skorpion
Der Neurosenkavalier
Die Türken sind immer weniger an einem Betritt der EU interessiert. Das lange Hinhalten und die Verzögerung der Gespräche hat offenbar zu einer breiteren Ablehnung geführt. Während 2002 76,35 Prozent wollten, dass die Türkei Mitglied der EU wird, wollen das zehn Jahre später nur noch 37,7 Prozent. Das hat das türkische Unternehmen Reise-Forschung (Gezici Arastirma Sirketi) in einer aktuellen Umfrage herausgefunden.
Von über 76% auf 37,7% - wunderbar. Meine Landsleute kommen allmählich zur Räson. Wir sind weder Europäer noch abendländlich-christlich geprägt oder einfach westlich. Wir haben mit jedem Indonesier, Araber oder schwarzafrikanischen Moslem mehr Gemeinsamkeiten als mit einem Deutschen, Briten, Franzosen oder Holländer. Nicht nur die kulturellen Unterschiede überwiegen; seit der Krise wissen wir, dass ein EU-Beitritt ein Land regelrecht zerstören kann, wovon die Griechen ein Lied singen können. Ich bin kein Befürwörter des türkischen EU-Beitritts. Meine Devise: Abstand halten zum Kranken Mann aus Brüssel.
Enge Wirtschaftsbeziehungen, eine gute Freundschaft, ein friedvolles Miteinander, wirklich niemand hat dagegen etwas einzuwenden, aber bitte außerhalb der EU. Schon jetzt müssen die Türken mit 5 Mrd. USD das Versagen der Europäer finanzieren. 5 Mrd. USD türkischer Steuerzahler, die zur Bekämpfung der Krise in Europa eingesetzt werden - durch den IWF. Damit kommt u.a. die Türkei de facto für das Versagen der Griechen, Spanier, Iren, kurz der EU auf.
Ich verstehe gar nicht, warum es hier schon wieder Streit gibt: ist doch alles bestens, wenn es so ist. Die EU will die Türkei nicht und die Türkei nicht in die EU- dann ist man sich doch endlich einig. Man kann den Türken nur zu der Erkenntnis gratulieren, daß sie kein europäisches Land im kulturellen Sinne sind. Das ist weder schlimm, noch toll, das ist einfach eine Tatsache. Ein partnerschaftliches Miteinander ist für alle Beteiligten besser.
Dennoch kann ich nicht in allen Punkten zustimmen. So wenig, wie die Türkei ein westlich-abendländisch geprägtes Land ist, genauso wenig ist sie Indonesien oder bspw. dem Sudan ähnlich, nur weil dort auch Muslime leben. Genau wie die Philippinen oder Äquatorialguinea ihrer Religion zum Trotz nicht westeuropäisch sind. Die Türkei steht zwischen Orient und Okzident, je nach Gegend und Thema dem einen oder dem anderen näher, in vielem auch völlig eigenständig. Das war scheinbar lange Zeit ein Problem, vor allem für die Türken, aber so langsam erkennt man anscheinend auch die Chance, die darin steckt.
Nicht die EU hat Griechenland in die Krise gestürzt, sondern umgekehrt. Und die EU hat in der falschen Reihenfolge gehandelt. Man hätte zunächst die Wirtschafts- und Finanzpolitik (und auch viele andere Themenfelder) innerhalb der verschiedenen Mitgliedsstaaten harmonisieren müssen, hätte dann den Euro einführen können (wo die entsprechende Wirtschaftskraft vorhanden ist) und hätte erst zum Schluß neue Mitglieder aufnehmen sollen.