Michel Houellebecqs „Unterwerfung“ – Die Müdigkeit des Westens
Als Michel Houellebecq im Januar 2015 seinen Roman
Soumission veröffentlichte, fiel der Erscheinungstag mit einem der dunkelsten Ereignisse der jüngeren europäischen Geschichte zusammen: dem
Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris. Diese zufällige Koinzidenz verlieh dem Werk eine prophetische Wucht, die selbst den Autor erschütterte. Was ursprünglich als literarische Provokation gedacht war, erschien plötzlich wie eine politische Weissagung.
Der Roman spielt im Jahr
2022: Frankreich steht vor einer Präsidentschaftswahl. Die klassischen Parteien haben sich erschöpft, die Gesellschaft ist ideologisch zersplittert und müde. In dieses Vakuum tritt die
„Muslimbrüderschaft Frankreichs“ – eine gemäßigte, intellektuelle islamische Partei, die mit Unterstützung der Linken (!) an die Macht kommt, um den rechtsextremen Front National zu verhindern.
Der Protagonist,
François, ist ein desillusionierter Literaturprofessor, ein typischer Houellebecq-Antiheld: einsam, zynisch, sexuell frustriert, intellektuell leer. Sein Fachgebiet – der Symbolist Huysmans – spiegelt seine eigene Müdigkeit wider: die Dekadenz eines Zeitalters, das an nichts mehr glaubt.
Houellebecq zeichnet kein Schreckensbild einer islamischen Diktatur. Das neue Regime erscheint überraschend rational, ruhig, geordnet – und
effektiv.
Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Kriminalität verschwindet, die Bildungspolitik kehrt zur Moral zurück. Frauen werden aus dem öffentlichen Leben gedrängt, Polygamie ist erlaubt, Alkohol verschwindet – aber niemand protestiert ernsthaft.
Denn:
Die Franzosen sind müde.
Sie haben längst aufgehört, an Freiheit, Gleichheit oder Aufklärung zu glauben. Der Islam füllt nur die Leerstelle, die die westliche Sinnkrise hinterlassen hat.
Houellebecq beschreibt keine Eroberung von außen, sondern eine
freiwillige Kapitulation – eine Unterwerfung, wie der Titel sagt.
Der Roman endet nicht in Gewalt, sondern in Stille. François steht vor der Entscheidung, zum Islam zu konvertieren – nicht aus Überzeugung, sondern aus Bequemlichkeit, vielleicht auch aus Sehnsucht nach Struktur.
Houellebecq deutet an, dass die Unterwerfung weniger politisch als
metaphysisch ist: Der Westen kapituliert nicht vor dem Islam, sondern vor der eigenen Leere.
„Unterwerfung“ ist keine islamfeindliche Hetzschrift, wie manche Kritiker behaupteten.
Sie ist eine
diagnostische Dystopie – ein Spiegel, in dem Europa seine eigene Erschöpfung erkennen soll. Houellebecq benutzt den Islam als
Projektionsfläche für die Frage:
„Was bleibt, wenn wir an nichts mehr glauben?“
Er kritisiert nicht den Glauben, sondern die
Glaubenslosigkeit; nicht den Islam, sondern den Nihilismus des modernen Menschen.
Der Roman wurde weltweit diskutiert – als politischer Tabubruch, als philosophische Parabel, als kulturkritischer Essay in Romanform.
Sein Ton ist ruhig, melancholisch, fast resigniert. Houellebecq schreibt nicht als Kämpfer, sondern als Chronist einer Zivilisation, die sich sanft in den Schlaf der Geschichte begibt.
„Das Glück, das uns versprochen wurde, war nicht für uns bestimmt.“
– Michel Houellebecq, Soumission
„Unterwerfung“ ist keine Warnung vor dem Islam, sondern eine
Warnung vor dem geistigen Selbstmord Europas.
Houellebecq beschreibt eine Gesellschaft, die ihre Freiheit nicht verliert, sondern
aufgibt,
weil sie nichts mehr hat, wofür es sich zu kämpfen lohnt.