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Zwei Fingerbreit Ehre gab uns Gott
Kosovarische Vermittler haben geschafft, woran das Osmanische Reich, die Aufklärung und der Kommunismus gescheitert sind: Sie haben Kosovo vom Fluch der Blutrache befreit. Ganz im Gegensatz zu Albanien, wo der Kanun, das archaische Gewohnheitsrecht, seit dem Ende des Kommunismus wieder Dörfer lahm legt und Familien zur Flucht zwingt.
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«Kann ich die Fragen nun stellen?» Der Übersetzer blickt erschrocken. «Nein, nein», flüstert er, «zuerst Kaffee trinken.» Nachdem der Kellner huldvoll die Espressi serviert hat, zückt der Übersetzer seine Zigaretten, hält dem älteren Herrn das Päckchen mit der linken Hand entgegen, die rechte hält er auf sein Herz. Der Herr tut es ihm gleich und zupft eine «West» aus der Schachtel. Und dann beginnt er zu sprechen, bedankt sich für das Interesse an Kosovo, dankt im Namen der Kosovaren der gesamten Schweizer Bevölkerung und fragt: «Was möchte der Gast aus der Schweiz wissen?»
Selim Lulaj ist Geschichtslehrer und Vermittler in Fragen des Kanuns, des albanischen Gewohnheitsrechts. Wir treffen ihn in einem Restaurant in Deçan, im Dukagjini-Gebiet, das sich vom westlichen Teil Kosovos bis hoch in die albanischen Bergtäler erstreckt. Es ist das Kernland des Kanuns. Der Respekt, der Selim Lulaj hier entgegengebracht wird, hat einen Grund. Lulaj ist eine Legende. Er gehört zu den Männern, die geschafft haben, woran das Osmanische Reich, die Aufklärung und der Kommunismus gescheitert sind: Sie haben in Kosovo die Blutrache, die jahrhundertelang wie ein Fluch über der kargen Landschaft lag, den Garaus gemacht. Die Blutrache (albanisch: «gjak», «gjakmarrje») ist Kernstück des Kanuns. 1260 Vorschriften, die der Kitt der abgelegenen, autonomen albanischen Dörfer waren. Aber oft auch ihr Verderben.
Sein erster Fall
«Herr Lulaj, wie kam es, dass Sie vom jungen Sekundarlehrer zum angesehenen Kämpfer gegen die Blutrache wurden?» Und Lulaj beginnt von Fazli und Rexhep zu erzählen, von seinem ersten Vermittlungsfall in den Siebzigerjahren. Es ist eine Geschichte, die alle Elemente einer guten Story hat: Ehre und Tod, Rache und Versöhnung. Eine weitere Episode der Blutrache, die sich zuvor in Variationen schon Tausende Male abgespielt hat, nur in anderen Zeiten, an anderen Orten, mit anderen Darstellern. Als wäre sie den Strophen eines bittersüssen kosovarischen Liedes entnommen, erzählt die Handlung vom Los eines Einzelnen, meint aber das Schicksal der Nation.
Als hinter Fazli die schwere Gefängnistür in ihre Angeln krachte – zehn Jahre hatte ihm das dunkle Loch Schutz geboten –, wusste er, dass seine Schuld noch nicht gesühnt war. In seinem Heimatdorf Deçan wartete Rexhep, das Schiesseisen stets im Gurt. Fazli hatte Rexheps Bruder umgebracht und war damit «ins Blut gefallen», wie es im Kanun heisst. Die lange Haftstrafe, die Fazli deswegen abgesessen hatte, war für Rexhep ohne Bedeutung. Was zählte, war, für die Totenruhe seines Bruders zu sorgen. In früheren Jahrhunderten hängte die Familie das Hemd des Getöteten über ihr Haus. Verfärbten sich die Blutflecken gelb, sahen die Menschen darin ein Zeichen, dass der Tote nach Vergeltung ruft, seine Seele keine Ruhe findet, bevor sein Blut nicht gerächt ist.
Zu den näheren Umständen von Fazlis Tat, etwa dem Motiv, weiss oder sagt Selim Lulaj bloss, dass es Mord gewesen sei. Mord, das bedeutet gemäss Kanun, dass die Ehre der Familie verletzt wurde. Die Ehre gehört zu den Schlüsselbegriffen des Gewohnheitsrechts. Die 1933 erschienene Niederschrift der bedeutendsten Kanunversion, das «Kanuni Lek Dukagjinit», widmet ihr ein eigenes Kapitel. Zwanzig Seiten stark ist es. Und der Ehrbegriff färbt auch auf das restliche Gesetz ab. Haft- und Körperstrafen spricht der Kanun keine
http://www.espace.ch/artikel_108061.html
Kosovarische Vermittler haben geschafft, woran das Osmanische Reich, die Aufklärung und der Kommunismus gescheitert sind: Sie haben Kosovo vom Fluch der Blutrache befreit. Ganz im Gegensatz zu Albanien, wo der Kanun, das archaische Gewohnheitsrecht, seit dem Ende des Kommunismus wieder Dörfer lahm legt und Familien zur Flucht zwingt.
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«Kann ich die Fragen nun stellen?» Der Übersetzer blickt erschrocken. «Nein, nein», flüstert er, «zuerst Kaffee trinken.» Nachdem der Kellner huldvoll die Espressi serviert hat, zückt der Übersetzer seine Zigaretten, hält dem älteren Herrn das Päckchen mit der linken Hand entgegen, die rechte hält er auf sein Herz. Der Herr tut es ihm gleich und zupft eine «West» aus der Schachtel. Und dann beginnt er zu sprechen, bedankt sich für das Interesse an Kosovo, dankt im Namen der Kosovaren der gesamten Schweizer Bevölkerung und fragt: «Was möchte der Gast aus der Schweiz wissen?»
Selim Lulaj ist Geschichtslehrer und Vermittler in Fragen des Kanuns, des albanischen Gewohnheitsrechts. Wir treffen ihn in einem Restaurant in Deçan, im Dukagjini-Gebiet, das sich vom westlichen Teil Kosovos bis hoch in die albanischen Bergtäler erstreckt. Es ist das Kernland des Kanuns. Der Respekt, der Selim Lulaj hier entgegengebracht wird, hat einen Grund. Lulaj ist eine Legende. Er gehört zu den Männern, die geschafft haben, woran das Osmanische Reich, die Aufklärung und der Kommunismus gescheitert sind: Sie haben in Kosovo die Blutrache, die jahrhundertelang wie ein Fluch über der kargen Landschaft lag, den Garaus gemacht. Die Blutrache (albanisch: «gjak», «gjakmarrje») ist Kernstück des Kanuns. 1260 Vorschriften, die der Kitt der abgelegenen, autonomen albanischen Dörfer waren. Aber oft auch ihr Verderben.
Sein erster Fall
«Herr Lulaj, wie kam es, dass Sie vom jungen Sekundarlehrer zum angesehenen Kämpfer gegen die Blutrache wurden?» Und Lulaj beginnt von Fazli und Rexhep zu erzählen, von seinem ersten Vermittlungsfall in den Siebzigerjahren. Es ist eine Geschichte, die alle Elemente einer guten Story hat: Ehre und Tod, Rache und Versöhnung. Eine weitere Episode der Blutrache, die sich zuvor in Variationen schon Tausende Male abgespielt hat, nur in anderen Zeiten, an anderen Orten, mit anderen Darstellern. Als wäre sie den Strophen eines bittersüssen kosovarischen Liedes entnommen, erzählt die Handlung vom Los eines Einzelnen, meint aber das Schicksal der Nation.
Als hinter Fazli die schwere Gefängnistür in ihre Angeln krachte – zehn Jahre hatte ihm das dunkle Loch Schutz geboten –, wusste er, dass seine Schuld noch nicht gesühnt war. In seinem Heimatdorf Deçan wartete Rexhep, das Schiesseisen stets im Gurt. Fazli hatte Rexheps Bruder umgebracht und war damit «ins Blut gefallen», wie es im Kanun heisst. Die lange Haftstrafe, die Fazli deswegen abgesessen hatte, war für Rexhep ohne Bedeutung. Was zählte, war, für die Totenruhe seines Bruders zu sorgen. In früheren Jahrhunderten hängte die Familie das Hemd des Getöteten über ihr Haus. Verfärbten sich die Blutflecken gelb, sahen die Menschen darin ein Zeichen, dass der Tote nach Vergeltung ruft, seine Seele keine Ruhe findet, bevor sein Blut nicht gerächt ist.
Zu den näheren Umständen von Fazlis Tat, etwa dem Motiv, weiss oder sagt Selim Lulaj bloss, dass es Mord gewesen sei. Mord, das bedeutet gemäss Kanun, dass die Ehre der Familie verletzt wurde. Die Ehre gehört zu den Schlüsselbegriffen des Gewohnheitsrechts. Die 1933 erschienene Niederschrift der bedeutendsten Kanunversion, das «Kanuni Lek Dukagjinit», widmet ihr ein eigenes Kapitel. Zwanzig Seiten stark ist es. Und der Ehrbegriff färbt auch auf das restliche Gesetz ab. Haft- und Körperstrafen spricht der Kanun keine
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