(Vortrag am 12.6.99 in der Europäischen Akademie)
Holm Sundhausen
Teil 1
Ich möchte meine Ausführungen mit drei kurzen Vorbemerkungen einleiten:
1) Auch wer nicht die Auffassung teilt, daß die Geschichte das Werk “großer Männer” ist, wird zugeben müssen, daß einzelne Akteure in Situationen der Anomie, der Erosion von Institutionen- und Machtssystemen, in Situationen allgemeiner Verunsicherung und Orientierungslosigkeit eine herausragende Rolle spielen können, - eine Rolle, die ihnen unter “normalen” Bedingungen nie zugefallen wäre. Im ehem. Jugoslawien bahnte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine solche Situation an: die institutionalisierte Macht des Bundesstaats war kollabiert, die Föderation war kaum noch regierbar und alles, woran sich die Bürger bis dahin (sei es auch wider Willen) orientiert hatten, hatte seine Bedeutung eingebüßt oder befand sich in Auflösung: das jugoslawische Selbstverwaltungsmodell, die Blockfreiheit, die jugoslawische politische Identität und der einst - im Vergleich zu den Ostblockländern - deutliche Vorsprung im Lebensstandard und in der begrenzten Ausübung bürgerlicher Rechte. Ein Macht- und Wertevakuum tat sich vor den erschrockenen Bürgern auf: Der Bund war unfähig zu agieren. Alle Macht konzentrierte sich in den kommunistischen (oft korrumpierten) Führungscliquen der Teilrepubliken. Nur die Jugoslawische Volksarmee stand noch außerhalb des allgemeinen Auflösungprozesses. Das war die große Stunde einzelner Akteure, die mittels Manipulation und Indoktrination das Vakuum zu füllen suchten.
2) Slobodan Miloševic, der 1986/87 die politische Macht in Serbien an sich reißen konnte, war der Hauptverantwortliche (der Haupt-, nicht der Alleinverantwortliche) für das, was im auseinanderberechenden bzw. auseinandergebrochenen Jugoslawien seit 1991 bis heute an Gewalt praktiziert wurde. Es geht hierbei nicht um die strafrechtliche Verantwortung (diese muß vom Haager Kriegstribunal geklärt werden), sondern um die politische Verantwortung. Es war Miloševiæ, der die Verunsicherung in der serbischen Gesellschaft und die latente Unzufriedenheit der Bevölkerung nationalistisch fokussierte, mit Mythen, Stereotypen und Feindbildern versah und jene nationalistischen (mitunter rassistischen) Leidenschaften schürte, die sich in den 90er Jahre blutig entluden. Unterstützt wurde Miloševiæ von serbischen Intellektuellen und hochrangigen Mitgliedern der serbisch-orthodoxen Kirche, die sich als nationalistische “Vordenker” betätigt hatten. Es war Miloševic, der im Frühjahr 1989 die Demontage des zweiten jugoslawischen Staats vollzog, und er war es, der die Führer der Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina und wohl auch die Serben in Kosovo auf Konfliktkurs brachte.
Ich habe gesagt: Miloševic trug (und trägt) die Haupt-, aber nicht die Alleinverantwortung für das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und für die Exzesse der 90er Jahre. Mitverantwortliche finden sich sowohl im serbischen Lager (man denke stellvertretend an Radovan Karadzic, Ratko Mladic u.a.) als auch in den nationalistischen Eliten anderer Republiken (etwa in Slowenien und v.a. in Kroatien). Der 1990 gewählte Präsident Kroatiens Franjo Tudjman und seine Mafia aus Herzegowina- und Auslandskroaten tragen ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung für die Ereignisse in Jugoslawien. Tudjman ist nicht viel besser als Miloševic. Was beide unterscheidet, ist die Tatsache, daß Miloševic über wesentlich mehr Machtmittel und Ressourcen verfügte als Tudjman, der zunächst aus der Defensive heraus agieren mußte, und daß Miloševic offenbar keinerlei Überzeugung besitzt, während Tudjman ein fanatischer kroatischer Nationalist ist.
3) Trotz der überragenden Rolle, die Milosevic als Akteur besetzt hat, geht es im folgenden weniger um seine Person als um das Umfeld, in dem er agierte, das seine politische Karriere prägte und das er seinerseits mitgestaltete. Kurzum: es geht um die Wechselbeziehung zwischen Akteuren und Strukturen, zwischen Handlung und Ideologie, zwischen Umbruch und Tradition.
Dennoch möchte ich in aller Kürze einige Informationen zur Biographie Miloševics vorausschicken: Slobodan Miloševic wurde 1941 in Pozarevac östl. von Belgrad geboren. Sein aus Montenegro stammender Vater hatte ein Priesterseminar in Cetinje, dann die Theologische Fakultät in Belgrad absolviert und war anschließend als Lehrer beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte er sich von Slobodans Mutter, die eine strenge Kommunistin und ebenfalls Lehrerin war. Miloševic wuchs bei der Mutter auf, die 1972 Selbstmord beging, während der Vater schon zehn Jahre zuvor in Montenegro verstorben war. Es war v.a. der Selbstmord der Mutter, der Miloševic nachhaltig prägte. Als Schüler soll Slobodan “zugeknüpft, ordentlich und zurückhaltend” gewesen sein; er trug dunkle Anzüge mit weißen Hemden und galt als pedantisch. Als Gymnasiast vertrat er die ideologische Linie der Partei (des Bundes der Kommunisten) u. setzte sich für “ideologische Reinheit und politische Wachsamkeit” ein. Mit ausgezeichnetem Zeugnis und Empfehlungen der örtlichen Parteiorganisation kam er 18jährig (also Ende der 50er Jahre) an die Juristische Fakultät in Belgrad. Abermals wird er als “zugeknüpft, ernst und von festen Überzeugungen geprägt” geschildert, als wirkungsvoll und Genie des Apparats”. Er hinterließ den Eindruck eines jungen, zuverlässigen Apparatchiks, der von der Macht und seiner Aufgabe fasziniert war.
Schon während der Schulzeit hatte Milosevic seine jetzige Frau Mira Markovic kennengelernt. Diese hatte als Kleinkind ihre Mutter verloren. Es war eine verwickelte und tragische Geschichte. Die Mutter war während des Weltkriegs Sekretärin der Belgrader Kommunistischen Partei gewesen. Sie wurde von der Gestapo verhaftet und später verdächtigt, unter Folter Namen preisgegeben zu haben. Noch während des Krieges wurde sie als “Verräterin” von den Kommunisten erschossen. Mira glaubte nicht an den Verrat ihrer Mutter und verehrte sie grenzenlos. Ihr Vater war ein bekannter Politkommissar bei den Partisanen.
Slobodan und Mira kamen somit beide aus einem kommunistisch geprägten Umfeld und hatten ihre jeweilige Mutter durch einen gewaltsamen Tod verloren. Es heißt, daß Miras Kindheit von der Tragödie ihrer Mutter überschattet war und daß sie sich davon nie hat befreien können. Insider schreiben ihr noch heute, als Führerin der Jugoslawischen Linkspartei (JUL) und einer der einflußreichsten Berater ihres Mannes, die Sensibilität eines Kindes zu. Es fehle ihr jeglicher Sinn für Realität. Dagegen besitze sie ein sicheres Gefühl für Gefahr und verstehe es meisterhaft, die Menschen zu täuschen. In ihrem Tagebuch, das sie während des Bosnien-Krieges von 1992-95 führte, vermischen sich die lyrischen Ergüsse eines verträumten Mädchens mit regelrechten Anweisungen zur Vernichtung des Gegners. Ihr Biograph Slavoljub Djukiæ vermutet: Beim Ehepaar Miloševic handle es sich um zwei Menschen, die sich aufgrund ihres persönlichen Leids weit von der Gesellschaft entfernt hätten und die nach dem Unglück der Gesellschaft geradezu süchtig seien. Da hätten sich offenbar zwei Unglückliche gefunden, und ihre Liebe nähre sich aus dem Unglück der Welt: eine psychologische Interpretation, auf deren Stichhaltigkeit hier nicht eingegangen werden kann und soll.
Miloševics weitere Karriere wurde entscheidend durch seinen Mentor Ivan Stambolic bestimmt, einen der führenden Köpfe des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens und des Bundes der Kommunisten Serbiens. Durch ihn erhielt Miloševic schon 1973 (als 22jähriger) eine leitende Position in der Firma Tehnogas, später eine führende Position bei der Belgrader Bank. Zugleich avancierte er zum Vorsitzenden des Belgrader Parteikomitees. Im Mai 1986 begann sein kometenhafter Aufstieg, als er mit Unterstützung Stambolics zum Präsidenten der Kommunisten Serbiens und anderthalb Jahre später (im Dezember 1987) - - nachdem er seinen langjährigen Mentor verraten und sich als nationalistischer Hoffnungsträger profiliert hatte - zum Präsidenten der Republik Serbien gewählt wurde.
Miloševics Rolle und seine politischen Ziele lassen sich aber nicht allein (und nicht einmal in erster Linie) aus seiner Biographie erklären. Sie sind eingebettet in ein kompliziertes ideologisch-mentales Umfeld, in dessen Schnittpunkt Kosovo und die “serbische Frage” stehen.
Kommen wir zu Kosovo: Was hat Kosovo mit Serbien zu tun? Vor Beginn der jüngsten Flucht- und Vertreibungswellen sollen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo Muslime, die überwiegende Mehrheit davon Albaner, gewesen sein. Die genaue Zahl kennt niemand, da die Kosovo-Albaner die jugoslawische Volkszählung von 1991 boykottierten. Amtlicherseits wurde die Zahl der Albaner i.J.1991 auf 1,6 Millionen (= 82% der Kosovo-Bevölkerung) beziffert. Die Zahl der Serben wurde mit 194.000 (= 10% der Bevölkerung) angegeben. Die ethnische und konfessionelle Struktur des Kosovo unterschied sich damit grundlegend von derjenigen in Bosnien- Herzegowina vor dem Krieg von 1992-95 oder von derjenigen in der “Republik Krajina” auf kroatischem Boden Anfang der 90er Jahre. Anders als Bosnien oder die Krajina war Kosovo nahezu ethnisch homogen; homogener als viele “Nationalstaaten” und weitaus homogener als die Republik Serbien in ihrer Gesamtheit. Kosovo war annähernd albanisch homogen, während Serben und Montenegriner nur eine kleine Minderheit stellten. Von allen im früheren Jugoslawien beheimateten Serben (insgesamt 8,1 Millionen) lebten in Kosovo Anfang der 80er Jahre nur 2,6 Prozent. Kosovo war damit alles andere als ein Zentrum des serbischen Siedlungsraums. Es stellte dessen Peripherie dar. Obwohl oder weil in Kosovo 1981 nur noch weniger als drei Prozent aller Serben lebten und ihr Anteil an der dortigen Bevölkerung auf 13% gesunken war, während er 1948 noch fast 24% betragen hatte, rückte die Autonome Provinz zunehmend ins Zentrum eines revitalisierten serbischen Nationalismus.
Was in den 80er und 90er Jahren in und um Kosovo passierte, ist nur vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, was als ”historisches Gedächtnis” der Serben apostrophiert wird: eine mit Mythen durchsetzte Erinnerungskultur, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum ideologischen Kern der serbischen Identität (zu einer Art politischer Theologie) geformt worden war. Die Vorstellung von Kosovo als ”Wiege” des mittelalterlichen Serbien, als Ort der ”heiligen Erzählung des serbischen Volkes”, als “serbisches Jerusalem” sowie die pathetische Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld am St. Veits-Tag (28. Juni) 1389 bilden die beiden Grundkomponenten des Kosovo- Mythos. Zum Arsenal dieses Mythos gehören das Gelübde von Kosovo, der Verrat des Vuk Brankoviæ, das Opfer des Miloš Obiliæ und das Genozid-Trauma.
Nach Auskunft der mündlichen Überlieferung habe der serbische Fürst Lazar, der das antiosmanische Heer befehligte, vor der Schlacht gelobt, daß er den ehrenhaften Tod einem Leben in Schande vorziehe. Lazar habe sich damit für die “ewige Freiheit” und das ”himmlische Reich” entschieden und die militärische Niederlage in einen transzendenten Sieg verwandelt. Bald nach seiner Enthauptung auf dem Amselfeld wurde er von der serbischen Kirche heilig gesprochen, - wie viele andere mittelalterliche serbische Herrscher vor ihm. Mit dem Lazar-Kult und dem St. Veits- Kult sowie den anderen Heiligenkulten für die Herrscher aus der Dynastie Nemanja wurden die Erinnerung an das mittelalterliche Serbien und das Gelübde von Kosovo sowie die Transzendenz- Vorstellungen vom ”himmlischen Reich” und vom ”himmlischen Volk (”nebeski narod”) über Generationen hinweg weitergegeben. Der analog zur Judas-Legende gestaltete Verratsmythos, demzufolge ein Gefolgsmann Lazars seinen Herrn (und mit ihm das gesamte Serbentum) nach einem Abendmahl am Vorabend der Schlacht verraten habe, sowie das Heldentum des legendären Sultan- Mörders, der sein Leben opferte, um die Serben zu rächen, enthalten klare Botschaften: der Tod ist einem Leben in Schande vorzuziehen; Heldentum und Opferbereitschaft ebnen den Weg zum ”himmlischen Reich”; Uneinigkeit und Verrat stürzen das Volk ins Verderben.
Die Schlacht von 1389 wurde schon kurz darauf (wenngleich historisch unzutreffend) als Untergang des serbischen Reiches, als ”größte Katastrophe” und als ”Schicksalswende” in der serbischen Geschichte gedeutet. Mit ihr hätten die ”fünfhundertjährige Sklaverei” durch die Türken, der ”Genozid” (!) und die “Pogrome” an den Serben ihren Anfang genommen. Das multiethnische und multikonfessionelle Osmanische Reich, das rund ein halbes Jahrtausend den Balkanraum beherrschte, gilt nicht nur den Serben, sondern auch den anderen Balkanvölker als “Reich des Bösen schlechtin”. Die 500 Jahre “türkischem Joch” werden als Unzeit verstanden, und alles, was während dieser Unzeit geschehen ist, ist Unrecht und bedarf der Korrektur: uneingeschränkt und mit allen Mitteln.
Der Kosovo-Mythos unterscheidet sich nicht grundlegend von den Mythen anderer europäischer Nationen samt ihren verschlüsselten Botschaften von Freiheit, Christentum, Heldenmut, Opferbereitschaft und ähnlichem. Als bloße Erinnerungskultur bereitet er keine Probleme. Seine Brisanz erhält er aus der Tatsache, daß der konkrete Ort des Erinnerns von den ”Erbfeinden” der serbischen Nation in Besitz genommen wurde und daß die Spannungen zwischen Serben und Albanern als Fortsetzung des (angeblich) jahrhundertelangen Kampfes zwischen ”Christentum und Islam” (als Teil des ”clash of civilizations”) verstanden werden. Die Albaner werden gleich den bosnischen Muslimen für den “Genozid” am serbischen Volk während des “türkischen Jochs” in die Verantwortung genommen: Daraus wird der Anspruch auf Wiedergutmachung erlittenen Unrechts und die “Rechtfertigung” antialbanischer Politik im 20. Jahrhundert abgeleitet: eine ebenso atavistische wie historisch verworrene, wissenschaftlich abstruse Argumentation. Doch die serbische Erinnerungskultur erhielt dadurch eine aktuelle handlungsrelevante und politische Komponente.
Holm Sundhausen
Teil 1
Ich möchte meine Ausführungen mit drei kurzen Vorbemerkungen einleiten:
1) Auch wer nicht die Auffassung teilt, daß die Geschichte das Werk “großer Männer” ist, wird zugeben müssen, daß einzelne Akteure in Situationen der Anomie, der Erosion von Institutionen- und Machtssystemen, in Situationen allgemeiner Verunsicherung und Orientierungslosigkeit eine herausragende Rolle spielen können, - eine Rolle, die ihnen unter “normalen” Bedingungen nie zugefallen wäre. Im ehem. Jugoslawien bahnte sich in der zweiten Hälfte der 80er Jahre eine solche Situation an: die institutionalisierte Macht des Bundesstaats war kollabiert, die Föderation war kaum noch regierbar und alles, woran sich die Bürger bis dahin (sei es auch wider Willen) orientiert hatten, hatte seine Bedeutung eingebüßt oder befand sich in Auflösung: das jugoslawische Selbstverwaltungsmodell, die Blockfreiheit, die jugoslawische politische Identität und der einst - im Vergleich zu den Ostblockländern - deutliche Vorsprung im Lebensstandard und in der begrenzten Ausübung bürgerlicher Rechte. Ein Macht- und Wertevakuum tat sich vor den erschrockenen Bürgern auf: Der Bund war unfähig zu agieren. Alle Macht konzentrierte sich in den kommunistischen (oft korrumpierten) Führungscliquen der Teilrepubliken. Nur die Jugoslawische Volksarmee stand noch außerhalb des allgemeinen Auflösungprozesses. Das war die große Stunde einzelner Akteure, die mittels Manipulation und Indoktrination das Vakuum zu füllen suchten.
2) Slobodan Miloševic, der 1986/87 die politische Macht in Serbien an sich reißen konnte, war der Hauptverantwortliche (der Haupt-, nicht der Alleinverantwortliche) für das, was im auseinanderberechenden bzw. auseinandergebrochenen Jugoslawien seit 1991 bis heute an Gewalt praktiziert wurde. Es geht hierbei nicht um die strafrechtliche Verantwortung (diese muß vom Haager Kriegstribunal geklärt werden), sondern um die politische Verantwortung. Es war Miloševiæ, der die Verunsicherung in der serbischen Gesellschaft und die latente Unzufriedenheit der Bevölkerung nationalistisch fokussierte, mit Mythen, Stereotypen und Feindbildern versah und jene nationalistischen (mitunter rassistischen) Leidenschaften schürte, die sich in den 90er Jahre blutig entluden. Unterstützt wurde Miloševiæ von serbischen Intellektuellen und hochrangigen Mitgliedern der serbisch-orthodoxen Kirche, die sich als nationalistische “Vordenker” betätigt hatten. Es war Miloševic, der im Frühjahr 1989 die Demontage des zweiten jugoslawischen Staats vollzog, und er war es, der die Führer der Serben in Kroatien und Bosnien-Herzegowina und wohl auch die Serben in Kosovo auf Konfliktkurs brachte.
Ich habe gesagt: Miloševic trug (und trägt) die Haupt-, aber nicht die Alleinverantwortung für das Auseinanderbrechen Jugoslawiens und für die Exzesse der 90er Jahre. Mitverantwortliche finden sich sowohl im serbischen Lager (man denke stellvertretend an Radovan Karadzic, Ratko Mladic u.a.) als auch in den nationalistischen Eliten anderer Republiken (etwa in Slowenien und v.a. in Kroatien). Der 1990 gewählte Präsident Kroatiens Franjo Tudjman und seine Mafia aus Herzegowina- und Auslandskroaten tragen ein gerüttelt Maß an Mitverantwortung für die Ereignisse in Jugoslawien. Tudjman ist nicht viel besser als Miloševic. Was beide unterscheidet, ist die Tatsache, daß Miloševic über wesentlich mehr Machtmittel und Ressourcen verfügte als Tudjman, der zunächst aus der Defensive heraus agieren mußte, und daß Miloševic offenbar keinerlei Überzeugung besitzt, während Tudjman ein fanatischer kroatischer Nationalist ist.
3) Trotz der überragenden Rolle, die Milosevic als Akteur besetzt hat, geht es im folgenden weniger um seine Person als um das Umfeld, in dem er agierte, das seine politische Karriere prägte und das er seinerseits mitgestaltete. Kurzum: es geht um die Wechselbeziehung zwischen Akteuren und Strukturen, zwischen Handlung und Ideologie, zwischen Umbruch und Tradition.
Dennoch möchte ich in aller Kürze einige Informationen zur Biographie Miloševics vorausschicken: Slobodan Miloševic wurde 1941 in Pozarevac östl. von Belgrad geboren. Sein aus Montenegro stammender Vater hatte ein Priesterseminar in Cetinje, dann die Theologische Fakultät in Belgrad absolviert und war anschließend als Lehrer beschäftigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg trennte er sich von Slobodans Mutter, die eine strenge Kommunistin und ebenfalls Lehrerin war. Miloševic wuchs bei der Mutter auf, die 1972 Selbstmord beging, während der Vater schon zehn Jahre zuvor in Montenegro verstorben war. Es war v.a. der Selbstmord der Mutter, der Miloševic nachhaltig prägte. Als Schüler soll Slobodan “zugeknüpft, ordentlich und zurückhaltend” gewesen sein; er trug dunkle Anzüge mit weißen Hemden und galt als pedantisch. Als Gymnasiast vertrat er die ideologische Linie der Partei (des Bundes der Kommunisten) u. setzte sich für “ideologische Reinheit und politische Wachsamkeit” ein. Mit ausgezeichnetem Zeugnis und Empfehlungen der örtlichen Parteiorganisation kam er 18jährig (also Ende der 50er Jahre) an die Juristische Fakultät in Belgrad. Abermals wird er als “zugeknüpft, ernst und von festen Überzeugungen geprägt” geschildert, als wirkungsvoll und Genie des Apparats”. Er hinterließ den Eindruck eines jungen, zuverlässigen Apparatchiks, der von der Macht und seiner Aufgabe fasziniert war.
Schon während der Schulzeit hatte Milosevic seine jetzige Frau Mira Markovic kennengelernt. Diese hatte als Kleinkind ihre Mutter verloren. Es war eine verwickelte und tragische Geschichte. Die Mutter war während des Weltkriegs Sekretärin der Belgrader Kommunistischen Partei gewesen. Sie wurde von der Gestapo verhaftet und später verdächtigt, unter Folter Namen preisgegeben zu haben. Noch während des Krieges wurde sie als “Verräterin” von den Kommunisten erschossen. Mira glaubte nicht an den Verrat ihrer Mutter und verehrte sie grenzenlos. Ihr Vater war ein bekannter Politkommissar bei den Partisanen.
Slobodan und Mira kamen somit beide aus einem kommunistisch geprägten Umfeld und hatten ihre jeweilige Mutter durch einen gewaltsamen Tod verloren. Es heißt, daß Miras Kindheit von der Tragödie ihrer Mutter überschattet war und daß sie sich davon nie hat befreien können. Insider schreiben ihr noch heute, als Führerin der Jugoslawischen Linkspartei (JUL) und einer der einflußreichsten Berater ihres Mannes, die Sensibilität eines Kindes zu. Es fehle ihr jeglicher Sinn für Realität. Dagegen besitze sie ein sicheres Gefühl für Gefahr und verstehe es meisterhaft, die Menschen zu täuschen. In ihrem Tagebuch, das sie während des Bosnien-Krieges von 1992-95 führte, vermischen sich die lyrischen Ergüsse eines verträumten Mädchens mit regelrechten Anweisungen zur Vernichtung des Gegners. Ihr Biograph Slavoljub Djukiæ vermutet: Beim Ehepaar Miloševic handle es sich um zwei Menschen, die sich aufgrund ihres persönlichen Leids weit von der Gesellschaft entfernt hätten und die nach dem Unglück der Gesellschaft geradezu süchtig seien. Da hätten sich offenbar zwei Unglückliche gefunden, und ihre Liebe nähre sich aus dem Unglück der Welt: eine psychologische Interpretation, auf deren Stichhaltigkeit hier nicht eingegangen werden kann und soll.
Miloševics weitere Karriere wurde entscheidend durch seinen Mentor Ivan Stambolic bestimmt, einen der führenden Köpfe des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens und des Bundes der Kommunisten Serbiens. Durch ihn erhielt Miloševic schon 1973 (als 22jähriger) eine leitende Position in der Firma Tehnogas, später eine führende Position bei der Belgrader Bank. Zugleich avancierte er zum Vorsitzenden des Belgrader Parteikomitees. Im Mai 1986 begann sein kometenhafter Aufstieg, als er mit Unterstützung Stambolics zum Präsidenten der Kommunisten Serbiens und anderthalb Jahre später (im Dezember 1987) - - nachdem er seinen langjährigen Mentor verraten und sich als nationalistischer Hoffnungsträger profiliert hatte - zum Präsidenten der Republik Serbien gewählt wurde.
Miloševics Rolle und seine politischen Ziele lassen sich aber nicht allein (und nicht einmal in erster Linie) aus seiner Biographie erklären. Sie sind eingebettet in ein kompliziertes ideologisch-mentales Umfeld, in dessen Schnittpunkt Kosovo und die “serbische Frage” stehen.
Kommen wir zu Kosovo: Was hat Kosovo mit Serbien zu tun? Vor Beginn der jüngsten Flucht- und Vertreibungswellen sollen mehr als 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo Muslime, die überwiegende Mehrheit davon Albaner, gewesen sein. Die genaue Zahl kennt niemand, da die Kosovo-Albaner die jugoslawische Volkszählung von 1991 boykottierten. Amtlicherseits wurde die Zahl der Albaner i.J.1991 auf 1,6 Millionen (= 82% der Kosovo-Bevölkerung) beziffert. Die Zahl der Serben wurde mit 194.000 (= 10% der Bevölkerung) angegeben. Die ethnische und konfessionelle Struktur des Kosovo unterschied sich damit grundlegend von derjenigen in Bosnien- Herzegowina vor dem Krieg von 1992-95 oder von derjenigen in der “Republik Krajina” auf kroatischem Boden Anfang der 90er Jahre. Anders als Bosnien oder die Krajina war Kosovo nahezu ethnisch homogen; homogener als viele “Nationalstaaten” und weitaus homogener als die Republik Serbien in ihrer Gesamtheit. Kosovo war annähernd albanisch homogen, während Serben und Montenegriner nur eine kleine Minderheit stellten. Von allen im früheren Jugoslawien beheimateten Serben (insgesamt 8,1 Millionen) lebten in Kosovo Anfang der 80er Jahre nur 2,6 Prozent. Kosovo war damit alles andere als ein Zentrum des serbischen Siedlungsraums. Es stellte dessen Peripherie dar. Obwohl oder weil in Kosovo 1981 nur noch weniger als drei Prozent aller Serben lebten und ihr Anteil an der dortigen Bevölkerung auf 13% gesunken war, während er 1948 noch fast 24% betragen hatte, rückte die Autonome Provinz zunehmend ins Zentrum eines revitalisierten serbischen Nationalismus.
Was in den 80er und 90er Jahren in und um Kosovo passierte, ist nur vor dem Hintergrund dessen zu verstehen, was als ”historisches Gedächtnis” der Serben apostrophiert wird: eine mit Mythen durchsetzte Erinnerungskultur, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts zum ideologischen Kern der serbischen Identität (zu einer Art politischer Theologie) geformt worden war. Die Vorstellung von Kosovo als ”Wiege” des mittelalterlichen Serbien, als Ort der ”heiligen Erzählung des serbischen Volkes”, als “serbisches Jerusalem” sowie die pathetische Erinnerung an die Schlacht auf dem Amselfeld am St. Veits-Tag (28. Juni) 1389 bilden die beiden Grundkomponenten des Kosovo- Mythos. Zum Arsenal dieses Mythos gehören das Gelübde von Kosovo, der Verrat des Vuk Brankoviæ, das Opfer des Miloš Obiliæ und das Genozid-Trauma.
Nach Auskunft der mündlichen Überlieferung habe der serbische Fürst Lazar, der das antiosmanische Heer befehligte, vor der Schlacht gelobt, daß er den ehrenhaften Tod einem Leben in Schande vorziehe. Lazar habe sich damit für die “ewige Freiheit” und das ”himmlische Reich” entschieden und die militärische Niederlage in einen transzendenten Sieg verwandelt. Bald nach seiner Enthauptung auf dem Amselfeld wurde er von der serbischen Kirche heilig gesprochen, - wie viele andere mittelalterliche serbische Herrscher vor ihm. Mit dem Lazar-Kult und dem St. Veits- Kult sowie den anderen Heiligenkulten für die Herrscher aus der Dynastie Nemanja wurden die Erinnerung an das mittelalterliche Serbien und das Gelübde von Kosovo sowie die Transzendenz- Vorstellungen vom ”himmlischen Reich” und vom ”himmlischen Volk (”nebeski narod”) über Generationen hinweg weitergegeben. Der analog zur Judas-Legende gestaltete Verratsmythos, demzufolge ein Gefolgsmann Lazars seinen Herrn (und mit ihm das gesamte Serbentum) nach einem Abendmahl am Vorabend der Schlacht verraten habe, sowie das Heldentum des legendären Sultan- Mörders, der sein Leben opferte, um die Serben zu rächen, enthalten klare Botschaften: der Tod ist einem Leben in Schande vorzuziehen; Heldentum und Opferbereitschaft ebnen den Weg zum ”himmlischen Reich”; Uneinigkeit und Verrat stürzen das Volk ins Verderben.
Die Schlacht von 1389 wurde schon kurz darauf (wenngleich historisch unzutreffend) als Untergang des serbischen Reiches, als ”größte Katastrophe” und als ”Schicksalswende” in der serbischen Geschichte gedeutet. Mit ihr hätten die ”fünfhundertjährige Sklaverei” durch die Türken, der ”Genozid” (!) und die “Pogrome” an den Serben ihren Anfang genommen. Das multiethnische und multikonfessionelle Osmanische Reich, das rund ein halbes Jahrtausend den Balkanraum beherrschte, gilt nicht nur den Serben, sondern auch den anderen Balkanvölker als “Reich des Bösen schlechtin”. Die 500 Jahre “türkischem Joch” werden als Unzeit verstanden, und alles, was während dieser Unzeit geschehen ist, ist Unrecht und bedarf der Korrektur: uneingeschränkt und mit allen Mitteln.
Der Kosovo-Mythos unterscheidet sich nicht grundlegend von den Mythen anderer europäischer Nationen samt ihren verschlüsselten Botschaften von Freiheit, Christentum, Heldenmut, Opferbereitschaft und ähnlichem. Als bloße Erinnerungskultur bereitet er keine Probleme. Seine Brisanz erhält er aus der Tatsache, daß der konkrete Ort des Erinnerns von den ”Erbfeinden” der serbischen Nation in Besitz genommen wurde und daß die Spannungen zwischen Serben und Albanern als Fortsetzung des (angeblich) jahrhundertelangen Kampfes zwischen ”Christentum und Islam” (als Teil des ”clash of civilizations”) verstanden werden. Die Albaner werden gleich den bosnischen Muslimen für den “Genozid” am serbischen Volk während des “türkischen Jochs” in die Verantwortung genommen: Daraus wird der Anspruch auf Wiedergutmachung erlittenen Unrechts und die “Rechtfertigung” antialbanischer Politik im 20. Jahrhundert abgeleitet: eine ebenso atavistische wie historisch verworrene, wissenschaftlich abstruse Argumentation. Doch die serbische Erinnerungskultur erhielt dadurch eine aktuelle handlungsrelevante und politische Komponente.