Die Trauer facht die Wut auf Erdogan an
Die Märtyrer sterben nicht, das Vaterland spaltet sich nicht
"Wir wollen hieraus keine politische Kundgebung machen", sagt Cousin Mustafa.
Dennoch wurde am Vortag der Oberbürgermeister Edip Ugur von der Menge ausgebuht. Er gehört zur islamischen Regierungspartei AKP von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Wie der Cousin den Protest findet? "Ich verstehe die Leute, wenn sie Tayyip Erdogan verantwortlich machen." Mehr will er nicht dazu sagen.
Bei den Beerdigungen der vergangenen Wochen war es immer wieder zu Unmutsbekundungen gegen Erdogan gekommen. Die einen beschuldigen ihn, den Friedensprozess mit der PKK beendet zu haben, die anderen machen Erdogan zum Vorwurf, dass er überhaupt Frieden mit der Kurdenpartei geschlossen und ihr damit die Vorbereitung des jetzigen Kampfes erst ermöglicht habe
Die PKK sei eine Terrororganisation, der man nicht trauen könne, findet Orkun. Dennoch glaubt er nicht, dass der Konflikt mit Waffen gelöst werden könne:
"Ich bin für Dialog. Aber dieser Dialog muss transparent geführt werden. Was zwischen der AKP und der PKK lief, war eine Blackbox." Und beide glauben, dass die prokurdisch-linke Demokratiepartei der Völker (HDP) gemeinsame Sache mit der PKK mache. Doch die gewalttätigen Übergriffe auf die HDP-Büros lehnen sie ab.
In Balikesir gibt es kaum kurdische Einwanderer, die HDP bekam hier gerade einmal drei Prozent. Doch so wie in zahlreichen
Städten wurde auch in Balikesir das örtliche HDP-Büro verwüstet. "Gott ist groß", rief die Menge dabei. Und: "Die Märtyrer sterben nicht, das Vaterland spaltet sich nicht."
Erdogan habe aus Machtgründen den Dialog mit der PKK angefangen und ihn aus Machtgründen beendet, meint der 23-jährige Student Orkun.
"Die PKK hat diese zwei Jahre dazu genutzt, um Waffen zu lagern und Minen zu legen", wirft seine Freundin Elif ein, auch sie eine Studentin. "Diese 800 Kilogramm Sprengstoff beim letzten Anschlag sind doch nicht erst gestern dorthin gebracht worden."
"So nennt doch niemand aus Zufall seine Söhne"
Genau diese Parolen rufend, erscheint am Nachmittag ein Demonstrationszug vor dem Haus der Gökcüns. Die Menge hatte vor der Zagnos-Pascha-Moschee gewartet und zog los, als klar war, dass die Beerdigung heute nicht mehr stattfindet. Viele tragen türkische Fahnen, einige die Fahne der ultranationalistischen MHP mit den drei Halbmonden.
So auch Kemal, ein 20-jähriger Student. Beim Sturm auf das HDP-Büro war er dabei.
HDP und PKK sind für ihn dasselbe. "Sie sind Verräter wie Erdogan." Die Polizei habe sie ungestört das HDP-Büro verwüsten lassen, erzählt er und scheint davon nicht überrascht: "Diese Terroristen töten unsere Polizisten. Und dann erwarten die, dass sich unsere Polizei vor sie stellt?"
Cafer Saritepe, der Co-Vorsitzende der HDP in Balikesir, schildert den Sachverhalt mit anderen Worten, aber sonst ganz ähnlich. Er ist alevitischer Kurde und lebt seit 30 Jahren hier. "Viele meiner Nachbarn grüßen mich nicht mehr und behandeln mich, als hätte ich persönlich diese Kinder umgebracht", sagt er. Ob er der Familie kondoliert hat? "Die würden mich nicht mal in die Nähe lassen. Dabei hätte ich gerne mein Mitgefühl ausgedrückt. Der Junge hieß Deniz, sein kleiner Bruder heißt Mahir." Deniz Gezmis und Mahir Cayan waren zwei Wortführer der türkischen 68er-Bewegung, die nach dem Putsch von 1971 getötet wurden. Namen, bei denen ein Linker wie Saritepe emotional wird: "Deniz und Mahir", sagt er. "So nennt doch niemand aus Zufall seine Söhne. Das sind doch unsere Brüder."
Türkei: Trauer um von der PKK getötete Soldaten und Kritik an Erdogan - DIE WELT