslawiens erhebliches Exportpotential vorhanden. Aber auch Albanien, Rumänien und Bulgarien rechnen sich Exportchancen aus, denn schon heute produzieren die Südosteuropäer gemeinsam mehr Energie, als sie selbst verbrauchen.
Auf der Grundlage des Vertrages verpflichten sich die Südosteuropäer zur Übernahme der Europäischen Energie-Richtlinien. Das bedeutet, daß sie ihre Märkte liberalisieren und noch in diesem Jahr für ausländische Wettbewerber öffnen müssen. Von 2008 an sollen große Unternehmen, von 2015 an auch die privaten Haushalte ihre Energielieferanten frei wählen dürfen. Daneben enthält der Vertrag auch die soziale Verpflichtung, selbst arme Haushalte zu jeder Zeit mit Strom zu versorgen. Die EU verlangt weiterhin die Schaffung politisch unabhängiger Energie-Regulatoren und die klare Trennung der Zuständigkeiten für Netz, Produktion und Vermarktung. Auch der Energieexport in die EU unterliegt strengen Auflagen: Die Südosteuropäer müssen alle EU-Standards hinsichtlich Umwelt und Wettbewerb erfüllen. Die EU werde weder Vorteile durch Wettbewerbsverzerrungen noch durch Nichtbeachtung von Umweltstandards dulden, heißt es in der Generaldirektion für Transport und Energie in Brüssel.
Diese Warnung macht deutlich, wieviel Arbeit noch vor den Südosteuropäern liegt und wie hoch der finanzielle Einsatz sein wird, um alle Auflagen der EU zu erfüllen. Eine helfende Hand bieten schon jetzt die internationalen Finanzorganisationen. Die Weltbank hat eine Milliarde Dollar bereitgestellt und in Rumänien, Albanien und der Türkei erste Projekte verwirklicht. Die Osteuropabank sieht ihrerseits den Energiesektor Südosteuropas als eine ihrer wichtigsten Zukunftsaufgaben an. Eine Finanzzusage der EU für den Energiemarkt gibt es zwar nicht; indessen dürften auch EU-Gelder aus den normalen Hilfsprogrammen für die Region im Energiemarkt zum Einsatz kommen. Ein wichtiger Beitrag wird auch vom Privatsektor erwartet. Zahlreiche große west- und osteuropäische Energieversorger haben sich schon im südosteuropäischen Markt eingekauft und planen umfassende Modernisierungsinvestitionen.
All dies ist ermutigend, zumal sich Südosteuropa jetzt auch handelspolitisch auf die Schaffung einer gemeinsamen Freihandelszone verständigt hat. Brüssel hat diesen Prozeß angestoßen, ein Rückzug wäre jetzt fatal.
Text: F.A.Z., 21.06.2005, Nr. 141 / Seite 13
Integrationsmotor Strom und Gas
Ein gemeinsamer Energiemarkt in Südosteuropa / Von Carola Kaps, Brüssel
20. Juni 2005 Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie: Genau zu dem Zeitpunkt, an dem Brüssel künftigen Erweiterungsrunden mehr als zurückhaltend gegenübersteht, schickt sich Südosteuropa an, durch eine intensivere regionale Zusammenarbeit die Voraussetzungen für einen EU-Beitritt zu schaffen. Nach dem Vorbild der europäischen Kohle- und Stahlgemeinschaft - des frühen Nukleus der europäischen Integration - will Südosteuropa mit Strom und Gas das Fundament einer dauerhaften und fruchtbaren regionalen Zusammenarbeit legen. In der Energie-Kooperation sieht man die große Chance, die von Krieg und Haß geschlagenen Wunden zu heilen, das Zusammenleben zu normalisieren und die Region näher an die Europäische Union zu rücken. Den Anstoß gab der Stabilitätspakt für Südosteuropa. Im Rahmen des sogenannten Athen-Prozesses wurde seit 2002 gemeinsam mit der EU über den gemeinsamen Energiemarkt verhandelt.
Jetzt liegt der regionale Energievertrag auf dem Tisch. Zehn Jahre nach Ende des Bosnien-Krieges und fünf Jahre nachdem die blutigen Auseinandersetzungen im Kosovo beendet worden sind, ist dies fast ein Wunder. In Brüssel hat zu Beginn der Verhandlungen niemand geglaubt, ehemalige Kriegsgegner und mißtrauische Nachbarn ließen sich an einen Verhandlungstisch bringen und vom Nutzen einer intensiven Zusammenarbeit im Energiesektor überzeugen. Insofern war der Mentalitätswandel, der sich in relativ kurzer Zeit eingestellt hat, mehr als überraschend. Dies heißt freilich nicht, daß die Paraphierung des Energievertrages aus Albanern, Bulgaren, Bosniern, Kroaten, Mazedoniern, Serben, Montenegrinern, Rumänen, Türken und Kosovaren jetzt die besten Freunde gemacht hätte; insgeheim würden es wohl die meisten nach wie vor vorziehen, energiepolitisch unabhängig zu bleiben.
Ein ehrlicher Blick auf die eigene Versorgungslage und die in Zukunft anfallenden Kosten hat die Staaten jedoch eines Besseren belehrt. Denn: Im gemeinsamen südosteuropäischen Energiemarkt müssen während der nächsten zehn Jahre Investitionen von rund 20 Milliarden Euro für die Modernisierung der bestehenden Kraftwerke, deren Anpassung an europäische Standards sowie den Aufbau neuer grenzüberschreitender Energienetze getätigt werden. Diese Summe würde voraussichtlich auf mehr als 30 Milliarden Euro steigen, sollten die Länder den Alleingang vorziehen, schreibt die Weltbank. Ein weiteres kommt hinzu: Rapide abnehmende eigene Gasvorkommen und die wachsende Versorgungsabhängigkeit von Rußland und Iran schüren die Angst, zum Spielball dieser großen Energieexporteure zu werden.
Vor diesem Hintergrund fiel der Gedanke, gemeinsam mit der EU eine starke rechtliche Basis für einen regionalen Energiemarkt auszuarbeiten und die EU gleichsam als Schutzpatron und potenten Partner zu gewinnen, auf fruchtbaren Boden. Darüber hinaus war für Länder wie Bosnien-Hercegovina oder auch Kroatien die vertragliche Einbindung Serbiens ein zusätzlicher Pluspunkt, da sie ihr Gas vorwiegend aus serbischen Pipelines erhalten. Ein weiterer Anreiz war für die Südosteuropäer auch der freie Zugang zum europäischen Markt. Dank großer Braunkohlevorkommen und viel Wasserkraft ist vor allem in den sechs Staaten des ehemaligen Jugoslawiens erhebliches Exportpotential vorhanden. Aber auch Albanien, Rumänien und Bulgarien rechnen sich Exportchancen aus, denn schon heute produzieren die Südosteuropäer gemeinsam mehr Energie, als sie selbst verbrauchen.
Auf der Grundlage des Vertrages verpflichten sich die Südosteuropäer zur Übernahme der Europäischen Energie-Richtlinien. Das bedeutet, daß sie ihre Märkte liberalisieren und noch in diesem Jahr für ausländische Wettbewerber öffnen müssen. Von 2008 an sollen große Unternehmen, von 2015 an auch die privaten Haushalte ihre Energielieferanten frei wählen dürfen. Daneben enthält der Vertrag auch die soziale Verpflichtung, selbst arme Haushalte zu jeder Zeit mit Strom zu versorgen. Die EU verlangt weiterhin die Schaffung politisch unabhängiger Energie-Regulatoren und die klare Trennung der Zuständigkeiten für Netz, Produktion und Vermarktung. Auch der Energieexport in die EU unterliegt strengen Auflagen: Die Südosteuropäer müssen alle EU-Standards hinsichtlich Umwelt und Wettbewerb erfüllen. Die EU werde weder Vorteile durch Wettbewerbsverzerrungen noch durch Nichtbeachtung von Umweltstandards dulden, heißt es in der Generaldirektion für Transport und Energie in Brüssel.
Diese Warnung macht deutlich, wieviel Arbeit noch vor den Südosteuropäern liegt und wie hoch der finanzielle Einsatz sein wird, um alle Auflagen der EU zu erfüllen. Eine helfende Hand bieten schon jetzt die internationalen Finanzorganisationen. Die Weltbank hat eine Milliarde Dollar bereitgestellt und in Rumänien, Albanien und der Türkei erste Projekte verwirklicht. Die Osteuropabank sieht ihrerseits den Energiesektor Südosteuropas als eine ihrer wichtigsten Zukunftsaufgaben an. Eine Finanzzusage der EU für den Energiemarkt gibt es zwar nicht; indessen dürften auch EU-Gelder aus den normalen Hilfsprogrammen für die Region im Energiemarkt zum Einsatz kommen. Ein wichtiger Beitrag wird auch vom Privatsektor erwartet. Zahlreiche große west- und osteuropäische Energieversorger haben sich schon im südosteuropäischen Markt eingekauft und planen umfassende Modernisierungsinvestitionen.
All dies ist ermutigend, zumal sich Südosteuropa jetzt auch handelspolitisch auf die Schaffung einer gemeinsamen Freihandelszone verständigt hat. Brüssel hat diesen Prozeß angestoßen, ein Rückzug wäre jetzt fatal.
Text: F.A.Z., 21.06.2005, Nr. 141 / Seite 13